IASLonline

Theatrale Demütigung

  • Frevert Ute: Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Berlin: S. Fischer 2017. 336 S. EUR (D) 25,00.
    ISBN: 978-3-1039-7222-1.
[1] 

Drei Fälle für ein Argument

[2] 

Mit Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht macht es sich Ute Frevert zur Aufgabe, unterschiedliche Beschämungspraktiken etwa im familiären Alltag, im politischen Kontext oder im strafrechtlichen Bereich quer durch die Geschichte der Gegenwart zu versammeln. Dass es die »Politik der Demütigung« dabei als Beobachtungsperspektive erlaubt, auf den ersten Blick weit auseinanderliegende Phänomene wie etwa die Frauenrechtsbewegung oder die Prügel- und Prangerstrafe mit Wurzeln über die Frühe Neuzeit hinaus komparativ auf demselben Tableau anzuordnen: darauf lässt der Titel des Buches bereits hoffen. Die Spezifizierung im Untertitel Schauplätze der Macht und Ohnmacht stützen diese Erwartung, macht doch der Begriff des Schauplatzes kaum ein Hehl aus seiner theatralen Komponente.

[3] 

Schon der Einstieg in die – in Anbetracht der phänomenalen und historischen Breite knappe – Studie von 230 Seiten funktioniert in diesem Sinne theatral: Drei recht unterschiedliche Schauplätze der Demütigung werden dem Lesepublikum präsentiert, um die ungebrochene Persistenz von Demütigungspraktiken und ihre relativen Erfolge als Ausgangsfrage des Buches zu lancieren: der suizidale Protestakt des Gemüsehändlers Sidi Bouzid, der mit einer Selbstverbrennung seine Ohnmacht gegenüber der staatlichen Übermacht durch eine »Revolte der Würde« in eine letzte Machthandlung des Aufbegehrens transformiert; Shena Hardin, die die shame sanction, den richterlichen Entzug ihres Führerscheins, wiederaneignet und sich selbst mit dem Schild »Only an idiot would drive on the sidewalk to avoid a schoolbus« in der Öffentlichkeit bloßstellt; schließlich die 13jährige Izabel Laxama, die vor laufender Kamera von ihrem Vater als Strafmaßnahme (wegen eines von der Tochter zirkulierenden Selfies in BH und Sportleggins) das lange Haar abgeschnitten bekommt und sich anschließend umbringt. Den selbst fast theatral anmutenden Spagat zwischen Familientragödie, zivilem Ungehorsam und politischen Protestakt systematisch wieder einzufangen, ist nicht mehr nur die Aufgabe des Einleitungskapitels »Worum es geht«, sondern des gesamten Buches, obgleich die Fülle an Material, die Frevert im Verlauf der Studie präsentiert, dieses Unterfangen nicht unbedingt einfacher macht.

[4] 

Die Politik der Demütigung ist ein cleverer Titel, da er mit dem Changieren von genitivus subjectivus und genitivus objectivus eigentlich schon die Unmöglichkeit anzeigt, von einer Demütigung zu sprechen, die nicht politisch ist, und umgekehrt aufzeigt, dass (inter)nationale Politik selten ohne die Machtstrategie der Demütigung auskommt. Entsprechend bemüht sich das Einleitungskapitel nur wenige Seiten nach der theatralen Montage der drei so unterschiedlichen Demütigungsfälle, dies auch durch die systematische Trennung der Unterkapitel »Demütigung in der Politik« (S. 16) und »Politik der Demütigung« (S. 13) einzuholen. Der Leitsatz für die gesamte Untersuchung fällt in letzterem Kapitel:

[5] 
»Zu einer veritablen Demütigung oder Beschämung gehören ein öffentlicher Schauplatz und ein Publikum, das eine tragende und tätige Rolle übernimmt. Zudem erfolgt eine öffentliche Demütigung nicht aus Unstimmigkeiten über triviale Dinge, die bloß die beiden Streithähne etwas angehen. Es muss mehr auf dem Spiel stehen: die Verletzung einer Norm zum Beispiel, die für ein größeres Kollektiv von Belang und deren Bekräftigung ihm wichtig ist. Indem man sie öffentlich vorführt, wird eine Person symbolisch aus der für sie maßgeblichen Gruppe ausgeschlossen und bestraft.« (S. 14)
[6] 

Hier wird nicht mehr nur das Verfahren, die Wirksamkeit und die Funktion der Demütigung offengelegt, sondern auch das Prinzip der drei anfangs skizzierten Demütigungsfälle nachgeliefert. Denn diese funktionieren nicht anders als theatral. Anders als Michel Foucaults epochemachender Anfang vom Königsattentäter Damiens in Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses (1975) verweigert sich Frevert bei der Darstellung ihrer Fälle – Sidi Bouzid, Shena Hardin, Izabel Laxama – der spektakelhaften Ausschmückung.

[7] 

Und dennoch: Exploitation hat viele Gesichter. Die Fälle werden zugunsten einer kaum gründlich dargelegten generativen These in ihrer individuellen Dynamik und ihrer exemplarischen Singularität beschnitten. Dass sie sich gerade in Bezug auf Personal, Ort, Zeit und Medialität konstellativ und dynamisch sehr voneinander unterscheiden, wäre von besonderem Interesse gewesen, um zu verstehen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede so etwas wie eine Politik der Demütigung auszumachen erlauben.

[8] 

Dass bereits in der Einleitung keine Sicherheit darüber herrscht, ob nun einer »veritablen Demütigung« der öffentliche Schauplatz und ein Publikum (vgl. 14) inhärent sind, oder es grundsätzlich Demütigungen von »öffentliche[n] Demütigung[en]« (ebd.) zu unterscheiden gilt, ist für die Gesamtargumentation nicht ohne Folgen. Denn obwohl die Semantik immer wieder das Theatrale der Demütigung anzeigt, etwa den »Schauplatz«, das »Publikum, das eine tragende und tätige Rolle«, das »Symbolische« der Bestrafung, die »Norm«, das »Kollektiv« – wird es weder theoretisch noch systematisch eingeholt. Dass im Unterkapitel eben jene »Personen, Räume, Zeiten« (S. 20) auf nur einer Seite zusammengefasst werden, zeigt letztlich, dass diese nur die dramatische Einheit herstellen und begrifflich nicht geschärft werden (sollen):

[9] 
»Dieses Buch handelt von beiden Formen sozialer Machtausübung und Ohnmachtserfahrung. Es nimmt verschiedene Personen, Gruppierungen, Schauplätze und Institutionen ins Visier: Juristen, die sich über das Pro und Contra von Prügel-, Schand-, und Ehrenstrafen auslassen; Lehrer und Schulbehörden, die darüber streiten, ob man Kinder eine Eselsmütze aufsetzen oder sie schlagen darf; Soldaten und Parlamentsabgeordnete, die sich über Misshandlungen beim Militär echauffieren; Mütter und Väter, die sich Gedanken machen, ob sie ein aufmüpfiges Kind beschämen sollen oder dürfen; Verfasser von Erziehungsratgebern und Kinderbüchern, die sich dazu äußern; Jugendgruppen und Studentenverbindungen, die Novizen einer demütigenden Aufnahmeprozedur unterziehen; ganz normale Bürgerinnen und Bürger, die Frauen öffentlich das Kopfhaar abschneiden, wenn sie sich gegen die Konventionen weiblicher oder nationaler Ehre vergangen haben; eine Mutter, die in schulischen Sportwettkämpfen Demütigungspotenzial für ihre Kinder sieht; Diplomaten und Politiker, die entweder selber demütigen oder vorgeben, gedemütigt worden zu sein, um Interessen zu legitimieren und durchzusetzen.« (S. 20-21)
[10] 

Mit anderen Worten, es soll fast alles unter dem Label einer Politik der Demütigung untersuchbar werden, und noch viel mehr:

[11] 
»Die meisten hier versammelten Akteure und Begebenheiten stammen aus Europa, das über eine lange Tradition öffentlicher Beschämung und eine nicht ganz so lange Geschichte ihrer Kritik verfügt. Aber Beschämung und Demütigung sind auch anderswo anzutreffen: während der chinesischen Kulturrevolution, als Schüler und Studenten ihre Lehrer und Professoren öffentlich verhöhnten und misshandelten, oder in Mexiko, wo man 2016 sechs Pädagogen die Haare abschnitt, ihnen Namensschilder mit der Aufschrift »Vaterlandsverräter« um den Hals hängte und sie barfuß durch die Straßen trieb, weil sie sich geweigert hatten, einen Lehrerstreik zu unterstützen.« (S. 21)
[12] 

Alle skizzierten Fälle weisen in je unterschiedlicher Gewichtung und Relation die erwähnten Ingredienzien (Publikum, öffentlicher Schauplatz, [verletzte] Norm und Kollektiv) auf, was jedoch der eine historische oder aktuelle Fall gegenüber einem anderen an neuer Perspektive eröffnet, d.h. Neues über Konstellationen, Dynamiken und Strategien der Demütigung offenlegt, bleibt weitestgehend der Selektions- und Ordnungsleistung der Leser*innen überlassen.

[13] 

Die bunte Zusammenschau unterschiedlicher Phänomene, die allesamt unter dem Oberbegriff »Demütigung« versammelt werden, verlangen einerseits nach einem generativen Zugriff, andererseits nach einem feingliedrigen Begriffsapparat, um die Phänomene in ihrer Komplexität adäquat fassen zu können. Der Begriff der Demütigung, so der Verdacht, reicht nicht aus, um das Spektrum der Fälle von einfachen Hasskommentaren zu komplexen Konstellationen von Herabwürdigung und beschämenden Gewaltübergriffen gleichermaßen differenziert beschreiben zu können. Obwohl Frevert im Kapitel »Semantische Unterscheidungen« eine historische Unterscheidung zwischen »Beleidigung, Beschämung und Demütigung« anstrengt (S. 18 f.), kommt sie zu dem Ergebnis, dass die von ihr selbst vorgeschlagene Differenzierung unscharf bleibt. Er scheint, wie das Unterkapitel eigentlich zeigt, als Metabegriff für die versammelten Phänomene nur begrenzt geeignet, weil eine Vielzahl von Phänomenen, die als Anschlusskommunikationen (der Suizid von Sidi Bouzid) oder Erwiderungspraktiken (etwa das Schild von Shena Hardin) gelten müssen, nicht mehr unbedingt als Demütigung zu fassen sind).

[14] 

Alle drei bereits in der Einleitung genannten Fälle streifen notwendig das Feld des Sozialen, sie fordern Rückschlüsse auf die je unterschiedlichen Verfasstheit von individueller oder kollektiver Integrität heraus. Mit den Demütigungsroutinen scheinen Konflikthaftigkeit, Konsensfähigkeit, Polemogenität und Reproduktion sozialer Ordnungen (vgl. Konzeptgruppe »Invektivität« 2017, S. 6) einherzugehen bzw. teilweise zu konvergieren. Personell differenzierte, zeitlich, räumlich und medial weit auseinanderliegende Phänomene ließen sich durch ähnliche Modalitäten und Konstellationen vergleichbar machen, insofern man den von Frevert versammelten Fallbeschreibungen theoretische Begriffe extrapoliert. Mit der folgenden Lektüre soll ein solcher Versuch aus Perspektive einer theater- und medienwissenschaftlich informierten Literaturwissenschaft unternommen werden.

[15] 

Das Wissen von der Theatralität

[16] 

Bereits im Untertitel führt Freverts Monografie den Begriff des Schauplatzes ein. Es ist dabei nicht klar, worauf sich dieses Konzept bezieht: Ist die Demütigung als Praxis immaterieller Schauplatz von Macht- und Ohnmachtsverteilungen? Oder vollzieht sich Demütigung auf einem materiellen Schauplatz als Macht- und Ohnmachtsspiel? Oder braucht es notwendig einen materiellen Schauplatz, auf dem sich Demütigung zur Stabilisierung von Macht- und Ohnmachtsverhältnissen vollzieht? Das Buch findet darauf unterschiedliche Antworten. Die Persistenz und Rückkehr des frühneuzeitlichen Prangers etwa könnte als ein solcher Ort verstanden werden, an dem sich Demütigungsrituale am Körper der Gedemütigten sichtbar für ein Publikum materialisieren.

[17] 

Der Zeitungspranger (S. 126 f.) hingegen, den Frevert als Fortsetzung des frühneuzeitlichen versteht, gehorcht einer anderen medialen Gesetzlichkeit. Michel Foucault hatte den Übergang von Körperstrafen zu Disziplinarstrafen in seiner großen Studie Überwachen und Strafen theoretisch neu ausgerichtet. Körperstrafen vollziehen sich, so Foucault, als abschreckende und gleichermaßen lustvolle Spektakel unter Anwesenheit des Volks. Erst mit einer flächendeckenden Umstellung auf eine Gesellschaft von integren Individuen, wozu die Kultur des Gefängnisses als Disziplinartechnik maßgeblich beiträgt, wird die Strafe den Augen des Volks entzogen und zu einer Angelegenheit zwischen zu disziplinierenden Individuen und Staat. Orte und Räume im Sinne Foucaults ändern sich so vor allem über den Entzug von Sichtbarkeit. Der öffentliche Schauplatz wird so zunächst einmal staatlich entzogen, das heißt natürlich nicht, dass er, wie Frevert feststellt, komplett aus der Gesellschaft verschwindet, vielmehr verschiebt sich die Funktion der Schauplätze.

[18] 

Frevert will jedoch das Augenmerk auf die ideengeschichtliche Umstellung vom Ehrbegriff auf Menschenwürde legen. Dabei will sie zwischen Menschlichkeit und Menschenwürde unterschieden wissen. Foucault, so Frevert, würde verkennen, dass »Pranger- und Prügelstrafen mit der Menschenwürde unvereinbar« seien. ».Menschenwürde, wie sie die Zeitgenossen definierten, war nicht identisch mit Menschlichkeit« (vgl. S. 79). Das scheint eine interessante Spur, doch wird deren Potenzial für die Gesamtargumentation des Buches nicht ausgeschöpft, nicht zuletzt in Bezug auf den Begriff des Schauplatzes. Es ließe sich versuchen, die Ausdehnung des Schauplatzes vom Ort des Prangers auf mediale Bühnen wie Facebook oder Twitter genau mit dieser Unterscheidung zu verfolgen. Außerdem ließe sich so erklären, warum der Gerichtssaal als Schauplatz einer juridischen Macht aufrechterhalten wird und warum etwa shame sanctions wie jene gegen Shena Hardin dennoch eine theatrale Macht der Exponierung entfalten können, die mit einer Gegeninszenierung den Schauplatz vom Gericht in den öffentlichen Raum ausdehnt. Eine genauere Beschreibung wäre hier möglich, indem nicht pauschal von der Liberalität des »Staates und seiner Diener« auf die Vermischung von Recht und Moral geschlossen wird:

[19] 
»In der historischen Rückschau lässt sich deshalb als Tendenz feststellen: je liberaler der Staat und seine Diener, desto größer die Scheu Recht und Moral zu vermischen und Bürger öffentlich zu beschämen und desto nachhaltiger die Demütigungen, sie nicht vor Erniedrigung durch Dritte zu schützen. Denn an der Politik der Demütigung sind nicht nur staatliche Justizorgane beteiligt. Öffentliche Beschämung findet auch in anderen Arenen und auf anderen Schauplätzen statt: in Familie, Schule und Militär, in Peergruppen und in den Medien.« (S. 81)
[20] 

Im Kapitel »Europäer in China: der Kampf gegen den Kotau«, einer der anschaulichsten Fallbeschreibungen im ganzen Buch, wird detailliert die Entschuldigung als Instrument imperialer Demütigungspolitik beschrieben. Der Kotau, ein ehrerbietiger Gruß im Kaiserreich China, bei dem sich der Grüßende in gebührendem Abstand vor dem zu Begrüßenden niederwirft und mehrmals mit der Stirn den Boden berührt, wurde von chinesischer Seite als symbolischer Widerstand (vgl. S. 167) gegen die diplomatischen Beziehungen mit kolonialen Anspruch der Engländer genutzt. Aus den Diskussionen um die mögliche Abschaffung des Kotaus für diplomatische Partner sowohl innerhalb Chinas als auch in England präpariert Frevert die enge Verknüpfung zwischen Demütigungsroutinen und politischer Handelsmacht heraus.

[21] 

Das Zusammenspiel von Körpergesten, kulturellem Habitus, räumlichen Arrangements, in dem Möbel als demütigende Akteure in Erscheinung treten (insofern sie als Hindernisse aufgestellt werden), macht durchaus deutlich, wie gewinnbringend eine Analyse unter theatralen Gesichtspunkten sein könnte, die mehrere disziplinäre Ansätze verbindet. Die reine Beschreibung allerdings vermag die Komplexität solcher quasi-szenischen Konstellationen der Demütigung nicht zu erfassen. Eine am Begriff des Theatralen orientierte Analyse hätte auch das Potenzial, eine Ineinssetzung von körperlichen, verbalen oder nonverbalen, schriftlichen oder mündlichen, gestischen oder visuellen Demütigungspraktiken entgegenzuwirken. Indem eben auf die Verschaltung und Vernetzung der jeweiligen medialen Eigenlogiken fokussiert würde, etwa im Kapitel zu den TV-Formaten (S. 137) könnte das produktiv sein, ebenso im darauffolgenden Kapitel zum Internet (S. 140). Nicht zuletzt ließe sich besonders in einem politischen Fall wie dem Kampf gegen den Kotau aufzeigen, dass auch die Anschlüsse bzw. Auslegung zeremonieller Rituale als Demütigung durch den Handelspartner Großbritannien einen theatralen Aneignungsgestus darstellt, der vermeintliche Regisseure in Spielfiguren zu transformieren vermag.

[22] 

Das Wissen vom Publikum

[23] 

Ute Frevert hebt im Verlauf ihrer Studie immer wieder die Bedeutung des Publikums für die Durchschlagkraft und Anschlussfähigkeit von Demütigungen hervor. Der Wegfall der Körperstrafen aus dem staatlichen Strafsystem führe dabei keineswegs zu einem Nachlassen der öffentlich ausgestellten (körperlichen) Demütigungspraktiken. Gerade die Bandbreite der untersuchten Demütigungen von inner- und außerstaatlichen Praktiken über solche in pädagogischen und militärischen Institutionen bis hin zu Fällen von Cybermobbing macht deutlich, dass das Publikum mehrere Dimensionen haben kann. Cybermobbing etwa stellt die Frage nach Abwesenheit und neuen Formen des Zuschauens, die entsprechend über einen erweiterten Begriff des Schauplatzes eingeholt werden könnten. Schon in einer einfachen Szene der Demütigung, in der alle Parteien gleichzeitig auf einem Schauplatz anwesend sind, differenzieren sich Zuschauer*innenschaften durch aktive Zurufe, Bestärkung oder bloßes Bystanding, das den Akt der Demütigung genauso zu legitimieren vermag wie aktiver Applaus oder affirmative Zurufe. Wenn etwa vermeintlich am Geschehen Nicht-Beteiligte plötzlich Gegenstand der Beschimpfung oder Demütigung werden, zeigt sich ein für Demütigungsrituale charakteristische Sensitivität für Umkehrungen, Positions- und Richtungsänderungen sowie für latente Entgrenzungstendenzen. Besonders an medialen Praktiken wie etwa dem Teilen und Loopen als Kulturtechnik der Reproduktion, Kommentierung, Dekontextualisierung (vgl. Warner 2005) wird das sinnfällig. Soziale Medien im digitalen Zeitalter erhöhen die Komplexität, provozieren Umcodierungen und diskreditieren so die Idee von Intention und Steuerbarkeit. Ein monokausal (und identitätspolitisch einseitig) dimensionierter Begriff des »Zuschauers« muss spätestens unter dem digitalen Vorzeichen obsolet werden (vgl. Pörksen 2017).

[24] 

Freverts Buch konzentriert sich auf das Argument der Kontinuität von Demütigungsritualen und -praktiken seit der Sattelzeit: Das ist insofern produktiv, als es auf der theoretischen Ebene nach einem Begriffsinstrumentarium verlangt, das solch komplexe Szenen von Demütigung ebenso elegant und einfach beschreibbar machen sollte wie weniger komplexe Szenen. Es müsste also nicht unbedingt ein Beschreibungsmodell gewählt werden, dass sich in den feindifferenzierten Begrifflichkeiten des Digitalen verfängt, allerdings wäre eine argumentative Bündelung der Beobachtungen an unterschiedlichen Phänomenen hilfreich, um die verschiedenen Dimensionen und Positionen der Publika zu erfassen. Je nach Abstraktionsgrad lassen sich nämlich Binnentemporalitäten unterscheiden und Feedback-Konstellationen beobachten. Gerade in solchen politischen Szenen, in denen sich Einzelne stellvertretend für eine ganze Nation gekränkt oder in ihrer Ehre verletzt »fühlen«, wäre ein solches Modell hilfreich. Oder wenn es zu Richtungswechseln in der Adressierung kommt, wenn Demütigende zu Gedemütigten werden, oder sich die Demütigung plötzlich auf zuschauende Gruppen erweitert. Eine solche analytische Trennung könnte die Dynamisierung über Anschlusskommunikationen beschreibbar machen und aufzeigen, wie flexibel und fragil letztlich die Adressierungen und Positionierungen sein können; nicht zuletzt lässt sich das am Beispiel von Sidi Bouzid gut beobachten, der durch seinen öffentlich inszenierten Suizid an und mit sich selbst ein Exemplum statuiert und zweifach ein Kollektiv adressiert: das der Staatsmacht (als Anklage) und das seiner Zeug*innen (als Aufruf zur Revolte).

[25] 

Das Wissen von der Dynamisierung

[26] 

Eine solche Beschreibung würde jedoch den Begriff der Macht kontaminieren. In einer Linie mit Foucault wäre Macht dann nicht etwas, das bestimmten Individuen an sich zukommt, das sie demonstrieren oder eben über die Demütigung ihrer »Opfer« ausüben können. Macht würde sich im Gegenteil erst durch Demütigungspraktiken und -rituale einstellen oder zumindest wäre eine Theoretisierung als Restabilisierung von Machtverhältnissen möglich. Soziale Positionierungen wären dann verstehbar als etwas, das über Demütigungspraktiken ausgehandelt wird. Im Ansatz zeigt Ute Frevert solche Dynamisierungsprozesse immer wieder auf, etwa wenn sie von Schamresistenzen (S. 219) spricht.

[27] 

Gerade wenn sie den Wandel von Sozialämtern in unwürdigen Hinterhäusern hin zu transparenten, modernen Serviceeinrichtungen im Zentrum der Gesellschaft beschreibt, wird deutlich (S. 218), worum ihre »These« der Kontinuität von der Sattelzeit bis zur Gegenwart einen Bogen macht. Während Fragen von Gender und Race zumindest touchiert werden, bleibt Class unterbelichtet. Die Fragen, die das Spektrum der Fälle bei aller gewollten Neutralität notwendig stellt, sind die nach der Rolle des ›Kapitals‹. Wieso ist es ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt notwendig, Demütigungsrituale über Klassen hinweg zu flexibilisieren und eben nicht zur Stabilisierung stratifikatorisch strukturierter Verhältnisse einzusetzen? Wieso wird Reputation ab einem bestimmten Zeitpunkt als Kapital erachtet und entsprechend als ökonomischer Verlust rechtlich einklagbar bzw. verteidigbar (vgl. etwa S. 121)? Mit anderen Worten: Was ist die gesellschaftliche Funktion einer Demokratisierung von Demütigungsritualen? Wie avancieren Macht und Kapital zu einer Währung der Politik der Demütigung?

[28] 

Ein derartig perspektivierter Blick offenbart Demütigung als »Schauplatz« durch Kapital dynamisierter Machtverhältnisse, im engeren sozialen Rahmen ebenso wie im globalen Kontext. Eine solche Engführung der empirischen Befunde, etwa aus pädagogischen Institutionen (vgl. S. 102 ff.), könnte Aufschluss über den konjunkturellen Anstieg von Demütigungsritualen und ihrer Kritik in Krisenzeiten oder unmittelbar vor Kriegen geben. In ihrem Referat von Adoleszenzliteratur, die sich mit der Beschämung von Peergruppen beschäftigen, lässt Frevert im Übrigen ›den‹ Titel schlechthin für die symptomatische Internatsszene vor dem Ersten Weltkrieg aus: Robert Musils Die Verwirrungen des Zögling Törleß (1906) behandelt auf diffizile Weise die Machtmechanismen einer autoritativen Gesellschaftsstruktur zwischen psychischer Disposition und diktatorischer Institution im pädagogischen Setting des Kaiserreichs als Vorwegnahme kriegerischer Affektmodulationen.

[29] 

Das Wissen von den Affekten

[30] 

Der Wechsel von autoritativen Gesellschaftsstrukturen mit statischen Demütigungsritualen zu demokratischen Gesellschaftsstrukturen mit flexiblen Demütigungsritualen wird schon relativ früh im Buch mit der Modulierung von Affekten in Verbindung gebracht. Dass dabei der von Frevert favorisierte Begriff des Gefühls keinen Aufschluss über kollektive Mobilisierungsprozesse geben kann, wird besonders in dem Unterkapitel »Scham und Beschämung im deutsch-deutschen Nachkrieg« (S. 74 ff.) deutlich sowie an ihren Ausführungen zur Uneinigkeit der Naziführung in Bezug auf ihren Schaurichter Roland Freisler (vgl. S. 70 f.). Es scheint, als wüsste die Spitze der NSDAP um die schwer steuerbare Macht der Affekte, die in solchen Schauprozessen beim Publikum freigesetzt werden. Entsprechend galt seit der Machtergreifung auch ein Großteil des propagandistischen Aufwands dem streng kalkulierten Einsatz von Affektspektakeln. Dass Demütigungen auf nationaler Ebene erfahren und entsprechend zu Propagandazwecken eingesetzt werden können, zeigt einen Registerwechsel an, der über die Menschenwürde des Individuums weit hinausreicht. Die Politik der Demütigung lässt hier vielmehr auf eine Politik der Affekte schließen (vgl. Massumi 2015), die internationale Konfliktlinien nicht nur zu verschärfen, sondern eben auch für eine bestimmte Politik zu instrumentalisieren weiß.

[31] 

Die Perspektive auf Affekte erlaubt im Gegensatz zu der der Gefühle, die an die Kategorie der Person gebunden ist, jene Phänomene in den Blick zu bekommen, in denen auf transpersonelle bzw. dividuelle Affekthaushalte gezielt wird. Im Bezug auf die das Individuum überschreitenden Größen wie Staat, Nation, ethnische oder kulturelle Gruppen scheint die Perspektive einer Modulierung von Affekten weiter zu führen. Gerade wenn Ute Frevert den Fall des türkischen Präsidenten Abdullah Gül (S. 16) referiert, der eine Beleidigung gegen ihn als Stellvertreter seiner Nation zur Anklage bringt und somit seinen Körper mit dem Gesellschaftskörper gleichsetzt, würde sich die Politik der Demütigung als einzelnes Element einer umfassenderen Politik der Affekte kenntlich machen lassen. Es wäre hilfreich, die Frage, welche Funktion ein Souveränitätsprinzip, wie es der Präsident hier strategisch einsetzt, zu Zeiten einer globalisierten Ökonomie noch haben kann, zumindest tentativ zu beantworten, anstatt ein solches Prinzip nur zu konstatieren. Der Rekurs auf eine vermeintlich gekränkte Ehre erweist sich, etwa bei Verhandlungen um Ressourcen, Zugänge und Absatzmärkte, insofern als hochgradig produktiv, als er erlaubt, Entscheidungsprozesse über Affekte zu regulieren und zu modellieren. Spektrum und Kanäle von Demütigungen werden auf der »Empfängerseite« entsprechend unerschöpflich und nebulös zugleich wahrgenommen – so skizziert es jedenfalls Frevert im Fall des Kotau – und sie werden entsprechend als Verhandlungskapital einsetzbar.

[32] 

Im Fall des Kotau kommt im Übrigen die Zweideutigkeit der Politik der Demütigung wunderbar zur Geltung, man hätte sich dieses Beispiel zu Beginn gewünscht und die Beschränkung auf Fälle, in denen eben beide Seiten, d.h. die Demütigung in der Politik und die Methode der Demütigung im Allgemeinen deutlich werden.

[33] 

Fazit: Die Politik der Demütigung

[34] 

Beispielhaft wurde aufgezeigt, wie sich an den Rändern stark ausfransende und schwer eingrenzbare Phänomene der Demütigung durch konzeptuell scharfe Begriffe analytisch einfangen ließen, nutzte man das der Demütigung eingeschriebene theatrale Element, um sie stärker zu profilieren. Historisch weit auseinanderliegende Phänomene könnten sich durch ähnliche Modalitäten und Konstellationen in ihren Modi und Funktionen für die globalisierte Gesellschaft genauer bestimmen lassen. Einer voreiligen Ineinssetzung von auf der Oberflächenebene ähnlichen Phänomenen wäre insofern entgegengewirkt, als das Theatrale eine Beschreibung und Vergleichbarkeit auf der Strukturebene ermöglichen würde. Eine Differenzierung zwischen symbolischen Verletzungen und körperlichen Übergriffen wäre so gesichert.

[35] 

Man will der Autorin nicht unterstellen, dass sie nicht zwischen Vergewaltigung und Sexismus unterscheiden kann, dem entsprechenden Kapitel (S. 121) allerdings ist eine solche Differenzierung kaum zu entnehmen. Entsprechend folgenschwer wirkt sich der unkommentierte Übergang von der Verhandlung von Massenvergewaltigungen im serbisch-bosnischen Krieg vor dem Den Haager Kriegsgerichtshof zu Alice Schwarzers Sexismus-Klage beim Hamburger Landgericht 1978 auf die Argumentation aus. Hier werden die Gerichtsfälle allein von der Anschlusskommunikation aus selektiert und montiert. Dass es sich auf sachlicher Ebene jedoch um unterschiedliche Dimensionen und Framings von Demütigungen handelt, bleibt unerwähnt. Das ist symptomatisch für ein Buch, das den Fokus eher auf historische Kontinuität denn auf Brüche legt, obwohl anderes behauptet wird (S. 12). Was auf der Phänomenebene Analogieschlüsse erlaubt – etwa kahl rasierte Köpfe, vergewaltigte und beschämte Frauen – nimmt sich auf der Tiefendimension komplexer aus. Die Publika bzw. Öffentlichkeiten, die über die jeweiligen Gerichtsverhandlungen generiert werden, könnten allein schon Aufschluss über die komplett unterschiedlichen dimensionierten Fälle von Demütigung geben. Während das eine Mal dutzende unschuldige weiblicher Körper in ihrer stellvertretenden Funktion für einen symbolisch generierten Nationalkörper gedemütigt und geschändet werden und die Ahndung eines in Kriegen weit verbreiteten Rituals der Demütigung vor einen internationalem Gerichtshof wiederum als Demütigungspraktik einzelner Staaten eingesetzt wird, dient der nackte weibliche Körper im anderen Fall als Symbol eines patriarchalen Herrschaftsdiskurses und dessen Anfechtung. Die Effekte könnten unterschiedlicher nicht sein.

[36] 

Das politische Potenzial der Demütigung wird in der beispielhaften Aneinanderreihung nicht nur nicht profiliert, es bleibt gänzlich ungesagt. Das macht Freverts Studie auf mehreren Ebenen riskant. Büchern, insbesondere mit solch diffizilen Themen, obliegt in gewisser Weise eine Verantwortung der dispositionellen Anordnung. Dass das Gespür für die feinen Unterschiede der Rhetorik der Beschämung und die Praktiken und Strategien der Demütigung fehlt, ist letztlich deshalb so ärgerlich, weil es helfen könnte, die Disparatheit der Phänomene zu bündeln. Dass ein interdisziplinär informierter Blick wesentlich zu analytischer Schärfe beigetragen hätte, ist vielleicht eine Tatsache, die die weniger wissenschaftlich interessierten Lesenden nicht wesentlich stören wird.

[37] 

Ute Freverts Politik der Demütigung bietet zwar eine breite Sammlung an Demütigungsphänomenen, die Frage, die sich mit der Präsentation der unterschiedlichen Fälle jedoch zwingend stellt, was nämlich die Politik der Demütigung ist, bleibt noch unbeantwortet. Es wird wohl Aufgabe künftiger Studien sein, ein Modell zu entwickeln, dass den analytisches Zugriff auf die immense Bandbreite an unterschiedlichen Demütigungen und ihrer komplexen Anschlussprozesse erlaubt.

[38] 

Literatur:

Michel Foucault: Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit, Bd. 1). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977a.

Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977b.

Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1975/76. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999.

Brian Massumi: Politics of Affect. Polity Press 2015.

Konzeptgruppe »Invektivität«: Invektivität – Grundzüge eines neuen sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsparadigmas, in: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 2-24.

Michael Warner: Publics and Counterpublics. University Press Group Ltd 2005.