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Medienkulturen. Vom Kuhstall zum Computer.

  • Heinz Hiebler: Die Widerständigkeit des Medialen. Grenzgänge zwischen Aisthetischem und Diskursivem, Analogem und Digitalem. Hamburg: Avinus 2018. 488 S. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-86938-087-2.
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Bei der Wissenschaft von den Medien handelt es sich, wie kurz vorausgeschickt werden soll, um eine Wissenschaft, die sich ihre Gegenstände immer neu konstruieren kann, indem sie diese kurzerhand zu Medien deklariert, so Lorenz Engell in einem polemischen fachgeschichtlichen Einwurf aus dem Jahr 2011. 1 Wirklich abwegig ist dieser Gedanke nicht, und daher lässt sich festhalten, dass Medienwissenschaft als eine »ritualisierte Selbsterfindung« 2 gelten kann oder sogar gelten muss. Heinz Hieblers Schrift Die Widerständigkeit des Medialen unternimmt nun eine Art Selbsterfindung des Faches Medienkulturwissenschaft in seiner philologischen Ausprägung, ist ihm doch daran gelegen, zwei unterschiedliche und oftmals dissonante Bereiche medienwissenschaftlichen Arbeitens zu beiderseitigem Nutzen zu verknüpfen. Hieblers Ziel ist der Brückenschlag zwischen epistemologischen Fragestellungen der Medienphilosophie und hermeneutischen Praktiken der Analyse und Interpretation. Auf der einen Seite steht die Annahme einer prinzipiellen Unsichtbarkeit der Medien, auf der anderen Seite werden konkrete mediale Artefakte einer diskursiven Betrachtung unterzogen (vgl. S. 9-10).

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Ausgangspunkt der Vermittlung ist eine andere Art der Verbindung, nämlich jene aus Forschung und Lehre. Von den ersten Seiten an macht Hiebler klar, dass seine Ausführungen in Situationen des Lehrens und Lernens gründen, in den »Bemühungen, Studierende in Seminaren und Vorlesungen mit anschaulichen Beispielen an komplexe medientheoretische Problemstellungen heranzuführen« (S. 10). Der umfangreiche Band, so viel sei schon gesagt, hat folgerichtig in weiten Teilen Lehrbuchcharakter, ist aber weit mehr als ein Lehrbuch und daher nicht nur für Studierende dienlich, sondern auch eine gewinnbringende Lektüre für diejenigen, die an einem philologisch versierten Überblick über den medienkulturwissenschaftlichen Diskurs interessiert sind. 3

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Hiebler hat mit dieser Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift (eingereicht an der Universität Hamburg) eine historisch fundierte wissenschaftstheoretische Positionsbestimmung einer medienorientierten Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft vorgelegt, zu der er bereits auf verschiedene Vorarbeiten zurückblicken kann. 4 Medienwissenschaft wird dabei als ein Aufgabenfeld beschrieben, mediale Rahmenbedingungen menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Handelns in ihren Funktionsweisen offenzulegen und kritisch zu reflektieren (vgl. S. 17).

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Aus der Perspektive der Medienphilosophie sind Medien als solche (nämlich als Vermittler) nicht wahrnehmbar, sie verschwinden zu Gunsten einer Unmittelbarkeit – ein häufig verwendetes Beispiel dafür ist das Medium Luft: man kann es nicht sehen und gehört werden keine Luftschwingungen, sondern das Pfeifen eines Wasserkessels (vgl. S. 14). Auch im Kontext moderner Medientechnologien zielt beispielsweise eine illusionistische Filmästhetik darauf ab, die (keineswegs unsichtbaren) Apparate von Kino, Fernsehen oder Computer zu verbergen.

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Heinz Hiebler sucht nicht nach Möglichkeiten, die von ihm so genannten »Paradoxien der Medien: Unsichtbarkeit, Unmittelbarkeit und Selbstrefenz« (S. 238) theoretisch aufzulösen, sondern plädiert – mit Kant – für eine Verknüpfung von aisthetischer Erfahrung und diskursiver Beschreibung, um eine nuancierte Wahrnehmung zu ermöglichen. »Medien werden dementsprechend nicht als unsichtbar oder unhörbar, wohl aber in vielerlei Hinsicht als widerständig begriffen: Ihre Wahrnehmung und Interpretation setzt geschulte Augen und Ohren voraus, die nicht nur in der Lage sind, Sinneseindrücke zu empfangen, sondern sie auch kognitiv und diskursiv zu verarbeiten« (S. 10-11, Herv. i.O.).

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Der Widerständigkeit des Medialen gilt es also mit einer Verschränkung von sinnlichen und begrifflichen Fähigkeiten zu begegnen. Das Mediale könne niemals ganz zur Sprache gebracht werden, so Hiebler, verschwinde aber eben als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis auch nicht zur Gänze in seiner Unsichtbarkeit (vgl. S. 44). Für Hiebler liegt somit »die eigentliche Herausforderung« der Medienwissenschaft darin, »dasjenige Sichtbare oder Hörbare zu entdecken, das Medien nicht selten auf ihrer Oberfläche preisgeben und gleichzeitig dort verbergen« (S. 11). Analyse und Interpretation fungieren aus dieser Perspektive als eine Schule der Wahrnehmung. Die Auseinandersetzung mit medialen Möglichkeiten der Wahrnehmung und ihrer kognitiven Verarbeitung schließt unter dem Diktum der »Ästhetik als epistemologischer Leitdisziplin« (S. 33) Fragen der Wissensvermittlung ebenso ein wie die kulturwissenschaftliche Reflexion des Verhältnisses von Medien und Realität und der medialen Bedingtheit von Kultur.

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Den skizzierten Fragestellungen folgend, ist der knapp 500 Seiten starke Band in ein längeres Vorwort und fünf größere Kapitel gegliedert, die sich medienkulturwissenschaftlichen Schlüsselbegriffen widmen. Auf allgemeine Problemdarstellungen zu »Kultur/Kulturwissenschaften« und »Medien/Medienwissenschaften« folgen Praktiken der »Medienanalyse/Medieninterpretation«, ehe die »Medienkulturgeschichte« mit ihren wichtigsten Umbrüchen nachgezeichnet wird, um auf dieser Basis schließlich zu einer Darstellung der wechselvollen Beziehungen zwischen »Medien und Realität« zu gelangen.

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Zu der aufwändigen Gestaltung des Buches gehören nicht nur 17 teils farbige Abbildungen, sondern auch eine Posterbeilage mit einer Soundgrafik zu dem Hörspiel The War of the Worlds von Howard Koch und Orson Welles (USA 1938). Davon wird noch zu reden sein. Im Folgenden werden die einzelnen Kapitel resümiert, ehe eine kritische Würdigung vorgenommen wird.

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Urszenen und Konzepte: Kultur/Kulturwissenschaften

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Dass sich Kultur nicht in wenigen Worten klar umreißen lässt, ist hinlänglich bekannt, nichtsdestoweniger ist es mit jeder Generation von Studierenden auf’s Neue von Nöten, Ursprung und Geschichte des Kulturbegriffs zu reflektieren und entsprechend der Zeitläufe fortzuschreiben, was gegenwärtig nur bedeuten kann, Kultur (auch) als digitale Medienpraxis zu betrachten. Hiebler fokussiert seinen Gang durch die Medienkulturgeschichte – entsprechend der Leitfrage nach sinnlicher Erkenntnisfähigkeit ist Kultur immer auch Medienkultur – auf Sprache und Schrift und beginnt mit der »medienkulturhistorischen Urszene« (S. 33): der Überführung vom Piktogramm zum Schriftzeichen. Diese Wandlung unterstreicht die Nähe von Landwirtschaft und Kulturbegriff (von lateinisch »cultura«, Bearbeitung, Bebauung, Anbau), auch die medienkulturhistorische Grundbedeutung des Alphabets verweist auf eine enge Verzahnung von agrarischer und kultureller Praxis. Ausgehend von seinen schrifthistorischen Wurzeln bedeutet Alpha-Bet nichts anders als Kuhstall bzw. genauer: Rind-Haus. Verkürzt gesagt, geht der griechische Buchstabe alpha auf das ägyptische Zeichen für Rind zurück, während der Buchstabe b (hebr.: bet) für Haus steht (vgl. S. 49-50).

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Die weitere Darstellung folgt der Chronologie der Kulturgeschichte und bezieht die Fachgeschichte der Kulturwissenschaften dergestalt mit ein, dass einzelne Forscherpersönlichkeiten (Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Ernst Cassirer – um nur einige zu nennen) mit ihren wichtigsten Theoremen vorgestellt werden. Der nationalsozialistische Kulturbegriff wird dabei nicht ausgespart, sondern im Gesamtgefüge des 20. Jahrhunderts kontextualisiert und im Hinblick auf die agitatorische Rhetorik Hitlers analysiert. 5

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Die fachgeschichtlichen Phasen nach 1945 werden von Hiebler zu Recht durch unterschiedliche Konzepte markiert, sei es die Gedächtnisforschung, die Vorstellung von Kultur als Text oder die Kulturanthropologie. Schließlich werden noch Medialität (insbesondere: Visualität), Narrativität und Performativität angeführt, um folgend Kultur als mediale Praxis unter dem Einfluss digitaler Netzmedien und unter den Auspizien künstlicher Intelligenz zu konturieren. Hiebler diskutiert verschiedene Publikationen jüngeren Datums und fordert Gesellschaften indirekt dazu auf, »neue Verständigungsmodelle für ihre rasant veränderlichen und immer unübersichtlicher werdenden kulturellen Praktiken« zu entwickeln (S. 114). Einen konkreten Vorschlag in dieser Hinsicht unterbreitet er allerdings leider nicht.

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Aushandlungsprozesse: Medien/Medienwissenschaften

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Die Rede über Medien ist weitaus älter ist als die akademische Disziplin der Medienwissenschaft. Daher liegt deren »implizite Logik« nicht in der Sache selbst, sondern vielmehr in den »verwendeten Diskursstrategien« der Rede über Medien. 6 Insofern muss, wer über Medien redet oder schreibt, sich um der Klarheit willen erklären, was er oder sie denn mit Medien meint. Der Begriffsgebrauch ist vieldeutig; entscheidend für seine historisch wie disziplinär variierende Konturierung ist seine duale Struktur aus philosophischer und medienwissenschaftlicher Betrachtungsweise.

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Heinz Hiebler rekonstruiert den Diskurs über die Medien als »permanent wechselnde[.] Aushandlungsprozesse zwischen aisthetischen und diskursiven Medienpraktiken« (S. 128, Herv. i.O.), beginnend mit der antiken Wahrnehmungslehre über die Aufklärung bis hin zu den Sprachen der Künste (Kierkegaard, Lessing). En passant wird dabei – wie im vorangegangen Kapitel – die Fachgeschichte rekapituliert.

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Ganz im Sinne der wechselseitigen Beeinflussung von Medienbegriff und Medientheorie stellt Hiebler im weiteren Verlauf unterschiedliche Medientheorien dar. Auch hier ist das Vorgehen weitgehend chronologisch, den Anfang machen Einzelmedientheorien zu Film und Hörfunk, ferner wird die »Zukunft des Buches« vorsichtig optimistisch diskutiert. Dabei geht es immer auch um Fragen der Wissensvermittlung durch Medien und um die »Möglichkeiten und Grenzen der Beschreibung von Medien und Realität« (S. 206 ff.).

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Durch Hieblers Gegenüberstellung medientheoretischer Positionen zwischen Hermeneutik und Semiotik auf der einen und Posthermeneutik und Kunst auf der anderen Seite werden Theorie-Debatten anschaulich nachgezeichnet. Deutlich werden Verbindungen und Zusammenhänge, Brüche und Widersprüche sowie nicht zuletzt ein medientheoretischer Pluralismus, auch wenn, diese Vielstimmigkeit einschränkend, angemerkt werden muss, dass Hiebler sich wiederholt auf den Philosophen Dieter Mersch und dessen negative Medientheorie beruft. Basis der Theorieperspektive von Mersch sind »negative Praktiken wie Eingriffe, Störungen, Hindernisse, konträre Konfigurationen«, die auf »Strategien der Differenz« beruhen. 7 Das medienphilosophische Paradox des Medialen, das Verschwinden im Erscheinen, erschließt sich für Mersch nur anhand und durch diese in erster Linie künstlerischen Praxen. Heinz Hiebler modifiziert diesen Ansatz etwas: »Medien als materielle Grundlage künstlerischer Ausdrucksformen, aber auch als Kommunikationsmittel sind nicht per se unsichtbar, sie werden es erst in den sich etablierenden Routinen des Gebrauchs« (S. 37).

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Modelle und Analysen: Medienanalyse/Medieninterpretation

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Um besagtes Paradox des Medialen dennoch in einer konkreten Produktanalyse betrachten zu können, gilt es – so Hieblers Argumentation – weitere Paradoxien zu betrachten, die ihren Ausgangspunkt in einem technischen Verständnis von Medien als Vermittler von Informationen über räumliche und zeitliche Entfernungen hinweg finden. Neben der »tendenziellen Unsichtbarkeit der Medien« handelt es sich um das »Versprechen der Vermittlung von Unmittelbarkeit« und um Formen der Selbstreferenz, deren grundsätzliche Strategien am Beispiel von Selfies verdeutlicht werden (vgl. S. 236-245). Paradigmatisch finden sich diese Problemkomplexe der Beziehung von (unsichtbaren) Medien und Realität in der Metapher vom Medium als Fenster zur Welt, so dass es nicht verwundert, wenn Hiebler eine diesbezügliche Interpretation von René Magrittes berühmten Bild La condition humaine (1933) vornimmt – und fast wie nebenbei noch eine kleine, lesenswerte Kulturgeschichte des Fensters vorlegt.

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Mit Hilfe weiterer Modellanalysen aus den Bereichen von Film und Fotografie führt Heinz Hiebler didaktisch klug in sein methodisches Programm ein, das Inhalt und medienästhetische Form gleichermaßen als bedeutungstragende Einheiten ansieht, die semiotisch-hermeneutisch erschlossen werden wollen. Hiebler belässt es nicht bei dem Aufzeigen epistemologischer Grundlagen der Analyse und Interpretation, die an Beispielen exemplifiziert werden, sondern bietet konkrete Werkzeuge für die medienwissenschaftliche Arbeit.

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Neben der kritischen Präsentation digitaler Tools für eine multimediale und interaktive Medienanalyse stellt er vor allem ein methodisches Instrumentarium zur Analyse von Hörspielen vor, das sich am literaturwissenschaftlichen close reading orientiert und als close listening konzipiert ist. Am Beispiel des Hörspiel-Klassikers The War of the Worlds (1938) zeigt Hiebler eindrucksvoll auf, dass Soundgrafiken und Soundprotokolle eine geeignete Möglichkeit sind, aisthetische Gestaltungsaspekte offen zu legen und als integralen semantischen Bestandteil zu interpretieren, der für das Verständnis eines Hörspiels ebenso relevant ist wie der gesprochene Text.

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Paradigmen: Medienkulturgeschichte

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Zu den medienwissenschaftlichen Kernbereichen gehört neben Medientheorie und Medienästhetik die Mediengeschichte, sodass eine grundlegende Schrift selbstredend nicht ohne historische Überlegungen und solchen zu Möglichkeiten einer medienorientierten Geschichtsschreibung auskommen kann. Heinz Hiebler konturiert Mediengeschichte als Medienkulturgeschichte (auch hier wieder wie im Kapitel »Kultur/Kulturwissenschaften« mit Fokus auf Sprache und Schrift), um ein möglichst komplexes Bild zu erzeugen, das sowohl medientechnische Entwicklungen als auch anthropologische Aspekte berücksichtigt.

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Das Verhältnis zwischen Medien und Kulturen wird von Hiebler als wechselseitiger Ausdifferenzierungsprozess begriffen (vgl. S. 341) und entsprechend in der Chronologie nachgezeichnet, auch hier wieder flankiert von einer Aufarbeitung der institutionellen Fachgeschichte und den Leistungen einzelner Wissenschaftlerpersönlichkeiten, z.B. Friedrich Kittler, Siegfried J. Schmidt, Knut Hickethier und – natürlich – Marshall McLuhan.

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Ausschlaggebend für Hieblers Ansatz ist die Annahme, dass »Medien als Kulturtechniken der Episteme das Wahrnehmen, Denken und Handeln von Kulturen auf lange Sicht entscheidend prägen« (S. 354). Mit Hilfe eines technikgeschichtlichen Strukturmodells werden fünf Paradigmen modelliert und in einer farbigen Tabelle übersichtlich in Beziehung zueinander gesetzt: von der Oralität über die (Hand)Schrift zum Buchdruck und den Analogen Medien bis zu den Digitalen Medien.

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Die Digitalisierung der Jetztzeit wird dabei nicht als Abschluss betrachtet, Hiebler ist an einem Modell gelegen, das für zukünftige Medienentwicklungen offen ist. Zugleich betont er, dass ›neue‹ Medien die ›alten‹ keineswegs verdrängen oder vollkommen ersetzen, sondern dass sich vielmehr Erscheinungsform und Funktionalität entsprechend der neuen medialen Kontexte verändern.

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Welterkundung: Medien und Realität

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Die historische Probe aufs Exempel macht Heinz Hiebler im abschließenden Kapitel »Medien und Realität« – eine Beziehung, deren Untersuchung für ihn die »grundsätzlichste aller Fragestellungen« der Medienkulturwissenschaft darstellt (S. 377) und die er anhand seiner fünf historischen Paradigmen ausleuchtet. Zuvor jedoch klärt er seine Verwendung der Begriffe analog und digital, die er als zwei Arten der technologischen Informationsverarbeitung von Realität charakterisiert (vgl. S. 384 f.).

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Analoge Prinzipien beruhen auf Ähnlichkeit und stehen in einem »zeit- und wertkontinuierlichen Verhältnis zum verarbeiteten Eingangssignal«, während digitale Varianten auf Zerlegung und Codierung basieren und entsprechend »zeit- und wertdiskret« vorgehen (S. 384). Als Funktionsprinzip, so Hiebler, besitze das Digitale eine Jahrtausend alte Tradition, insofern das phonetische Alphabet nichts anderes sei als ein primär digitaler Code. Entsprechend sei das digitale Zeitalter der Gegenwart von einer sekundären Digitalität geprägt (vgl. S. 385).

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Die Prinzipien der Ähnlichkeit und der Zerlegung bzw. Codierung bilden quasi den Ariadnefaden für die Diskussion historischer Relationen von Realität und Medien, die Hiebler beispielhaft im Bereich der Welterkundung und Vermessen führt. Ähnlich wie bei der Auseinandersetzung mit der Metapher des Fensters legt er dabei eine lesenswerte Kulturgeschichte der Kartographie vor. Deutlich wird, dass analoge und digitale Medien Realität nicht einfach vermittelnd abbilden, sondern unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten anbieten, die jeweils von der medienspezifischen Ästhetik geprägt sind: »Auf diese Weise eröffnen sie Möglichkeitsräume für die Ausverhandlung und Verständigung über das widerständige Reale und profilieren dabei auch unsere unterschiedlichen Perspektiven auf die Realität« (S. 447). Aufgabe der Medienwissenschaft sei es, diesen Prozess zu erforschen und kritisch zu begleiten.

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Fazit

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Aus einer interdisziplinär geweiteten Perspektive ist spätestens an dieser Stelle zu fragen, wie sich das »widerständige Reale« zum Sozialen und zum Politischen verhält. Auch wenn die Diskussion über Medien als Vermittler des Realen zweifellos fundiert geführt wird, bleiben bei Hiebler sowohl die soziale als auch die politische Dimension des Verhältnisses von Medien und Realität im Ungefähren. Dies bedeutet auch, dass die geistesgeschichtlichen Erkundungen von Medien als kulturelle Repräsentationen auf den europäischen (und nord-amerikanischen) Raum begrenzt sind.

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Nun sind Auswahl und thematische Beschränkung zentrale Herausforderungen jeder (Buch-)Publikation, so dass eine Fokussierung auf die deutschsprachige Fachgeschichte und ihre medienphilosophischen Wurzeln durchaus ihre Berechtigung hat. Problematischer scheint da schon der Umstand, dass der Begriff der Medienpraktiken häufiger ins Feld geführt wird, ohne dass der Praxis-Begriff hinreichend deutlich geklärt würde, von einer Erläuterung praxeologischer Strömungen innerhalb der Medienwissenschaft, die um 2010 eingesetzt haben, ganz zu schweigen. 8

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Und noch ein Kritikpunkt will vermerkt werden: die sogenannten Sozialen Medien werden nur knapp beleuchtet, dabei sind gerade sie es, die das Reale in den gegenwärtigen, als postfaktisch deklarierten Zeiten neu ordnen. Auch bieten netzbasierte Medien neue Formen der Wissensvermittlung und der Medienanalyse – Filmessays seien hier beispielhaft genannt –, die in den Ausführungen keinen Platz finden.

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Ungeachtet der Einwände überzeugt Heinz Hieblers Studie mit ihrem Versuch, zwischen epistemologischen Fragestellungen der Medienphilosophie und Praktiken der Medienanalyse Brücken zu bauen. Die Widerständigkeit des Medialen ist eine beeindruckende medienkulturwissenschaftliche Standortbestimmung, eloquent und doch leichthändig mit ironischem Witz geschrieben. Der Band muss nicht chronologisch gelesen werden, jedes Kapitel ist aus sich selbst heraus verständlich (was im Umkehrschluss bedeutet, dass sich bei linearer Lektüre der ein oder andere Wiederholungseffekt einstellt). Heinz Hieblers so umfassende wie differenzierte Modellanalysen zeugen davon, wie lohnend Erkundungen im Grenzgebiet von Aisthesis und Diskurs zu sein vermögen. Die Habilitationsschrift verfolgt mit dem Ansatz einer Widerständigen des Medialen eine kluge Überbrückung zwischen theoretischen Differenzen bei der Profilierung des Medienbegriffs und praktischen Anforderungen im analytischen Umgang mit Medien. In dieser neuartigen Perspektivierung zielt Medienwissenschaft als akademische Disziplin auf die Sichtbarmachung von Medien und auf ihre ästhetischen Strategien.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Lorenz Engell: Medien waren: möglich. Eine Polemik. In: Claus Pias (Hg.): Was waren Medien? Zürich: Diaphanes 2011, S. 103-128.

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Rainer Leschke: Von der Erfindung der Medienwissenschaft als regelmäßiger Übung. Anmerkungen zum Verhältnis der verschiedenen Formen des Wissens über Medien. In: Konzeptionen der Medienwissenschaften I: Kulturwissenschaft, Film- und Fernsehwissenschaft. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 132 (2003), S. 67-89, hier: S. 68.

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Für einen Überblick über die Ausdifferenzierungen der Medienwissenschaften und ihrer Fachgeschichte(n) vgl.: Jens Schröter (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft. Stuttgart: Metzler 2014.   zurück
Vgl. Heinz Hiebler: Hugo von Hofmannsthal und die Medienkultur der Moderne. (Epistemata Literaturwissenschaft 416) Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. – Heinz Hiebler: Medienorientierte Literaturinterpretation: Zur Literaturgeschichte als Medienkulturgeschichte und zur Medialisierung des Erzählens. In: Ansgar Nünning, Jan Rupp (Hg.): Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart: Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen. (Studies in English Literary and Cultural History 50) Trier: WVT 2011, S. 45-84.    zurück
Hiebler bezieht sich hier u.a. auf Albrecht Koschorkes instruktive und luzide poetologische Analyse von Hitlers Mein Kampf. Vgl. Albrecht Koschorke: Adolf Hitlers »Mein Kampf«. Zur Poetik des Nationalsozialismus. Berlin: Matthes & Seitz 2016.   zurück
Rainer Leschke (Anm. 2), S. 69.   zurück
Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung. Hamburg: Junius 2006, S. 226, Herv. im O.. Vgl. die Paraphrasierung dieser Textstelle bei Hiebler 2018, S. 203 f.    zurück
Vgl. dazu exemplarisch: AG Medien der Kooperation (Hg.): Medien der Kooperation. Navigationen 1 (2015).   zurück