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»Religiös musikalische Literatur« zwischen Säkularisierung und »Theopoetik«

  • Michael Braun: Probebohrungen im Himmel. Zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur. Freiburg: Herder 2018. 269 S. Gebunden. EUR (D) 28,00.
    ISBN: 978-3-451-38091-4.
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Michael Brauns Kenntnis der Gegenwartsliteratur ist umfassend, es ließe sich von einem geradezu enzyklopädischen Wissen sprechen, und es ist beeindruckend, wie dieses Wissen eingesetzt wird, um einen religiösen Zug, einen religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur detektieren zu können. 1 Seine – aus Vorträgen und Aufsätzen – zusammengestellte Monographie bespricht eine breite Palette an aktuellen Texten, die sich alle durch ein Gespür für religiöse Fragen auszeichnen. Das ist der rote Faden des Bandes. Michael Braun versammelt dabei seine Arbeiten zum religiösen Trend in der Gegenwartsliteratur aus 18 Jahren Forschungstätigkeit (der früheste Text stammt aus dem Jahr 2000) und bündelt damit verstreut erschienene Texte.

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Es ist immer ein wenig heikel, Vorträge und Aufsätze monographisch aufzubereiten, da das Problem der Kohärenz und Konsistenz nicht einfach zu lösen ist. Es gelingt diesem Band allerdings sehr gut, stringent die Korrelation von Religion und Literatur zu entfalten.

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Das Konzept I: »Religiös musikalische Literatur« zwischen Säkularisierung und »Theopoetik«

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Michael Braun bietet keinen großen theoretischen Apparat auf, um die Korrelation von Religion und Literatur plausibel zu machen. Vielmehr arbeitet er mit einer Reflexionsfigur, die den ganzen Band zusammenhält. Es ist die von Max Weber übernommene Figur der ›religiösen Musikalität‹. In fast allen Texten taucht diese Figur auf. Mal ist die Rede von einem »religiös musikalischen Lyriker« (S. 9, gemeint ist Jan Wagner), mal von »›religiös musikalische[r]‹ Gegenwartsliteratur«, mal davon, dass wir »›religiös musikalischer‹ auch für die Instrumentalisierung der Religion im Zeichen des Terrors« geworden sind (S. 99) oder es wird gefordert, dass die Filmzuschauer „ein wenig religiös musikalisch [sein] sollten [...], um dem Zusammenhang von Medium und Religion auf die Schliche zu kommen« (S. 116). Ein Protagonist aus Martin Walsers Novelle Muttersohn ist ein »ausgesprochen religiös musikalischer Mensch« (S. 168) und Christoph Hein ein »religiös musikalischer Autor« (S. 171), ebenso wie uns Ralf Rothmanns Roman Im Frühling sterben eine »religiös musikalische, eine tragische Erzählung von Schuld und Sühne« (S. 179) präsentiert, auch ist Dieter Wellershoffs »Verständnis von Gott und Welt um vieles mehr ›religiös musikalisch‹, als wir es uns im fiktionslosen Alltag vorzustellen vermögen« (S. 242). Eine analoge, auch oft eingesetzte Figur ist die von Wolfgang Frühwald übernommene Rede vom »Gedächtnis der Frömmigkeit«. (S. 18, 43, 162, 167, 181, 186, 188).

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Auch wenn zu diskutieren wäre, ob nicht genauer zwischen der religiösen Musikalität von Romanfiguren, Texten und Autoren unterschieden werden müsste, so ist die konzeptuelle Leistung dieser eingesetzten Figur äußerst stichhaltig. Mit ihr gelingt es Braun nämlich, religiös gefärbte Nuancen, komplexe Konstellationen, uneindeutige Diskurse und ambivalente strukturelle Verflechtungen zwischen der Skylla des Säkularisierungstheorems und der Charybdis einer naiven und damit »vorschnell vereinnahmenden ›Theopoetik‹« (S. 16) hindurchzumanövrieren. Braun beobachtet zurecht, dass die Moderne zwar (und Bertolt Brecht dient ihm hier als Paradigma) die »Säkularisierung sakraler Ausdrucksformen« forciert betrieben hat (S. 246) und dass

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biblische Figuren zwar noch ihre Auftritte in der Literatur der Moderne haben. Sie haben aber nichts mehr zu sagen. Sie werden Gegenstand von Ironie, Satire, nicht ohne jene tiefere Bedeutung, die einen Rest an spirituellem Respekt erkennen lässt. Die Bibel hat im 20. Jahrhundert einen mächtigen Autoritätssturz erlitten. Sie dient nicht mehr als Glaubensquelle, sondern als Steinbruch für poetische und ästhetische Transfigurationen (S. 245).
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Jedoch ist es offensichtlich, dass das Säkularisierungstheorem sich erschöpft hat und dass sich mit ihm nicht erklären lässt, wieso heutzutage allenthalben die Rede von einer »›Rückkehr der Religionen‹« oder einem postsäkularen 21. Jahrhundert geführt wird. 2 Klugerweise plädiert Michael Braun aber auch nicht für eine postsäkulare ›Theopoetik‹ oder eine christliche oder katholische Literatur. Am Beispiel Patrick Roths kann er zeigen, dass es einer religiös musikalischen Literatur nicht um eine »literarische[] Theologie [geht], die sich auf die freundliche Übernahme biblischer Erlösungsphantasien beschränken würde« (S. 248). Vielmehr beobachtet Braun bei Roth

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komplex verschachtelte Erzähl- und Erinnerungssituationen. Dadurch gelingt Roth in SUNRISE eine neuartige Codierung der Religion. [...] In der Erzählbarkeit der Jospeh-Figur liegt ein Schlüssel zu ihrem Verständnis. Insofern stiftet die Umcodierung der religiösen Ordnung in ein ästhetisches Modell den narrativen Zusammenhang für eine solche aus Bibel und Mythos bestehende Figur. Statt Religion als geglaubter Erzählung tritt hier ein Roman als ästhetische Erfahrung in Kraft (S. 252).

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Diese »Ästhetische Codierung der Religion« (ebd.) ist zwar bei Roth besonders deutlich ausgeprägt, aber Braun kann sie in allen von ihm behandelten Texten ausfindig machen. Das, was er hier an Roth zeigt, ist im Grunde das Programm des ganzen Bandes: komplexen Strukturen der Korrelation von Literatur und Religion nachgehen, die weder Religion säkular ausverkaufen wollen noch einer Umwandlung von Literatur in Theologie das Wort reden. Weder Säkularisierung noch das Verkünden von »Dogmen in ästhetischem Gewand« (S. 248), sondern »ästhetische Erfahrung des Glaubens, die ein ›Drama der Wandlung‹ auslöst« (ebd.). Braun drängt mit aller notwendigen Vehemenz die spezifisch mediale Kraft von Literatur, mithilfe ihrer Formen und Strukturen die Religion ästhetisch codieren zu können, in den Mittelpunkt. Was Braun dabei an Roth in voller Schärfe und analog und abgemildert in den anderen untersuchten Texten herausstellen möchte, ist die Erkenntnis, dass die ästhetische Codierung von Religion überhaupt wieder sichtbar macht, dass es in nachmetaphysischen Zeiten immer noch um Substanzielles und um Wahrheit gehen kann. Es ist die literarisch-ästhetische (und nicht die dogmatische) Codierung von Religion, die den Riss zwischen Gott und Welt, zwischen der »erkennbare[n] und unerkennbaren Welt deutlich macht [...], diesen Riss aber zugleich als ›transzendenten Überstieg‹, als spirituelle Bindung zeigt, als Religion im Wortsinn« (S. 261). In welcher Form kann Gott im nachmetaphysischen Zeitalter »in die dichterische Sprache zurückkehren« (S. 10) und was geschieht mit Literatur und Religion, wenn er zurückkehrt? Das sind wichtige, den Band leitende Fragen.

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Während Patrick Roths Werk in diesem Sinne als radikal religiös musikalische Literatur zu bestimmen ist, so findet Braun für die anderen Autoren und ihre Texte vorsichtigere Formulierungen. Immer geht es ihm darum, sowohl der Säkularisierung als auch einer Theopoetik auszuweichen. So umkreist Braun das Problem sprachlich und spricht klug davon, dass unsere Zeit »empfänglich für Themen und Motive, für Figurationen und Konstellationen aus religiösen Kontexten« ist (S. 11), mit Jan Heiner Tück ist die Rede von »›rituellen Praktiken, die sich häufig als säkularisierungsresistent erwiesen haben‹«und davon, dass diese in der »Gegenwartsliteratur erhöhte Aufmerksamkeit finden« (ebd.). Oder es wird eine »Sehnsucht nach dem laut, was der Welt der Tatsachen und Beweise überlegen ist« (ebd.). Empfänglichkeit, erhöhte Aufmerksamkeit und Sehnsucht – und eben keine Dogmen. Das sind die Modi, die dann in die religiöse Musikalität der Literatur münden. Auf dieser Ebene werden die formalen, strukturellen und sprachlich-rhetorisch-poetischen Möglichkeiten des Mediums Literatur bei der ästhetischen Codierung von Religion in aller Komplexität beobachtbar und analysierbar. Dieses Konzept des Bandes geht voll und ganz auf. Brauns Buch liefert einen wichtigen Beitrag zu aktuellen Bezugnahmen von Literatur und Religion und einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte um einen religious turn in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften.

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Das Konzept II: Typologie und Geschichte

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Gleichwohl ist anzumerken, dass es eine zweite konzeptuelle Ebene gibt, die nicht so glatt und plausibel aufgeht. Es ist überzeugend, wenn Braun darauf abhebt, dass der Untertitel seines Buches genau gelesen werden muss, in diesem ist nämlich vom »religiösen Trend« die Rede. Dies impliziert, dass mit Trend keine »Genres«, keine »Gruppen – und schon gar keine Epochen« bezeichnet werden (S. 9). Braun hebt nicht auf eine historische Phase ab, von der man annehmen könnte, dass sie so starke Bindungseffekte erzeugt habe, dass sich kompakt von einer Epoche religiöser Literatur sprechen ließe; es geht ihm auch nicht vorrangig um Struktureffekte, die sich zu religiösen Formen verdichten, und mithin auch nicht um so etwas wie eine Bewegung, Gruppe oder Schule christlicher Literatur. Vielmehr ist mit ›Trend‹ eine losere Bindungsebene markiert, auf der religiöse Aspekte in der Literatur durchschaubar werden: In diesem Sinne machen Trends auf nicht nur oberflächliche, sondern vielmehr strukturrelevante Entwicklungen aufmerksam.

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In diesem Sinne ist es nur konsequent, wenn Braun bei aller Berücksichtigung von Stoffen und Motiven dann doch die formale und strukturelle Ebene in den Vordergrund stellt. Er analysiert nämlich »Ordnungsmodelle« (S. 82), »Muster« (S. 93) und »Modellerfahrungen« (S. 155). Das heißt, dass er im gewissen Sinne typologisch vorgeht und eben nicht vorrangig literarhistorisch. Das ist methodisch einerseits sauber, da es eben nicht um Epochen geht, andererseits ist aber die Rede von »Gegenwartsliteratur« und hin und wieder auch von »Postmoderne« (S. 15-29), also von literarhistorischen Begriffen. Überlegungen zum Verhältnis von Typologie und Literaturgeschichtsschreibung über den einleitenden programmatischen Text des Bandes »Über Grenzen« hätten vielleicht noch klarer vor Augen führen können, wie sich eine Analyse zu Georg Büchners (1813-1837) »bürgerliche[r] Religion« (S. 31-45) durchaus zu Recht in einem 2018er Band zur Gegenwartsliteratur einordnet. Auch wenn ein Roman von 1959 – gemeint ist Günther Grass’ Die Blechtrommel – immer wieder herangezogen wird, wird damit ein bestimmtes Konzept Gegenwartsliteratur zugrunde gelegt.

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Schließlich sei angemerkt, dass die Einteilung in »Dimensionen« und »Orte« als »Behelfskategorien, mit denen dieser Band das Thema ordnet« (S. 10), nicht überall mit der Figur der ›religiösen Musikalität‹ übereinstimmt. ›Dimensionen‹ und ›Orte‹ sind hier sehr weit gefasst und nicht unbedingt methodisch fundiert. Das hat wiederum den Vorteil, dass auch das Thema der ›religiösen Musikalität der Literatur‹ und der ›ästhetischen Codierung von Religion‹ sehr frei interpretiert werden kann, was sich zum Beispiel in den zu Arno Geigers und Louis Begeleys Romanen (S. 105-114), aber auch in der Analyse von Rafik Schamis Roman Eine Hand voller Sterne (S. 125-137) bemerkbar macht bzw. fruchtbar wird.

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Die Stichhaltigkeit der Figur der ›religiösen Musikalität‹ und der ›ästhetischen Codierung von Religion‹ bleibt davon aber unberührt, die Überzeugungskraft des Beitrags dieses Buches zur aktuellen und brisanten Frage zum Verhältnis von Literatur und Religion ungeschmälert.

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Textanalysen

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Während bisher die konzeptuelle Ebene des Bandes im Mittelpunkt stand, sollen im Folgenden, dem Charakter des Bandes als Zusammenstellung von Aufsätzen und Vorträgen entsprechend, einige einzelne Thesen und Argumentationen vorgestellt werden. Braun liefert hierbei eine Fülle an faszinierenden Einzelbeobachtungen. So wird nochmals betont, dass sich hinter dem revolutionären Büchner eine »empfindsame religiöse Seele« (S. 36) verbirgt und dass seine »Revolution der Religion [...] eine sinnliche und zugleich eine intellektuelle« war (ebd.). Dieser hermeneutische Zug von Büchners Religionsauffassung wird besonders hervorgehoben: »Die Bibel dient aber nicht als religiöser Rettungsanker, nicht als Werkzeug der Erlösung, sondern als Mittel des Verstehens. [...] So ist Büchners Christentum ein ›Karfreitag ohne Ostern‹. An die Stelle der Erlösung rückt das Verstehen« (S. 42 f.). Bestechend sind auch die Ausführungen zu Maria und Medea als »Mutterfiguren in der deutschen Gegenwartsliteratur« (S. 81-97). Hier wird dezidiert und prägnant typologisch argumentiert, indem drei Muttertypen herausdestilliert werden: »Die eiserne Mutter: Julia Francks ›Mittagsfrau‹«(S. 85), die »hilflose (und dumme ) Mutter: Peter Wawerzineks ›Rabenliebe‹«(S. 87) und die »erotische und eiserne Mutter: Thomas Hürlimanns ›Vierzig Rosen‹«(S. 90). Dabei kann Braun feststellen, dass sich die »neuere Mutterliteratur [...] von der Mutterliteratur der Nachkriegszeit durch eine radikale Ästhetisierung« unterscheidet (S. 94). Eine virtuose Miniatur liefert der Text »›Abel steh auf‹. Religion und Gewalt in der Literatur« (S. 99-103). Hier gelingt es Braun auf wenigen Seiten Heinrich von Kleist, René Girard, Botho Strauß, Ulla Berkéwicz, Hans Magnus Enzensberger, Arnold Stadler, Martin Walser, Josef Winkler, Albert Ostermaier, Patrick Roth, Hilde Domin und José Saramago zusammenzubringen.

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Zwar wird nicht ersichtlich, wie sich die Analyse eines Films (Atom Egoyans The Sweet Hereafter) in einem Band zur Gegenwartsliteratur einfügt (S. 115-124), aber Brauns intermedialer Blick über Literatur hinaus und seine Ausführungen zum Verhältnis von Medialität und Religion sind äußerst inspirierend: Lassen sich Religion und Transzendenz in einer »entjenseitigten Gesellschaft« (S. 118) darstellen? Und auf welche Weise? Es sind die Medien als »Mittel der indirekten Katastrophendarstellung im Film«, die einen »Zugang zur Transzendenz ermöglichen« (S. 121), aber im Modus der Unsichtbarkeit: »Auf der Grenze zur Transzendenz, in religiöser Kommunikation also, wird die Katastrophe ›unsichtbar‹ erzählt, aber sie ist lesbar, weil sie medial gemacht ist« (S. 123).

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Sehr fein ist die subtile Interpretation von Hilde Domins Widerstandsfigur des »Dennoch« als einer subkutan religiösen Figur (S. 141-157). Überlegenswert ist auch Brauns Vorschlag – im Rahmen einer »Religiosität von Literatur, die ein gutes Stück von einer Ästhetik der Theologie hat« (S. 170) –, Martin Walsers Novelle Mein Jenseits »als Glaubensroman« zu lesen (ebd.). Die ›religiöse Musikalität der Literatur‹ wird besonders im Werk Ralf Rothmanns sichtbar (S. 179-188), das in »spirituelle Erfahrungsbereiche« führt (S. 185) und dabei die Bibel als Text der Tradition und als Medium der religiösen und der ästhetischen Erfahrung ernst nimmt. Ähnliches gilt für die Texte Ulrike Draesners, denn Religion ist bei ihr »der Versuch, über ›etwas äußerst Reales‹, ›nicht Sicht-, aber Ausdrückbares‹ zu sprechen, von dem man weiß, dass es die Grenzen des Sagbaren überschreitet« (S. 199).

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Äußerst überzeugend ist auch die Lektüre von Martin Mosebachs Romanen, da hier dem oberflächlichen Impuls, Mosebachs Texte als katholische Literatur zu klassifizieren, nicht nachgegeben wird. Stattdessen wird gezeigt, in welcher feingliedrigen Form »metaphysische Bedürftigkeit« (S. 225), Kulturbewahrung und »hochkultivierte[r] Wertkonservati[smus]« (ebd.) zusammengeführt werden. Die Interpretation von Dieter Wellershofs Priesterroman Der Himmel ist kein Ort (S. 231-244) bietet eine genaue Analyse der vielfältigen religiösen Stimmen im Text. Es handelt sich hierbei um eine »mehrdeutige Versuchsanordnung eines religiösen Simulationsraums. Auf diese Weise liest und beschreibt der Autor ›Religion als Literatur‹«(S. 242). Der abschließende Text zu Patrick Roths Roman SUNRISE liefert die beste Interpretation des Bandes auf hohem analytischen und wissenschaftlichen Niveau (S. 245-265). Neben der konzeptuellen Funktion dieser Interpretation für den gesamten Band, die ich oben dargelegt habe, weiß auch die Einzelkritik zu überzeugen, die vor allem auf das Verhältnis von Erzählung und Traum und die komplexe Aufgabe, Transzendenz beobachtbar zu machen, ausgerichtet ist.

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Fazit

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Michael Braun liefert einen wichtigen Beitrag zum religious turn in den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften, sowohl konzeptuell als auch in seinen Einzelanalysen. Dabei sind seine Ausführungen grundlegend von einer christlichen Einsicht geleitet: Auch in nachmetaphysischen Zeiten, in Zeiten, in denen Gott kaum zu vernehmen ist, ist ›religiös musikalische Literatur‹ in ihrer ›ästhetischen Codierung von Religion‹ in der Lage, Gott und Transzendenz beobacht-, les-, darstell- und ausdrückbar zu machen. Das wird insbesondere in den Analysen der Texte von Draesner und Roth sowie in der Filmanalyse zu The Sweet Hereafter deutlich. Hier wird die Grundhoffnung kommuniziert, dass die ›ästhetische Codierung von Religion‹ in krisenhaften, nachmetaphysischen Zeiten doch eine Erfolgsgeschichte ist. Wie wir sahen, betont ja Braun, dass der Riss in einem ›transzendenten Überstieg‹ gebunden und damit überwunden werden kann (s.o.). Zum Abschluss sei ein Hinweis auf den Historiker und Theologen Michel de Certeau erlaubt. Mit dem Jesuiten Certeau, der von einem fundamentalen modernen Bruch (rupture), also auch von einem Riss spricht, und davon, dass Gottes Stimme in der Moderne so gut wie nicht mehr vernehmbar ist, ließe sich argumentieren, dass es zur ›religiösen Musikalität‹ von Literatur und zur ›ästhetischen Codierung von Religion‹ gehört, eben den Bruch und den Riss als undarstellbar, als unausdrückbar, als nicht lesbar zu markieren. Religiöse Erfahrung im Zeichen des Ästhetischen und ästhetische Erfahrung im Zeichen des Religiösen wären eine Erfahrung des Bruchs. Es ist der Bruch, der Religion initiiert und nicht das Kitten des Bruchs. Der Bruch selbst und nicht seine Überbietung wären genuine Momente der ›religiösen Musikalität von Literatur‹. Oder in den Worten des von Michael Braun des Öfteren bemühten Niklas Luhmann: »Unbeobachten des Unbeobachtbaren«. 3

 
 

Anmerkungen

Für eine allgemeine Darstellung unterschiedlicher Tendenzen in der Gegenwartsliteratur siehe Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. UTB / Böhlau: Köln, Weimar, Wien 2010.   zurück
Erwähnt wird auch die Debatte darüber, ob von einer ›Rückkehr‹ oder eher von einer, freilich eher versteckten, »kontinuierlichen Präsenz von Religion und Gottesfrage« auszugehen sei; S. 15   zurück
Luhmann, Niklas: Weltkunst. In: Ders. / F. Bunsen / D. Baecker (Hgg.), Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld: Haux 1990, S. 7-45, S. 244.   zurück