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Im Labyrinth der Erinnerungen

Mit Freud auf der Suche nach Benjamins Berliner Kindheit

  • Nadine Werner: Archäologie des Erinnerns. Sigmund Freud in Walter Benjamins Berliner Kindheit. Göttingen: Wallstein 2015. 390 S.
    ISBN: 978-3-8353-1728-4.
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Entstehungsumstände

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Um Nadine Werners Studie zur Bedeutung Freudscher Theorie für Walter Benjamins Erinnerungsbilder einer Großstadt-Kindheit um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert wird künftig keine Beschäftigung mit der Berliner Kindheit und den in ihrem Umkreis entstandenen Schriften herumkommen.

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Die Berliner Kindheit war die erste Buchpublikation aus dem Nachlass Benjamins nach dem Krieg, mit der Peter Suhrkamp dem Drängen Th.W. Adornos nachgab, den Benjamin testamentarisch als Nachlassverwalter eingesetzt und mit der Publikation seiner Schriften betraut hatte. Adorno fand Unterstützung bei G. Scholem, der in Jerusalem mit Benjamins stillschweigendem Einvernehmen und von diesem nach Möglichkeit mit Erstdrucken und Handschriften versorgt, eine stattliche Sammlung von Benjaminiana vor der Zerstörung bewahren konnte. Die Entscheidung zu Gunsten der Berliner Kindheit hatte Suhrkamp getroffen. Sowohl vom Umfang als auch in Sachen Lesbarkeit und insbesondere mit Blick auf den autobiographischen Hintergrund schien der Text bestens geeignet, auf einen Autor aufmerksam zu machen, dessen Texte nur zugänglich gemacht werden mussten, um gelesen zu werden. Zur Überraschung aller Beteiligter erwies sich die 1950 mit einem Nachwort Adornos veröffentlichte Berliner Kindheit um 1900 als Ladenhüter.

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Das hat sich grundlegend geändert. Die Berliner Kindheit und die Berliner Chronik sowie die ihnen zeitlich und sachlich nahestehenden Überlegungen Benjamins zur Geschichtsphilosophie, Erkenntnistheorie und Ästhetik haben die Forschung kontinuierlich beschäftigt. Die heutige literarische und philosophische Auseinandersetzung um die Bedingungen und Möglichkeiten der »autobiographischen« Erzählung haben das Interesse an der Berliner Kindheit und Berliner Chronik neu geweckt. Übrigens war Benjamin selbst an solcher Thematik interessiert und schlug sogar Hokheimer ein neues Forschungsprojekt vor, das sich anhand eines Vergleiches zwischen den Confessions Rousseaus und dem Journal Gides »une sorte de critique historique de la sincérité« (»eine Art historischer Kritik der Aufrichtigkeit«) vornahm (Brief an Horkheimer, 30 November 1939).

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Bei dem hier anzuzeigenden Text handelt es sich um die für den Druck geringfügig überarbeitete Dissertation Nadine Werners, die sie als Mitarbeiterin an dem von Burkhardt Lindner geleiteten DFG-Forschungsprojekt »Transformationen psychoanalytischer Konzepte: Benjamin-Freud« konzipierte und schrieb. Lindner hat die vorliegende Arbeit nicht nur in Personalunion als Dissertationsbetreuer und Projektleiter begleitet; mehr noch dürfte der Dissertation die Zusammenarbeit Lindners und Werners als Herausgeber der Berliner Kindheit und der Berliner Chronik für die im Erscheinen begriffene neue kritische Gesamtausgabe der Schriften Benjamins, Werke und Nachlass, zugute gekommen sein. Als Philologin hat sie im Berliner Walter Benjamin-Archiv den Text ediert, der mitsamt Varianten, Lesarten und Drucken von Einzelstücken sowie unveröffentlichten Notizen, Entwürfen und schließlich mit der Entscheidung in der heiklen Frage der Reihenfolge gleichsam den Text konstituiert, der sodann in Frankfurt ihrer Interpretation zugrunde lag. Als Burkhardt Lindner im Januar 2015 gänzlich unerwartet starb, war die Dissertation im Druck und die Arbeit an der Edition von WuN Bd. XI zwar weit fortgeschritten, aber nicht abgeschlossen. Ursprünglich für einen früheren Termin vorgesehen, kündigt der Verlag das Erscheinen des Bandes mit gegenüber dem ursprünglich geplanten Termin nur geringer Verspätung für Januar 2019 an. Der interessierte und geneigte Leser, der sich schon jetzt über den Stand der Dinge informieren möchte, findet in Nadine Werners klar strukturiertem und gut lesbarem Buch neben den Überlegungen zur Bedeutung Freuds für Benjamin auch ein Lehrstück in Sachen Editionsphilologie als Dreingabe. Eine umsichtigere, kundigere und mit den Texten besser vertraute Führerin durch das Labyrinth der Erinnerung in Benjamins Berliner Kindheit und die einschlägigen Beiträge Freuds zur Theorie der Erinnerung und des Gedächtnisses als Nadine Werner kann man sich derzeit nur schwer vorstellen.

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Proust oder Freud?

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Die Aufgabe, die Nadine Werner sich in ihrer Dissertation gestellt hat, besteht in der Korrektur einer Annahme, die in der Forschung zumeist als ein fait accompli behandelt wird: die Annahme nämlich, dass Benjamins epistemologische und geschichtsphilosophische Auseinandersetzung mit der Erinnerungsthematik in seinen späteren Schriften ihre wichtigsten Anregungen Marcel Proust verdanke. Die Fixierung auf Proust hätte die Rezeption der Passagen, der Geschichtsthesen und eben auch der Kindheitserinnerungen maßgeblich bestimmt. Eine »systematische Erkundung der erinnerungstheoretischen Bezugsnahmen auf Freud«, so die Verf., stehe noch aus (S. 10). Damit ist ihre Aufgabe vorgezeichnet: In ihrer Studie nimmt sich Nadine Werner nicht nur eines von ihr zu Recht angemahnten Desiderates der Forschung an. Vielmehr geht sie, ebenfalls zu Recht, davon aus, dass Benjamins Kindheitserinnerungen aus der Perspektive Freuds betrachtet, in einem anderen, womöglich befremdlichem, jedenfalls aber nüchternem Licht erscheinen werden. In der Sache gibt es keinen vernünftigen Grund, sich auf den Themenkomplex Kindheit zu beschränken; wohl aber kann es sich für eine Dissertation als durchaus vernünftig erweisen, die Fragestellung einzuschränken und die Zahl der in Betracht zu ziehenden Texte ebenfalls auf wenige, dafür um so ausführlicher zu behandelnde Beispiele zu reduzieren.

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Was Benjamin anbelangt, handelt es sich im Wesentlichen um die sogenannten autobiographischen Schriften, zu denen auch die sich mit der Kindheit beschäftigende Texte, wie z.B. die Berliner Chronik und weitere Manuskripte geringeren Umfangs, zählen. Der Leser wird also Überlegungen zu Freuds Theorie des Traumes, der Libido oder sogar der Kindheit als solcher nur in dem Maße finden, wie sie zu der Hauptproblematik beitragen: zum strengen Vergleich der Gedächtnis- und Erinnerungstheorien beider Autoren. Werner beobachtet, dass sich die Benjamin-Forschung vorrangig mit Benjamins Verhältnis zu Proust beschäftigt und dabei die nach Auffassung der Verfasserin aufschlussreiche Freud-Rezeption vernachlässigt hat. Es ist nicht zu übersehen, dass Werner insbesondere solche Arbeiten mit einem gewissen Unwillen zur Kenntnis nimmt, die ihre Auffassung nicht teilen und an der Überzeugung festhalten, dass Proust für Benjamin mindestens so bedeutend war wie Freud 1 .

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Von dieser Prämisse ausgehend, präsentiert die Autorin ihre Überlegungen in zwei Schritten, die den beiden Hauptteilen des Buches entsprechen. Den ersten Teil, »Gedächtnistheorie«, eröffnet das Kapitel »Ausgangspunkte«, in dem die Verf. die Grundlagen einer Theorie der Erinnerung bei Benjamin und Freud freilegt. Dem folgt ein »Benjamins Quellen« gewidmetes Kapitel, das im Untertitel die »Auseinandersetzung mit Freud und Proust« ankündigt und in engster Anlehnung an Textzeugen ihr Votum zugunsten der Annahme eines von Freud und nicht von Proust ausgehenden bedeutenderen Einflusses begründet. Das den ersten Teil abschließende Kapitel thematisiert, was Nadine Werner die »Spuren« Freuds in Benjamins Berliner Chronik und in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert nennt. Der zweite Teil, »Archäologie«, hat zwei Kapitel: die Archäologie als Metapher und als Methode bei Freud und Benjamin; und, unter dem Titel »Benjamins archäologische Schreibpraxis«, verschiedene textgenetische Analysen einiger Passagen aus der Berliner Kindheit.

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Die paradoxe Struktur des Gedächtnisses

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Die Hauptthese Nadine Werners ist, dass Benjamin sich Freuds paradoxe Auffassung von Gedächtnis und Erinnerung zu eigen macht, indem er sie transformiert. Es handle sich um eine paradoxe Auffassung, weil es einen »Zwiespalt« bei Freud gäbe, nämlich zwischen einer Theorie des Gedächtnisses als Speicher (oder Behältnis, jedenfalls ein Aufbewahrungsort) und einer Theorie der Erinnerung und des Erinnerns als Konstruktion. Ein Zwiespalt also zwischen Aufbewahren, Rettung einerseits und Konstruktion, Aufbau andererseits. Diese Dichotomie wird in der Schriftmetapher ausgedrückt, bei Freud im exemplarischen Bild des Wunderblocks: Dieses Bild sollte nämlich klarmachen, dass im Unbewussten nichts von der Vergangenheit vernichtet wird, während das gegenwärtige Bewusstsein weiter tätig ist und Neues aufschreibt. Die Auffassung von der paradoxen Struktur des Gedächtnisses ist alles andere als originell und schon gar nicht von Freud inauguriert, wie manchmal Werner anzunehmen scheint (S. 104). Vielmehr handelt es sich um das Grundmodell der philosophischen Reflexion über Gedächtnis und Erinnerung – die Schriftmetaphorik einbegriffen. Sie lässt sich bis auf Platon und Aristoteles zurückverfolgen und findet ihren Weg über Augustinus’ Auseinandersetzung mit der memoria und ihrem Gegenpart, der oblivio im X. Buch seiner Confessiones bis zu Bergson und Ricoeur. Es geht immer wieder um die gegenseitige Dynamik zwischen dem Bewahren der Gedächtnisbilder (Griechisch: mnèmai), die ohne das Eingreifen des Bewusstseins des Subjektes ›in‹ dessen Gedächtnis eingeprägt werden, zum einen, und die bewusste Tätigkeit des Erinnerns (Griechisch: anamnèsis), zum anderen, welche nach einer zeitlichen Reihenfolge und präzisen Erinnerungen sucht und diese zu rekonstruieren versucht.

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Was meiner Meinung nach Freud (und Proust) charakterisiert, wäre weniger ein solches Paradox zwischen »passivem« Einprägen und »aktivem« Wiederaufnehmen. Neu und wesentlich scheint mir vielmehr die Aufmerksamkeit, die beide dem chaotischen Gebiet des Nicht-Bewussten, der willkürlichen Eindrücke und Bilder in ihrer Theoriebildung einräumen: das Unbewusste bei Freud, die mémoire involontaire bei Proust (obwohl die beiden nicht identisch, sondern nur einander ähnlich sind). Damit stehen sie im Gegensatz zu der klassischen philosophischen Tradition, welche die »Anamnèsis« bevorzugt. Anstatt die bewusste und intellektuelle Tätigkeit des Subjekts hervorzuheben, betonen Freud und Proust die Bedeutung körperlicher Wahrnehmungen und unkontrollierbarer Assoziationsströme. Damit verändert sich die philosophische und psychologische Auffassung des Subjektes natürlich grundlegend, das sich jetzt nicht mehr hauptsächlich durch sein klares Bewusstsein (Descartes) bestimmen kann.

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Für Freud ebenso wie für Benjamin, so Nadine Werner, ist es gerade die Tatsache, dass die Erinnerungsbilder jenseits des Bewusstseins existieren, welche ihre Dauer und Prägnanz garantiert. Benjamin nimmt Freuds Überlegungen zu den Deckerinnerungen und zum Phänomen der Nachträglichkeit wieder auf, zum Beispiel in dem kurzen Text »Eine Todesnachricht« aus der Berliner Kindheit. Auch die berühmte Figur des »bucklichten Männleins«, die am Ende der Berliner Kindheit steht, könnte als dieses Gemisch aus Abwesenheit und Gegenwart, aus Erinnern und Vergessen, welches das Volkslied kennt, gelesen werden. Auch wenn das Männlein vom bewussten Subjekt vergessen wurde, begleitet es dessen Leben, folgt ihm, ja verfolgt es sogar: Treue und Bedrohung zugleich.

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Von der Berliner Chronik zur Berliner Kindheit

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Die Bedeutung solcher Bilder erklärt auch, so Werner (S. 159), die Umbildung der Berliner Chronik, des ersten Entwurfs dieser Pseudoautobiographie, in den Text der Berliner Kindheit, zu dem in der neuen kritischen Ausgabe »Werke und Nachlaß« bislang noch unveröffentlichte Manuskripte und andere Fassungen ediert werden. In der Berliner Chronik dominiert ein kontinuierlicher Erzählfluss, auch wenn die Kontinuität keiner chronologisch-linearen Ordnung, sondern eher einer Topographie des Erinnerns folgt. »Die Berliner Kindheit radikalisiert das bereits im Zusammenhang mit der Chronik thematisierte Prinzip des Alinearen und Achronologischen mit der Form des Denkbilds«, schreibt Nadine Werner (S. 159).

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Wenn die vergessenen, verschütteten Bilder sowohl für Benjamin wie für Freud in den »grossen Palästen des Gedächnisses« (Augustinus) ohne unser Zutun und Wissen liegen, wenn für beide Autoren manchmal ein Bild zu Bewusstsein kommt wie ein aufgebrachtes Schiff zur Meeresoberfläche (Proust), ohne dass wir zunächst erklären könnten, wie es auftaucht, so gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen Freud und Benjamin, den Nadine Werner schon im ersten Teil ihres Buches mit Nachdruck hervorhebt: Für Freud besteht der Zweck der psychoanalytischen Praxis darin, solche unbewussten Inhalte wiederzugewinnen und somit das Subjekt von seinen Neurosen zu ›heilen‹. Für Benjamin dagegen besteht die »Unwiederbringlichkeit des Vergangenen« (S. 45) fort, das heißt, die Unmöglichkeit, die Vergangenheit als solche ins Licht der Gegenwart zu holen.

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Gerade im Raum dieser Unmöglichkeit wohnt ja das Gefühl der Sehnsucht, das mit demjenigen der der Distanz wächst: »Nie wieder können wir Vergessenes ganz zurückgewinnen. Und das ist vielleicht gut. Der Chock des Wiederhabens wäre so zerstörend, daß wir im Augenblick aufhören müßten, unsere Sehnsucht zu verstehen. So aber verstehen wir sie, und um so besser, je versunkener das Vergessene in uns liegt« schreibt Benjamin in einem Denkbild der Berliner Kindheit: »Der Lesekasten« 2 . Darin geht es um ein Spielzeug mit Buchstaben aus Holz, die das Kind handhabt, um lesen und schreiben zu lernen. Und als Erwachsener fügt Benjamin hinzu: »Die Hand kann diesen Griff noch träumen, aber nie mehr erwachen, um ihn wirklich zu vollziehen. So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr«. 3

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Dieser Raum der Sehnsucht schafft einen Abstand, der einen kritischen Blick über Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht, das heißt, eine kritische Überlieferung der Geschichte begründet – sei es die Geschichte des eigenen Lebens oder die Geschichte des sogenannten kollektiven Geschehens. Es sei hier nebenbei bemerkt, dass die Kritik der Ideologie marxscher Provenienz und die kritischen Reflexionen Nietzsches (Zweite unzeitgemässe Betrachtung) über traditionelle Geschichtsschreibung sich bei Benjamin treffen und gegenseitig bestärken, wie es später in den berühmten Thesen »Über den Begriff der Geschichte« steht. Diese kritische Dimension wird im zweiten Teil des Buches von Nadine Werner unter dem Titel »Archäologie« klarer.

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Metaphorik der Archäologie

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Die Verfasserin untersucht jetzt die »Metaphorik der Archäologie« bei Freud und Benjamin als Hinweis darauf, »dass Freud und Benjamin sich mit ihren erinnerungstheoretischen Überlegungen an einem geistesgeschichtlichen Wendepunkt befinden« (S. 227). Sie erinnert an die Faszination, die die neue Disziplin der Archäologie auf Freud ausübte und an seine Bewunderung für Schliemann, der Homer mit dem Spaten in der Hand las und bei seinen Ausgrabungen vielleicht nicht immer fand, was er suchte, aber immer etwas, das seiner Sammlung zugute kam. Freud hat zwar weder an Ausgrabungen teilgenommen noch Ausgrabungsstätten besucht, aber ein Blick in sein Arbeitszimmer, wie es die zahlreiche Photographien bezeugen, zeigt den stolzen Sammler.

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Freud erwähnt seine Begeisterung für das Altertum, insbesondere für die Stadt Rom, auch in seinen Reiseberichten und macht aus der Praxis des Archäologen eine wichtige Metapher für diejenige des Analytikers. In seinen Studien über die Hysterie (1896) wie auch in dem kleinen Text Konstruktionen in der Analyse (1937), also in Texten aus verschiedenen Epochen, beschreibt Freud die psychoanalytische Methode als eine Ausgrabung, die mit derjenigen der Archäologie darin übereinstimmt, dass auch der Analytiker in den verschiedenen psychischen Schichten des Vergangenen gräbt:

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Seine [des Analytikers] Arbeit der Konstruktion, oder, wenn man es so lieber hört, der Rekonstruktion, zeigt eine weitgehende Übereinstimmung mit der des Archäologen, der eine zerstörte und verschüttete Wohnstätte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgräbt. 4
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In seinem aufschlussreichen Artikel über den Begriff des »Erinnerns« bei Benjamin hat Detlev Schöttker bereits auf die gedankliche und sprachliche, bis in die Wortwahl zu verfolgende Nähe aufmerksam gemacht, die zwischen diesen Texten Freuds und entsprechenden Texten Benjamins besteht. 5 Zu Recht hat die Forschung auf die Gemeinsamkeiten aufmerksam gemacht. Nicht weniger aufschlussreich sind aber die Differenzen, die beim Gebrauch der Metapher zutage treten. Abgesehen davon, dass die Antike keine große Faszination auf Benjamin ausübte, der ohne große Begeisterung von seiner Romreise zurückkam (auf welcher er im nachhinein Städten wie Neapel oder San Giminiano den Vorzug gab), gehen die beiden Autoren auf höchst unterschiedliche Weise mit diesen verlorenen und jetzt neu ausgegrabenen Bruchstücken um. Wie Nadine Werner beobachtet, funktionieren für Freud solche Reste als Teil »des pathogenen Materials« (S. 235) und können dabei helfen, ein ganzes psychisches Gebilde, das die Quelle der Krankheit oder nur der Symptome sei, zu rekonstruieren. »Damit geht es dem Analytiker Freud im übertragenen Sinn um die Zerstörung dessen, was der Sammler Freud bewahrt«, schreibt Werner (S. 236).

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Da für Benjamin die Reste des Vergangenen immer Bruchstücke bleiben, ermöglichen sie im Grunde keine Rekonstruktion der realen Vergangenheit als solcher, wie das schon erwähnte Motiv der Unwiederbringlichkeit der Vergangenheit aussagt. Sie spielen vielmehr auf etwas an, das zerstört wurde und vielleicht das Signal einer anderen möglichen Zukunft war, die sich nicht verwirklicht hat. Es gibt das Bild Benjamins von einer Statue, von der nur ein Teil übrigbleibt:

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Denn was einer lebte, ist bestenfalls der schönen Figur vergleichbar, der auf Transporten alle Glieder abgeschlagen wurden, und die nun nichts als den kostbaren Block abgibt, aus dem er das Bild seiner Zukunft zu hauen hat. 6
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Wenn die Reste der Vergangenheit auf eine Zukunft weisen, die möglich gewesen wäre, aber nicht wirklich wurde, dann soll, wie Peter Szondi schon bemerkte, die Gegenwart sie aufsammeln und sie in ein Verhältnis zu anderen verstreuten Elementen des Jetzt bringen, so dass eine neue Konfiguration zwischen Gegenwart und Vergangenheit entstehen kann. Die Bedeutung des Gegenwartsmomentes – die Jetztzeit in Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte – gewinnt also an Gewicht. Die Tragweite des konstruktiven Moments kennzeichnet also Benjamins Aneignung der Metaphorik der Archäologie: »Anders als Freud«, so die Verf., »arbeitet er [Benjamin] gezielt mit dem konstruktiven Moment der Archäologiemetapher« (S. 279). Darauf läuft auch der Vergleich seiner Arbeit mit der eines Archäologen hinaus, den Benjamin in einem Denkbild mit dem Titel »Ausgraben und Erinnern« vornimmt, das er zunächst für die Berliner Chronik konzipiert hatte. 7

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Fazit: Spielräume der Metaphorologie

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Trotz solcher Unterschiede behauptet Nadine Werner, dass das archäologische Paradigma über Freud bei Benjamin ankommt (S. 243). Und mehr noch: diese Aneignung des Freudschen Modells würde die Entfernung von Proust zugunsten der Annäherung an Freud in der Gedächtnistheorie Benjamins aufweisen. Es sei mir erlaubt, mit solcher Behauptung nicht einverstanden zu sein. Ich würde eher mit dem Historiker Carlo Ginzburg sagen, dass am Ende des XIXten Jahrhunderts ein neues ›Paradigma‹ entsteht, welches versucht, die Reste, den Abhub, die vergessenen Einzelheiten als Anzeichen oder Indizes einer noch nicht manifestierten oder einfach noch nicht beobachteten Wahrheit zu analysieren und zu deuten 8 . Ginzburg zeigt humorvoll, wie wichtig dieses Paradigma in der Kunstgeschichte, in der anfänglichen Psychoanalyse und auch in Detektivgeschichten und Krimis war, inwiefern also dieses neue Modell den heuristischen Prozess der Geisteswissenschaften verändert. Die Gegenwart der archäologischen Metaphorik bei Freud könnte wohl als eine Erweiterung dieses neuen Paradigmas betrachtet werden. Es geht immer darum, »aus geringgeschätzten oder nicht beachteten Zügen, aus dem Abhub – dem ›refuse‹ – der Beobachtung, Geheimes und Verborgenes zu erraten« 9 , wie Freud sagt, als er sein Verfahren mit demjenigen des Kunsthistorikers Morelli vergleicht.

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Was die Reflexion über Gedächtnis und Erinnerung betrifft, so können wir betonen, wie die neue Bewertung der psychischen Bilder, auch der ›sinnlosesten‹ und ›geringgeschätzten‹, an Gewicht gewinnt – und zwar im Gegensatz zu der bisher als höheren geschätzten Tätigkeit des bewussten Erinnerns. Im Gefolge von Nietzsche und Bergson können Freud, Proust und Benjamin als drei Gesellen und Teilnehmer an der gleichen Suche nach solchen verschütteten Bildern gesehen werden. Eine therapeutische Suche bei Freud, eine ästhetische bei Proust und bei Benjamin sicher eine politische. Aber es ist eine gemeinsame Suche nach einer neuen Auffassung des Erinnerns und des Gedächtnisses, das heißt, nach einer lebenden Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit.

 
 

Anmerkungen

Wie es die Verfasserin dieser Rezension behaupten würde.   zurück
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, GS IV.1, S. 267.   zurück
Sigmund Freud: Konstruktionen in der Analyse. in: S. F.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Frankfurt/M.: S. Fischer 2000, Ergänzungsband, S. 396-397.   zurück
Detlev Schöttker: »Erinnern«, in Benjamins Begriffe, Hg. von Michael Opitz und Erdmut Wizisla, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2000, S. 260-298.   zurück
Benjamin: »Torso«, in: Einbahnstrasse, GS IV.1, S. 118.   zurück

Benjamin: »Ausgraben und Erinnern«, GS IV.1., S. 400-401.

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Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin: Wagenbach 1978.   zurück
Freud: Der Moses des Michelangelo, Studienausgabe, X, S. 2017. Adorno hat darauf hingewiesen, dass genau solcher Abhub auch bei Kafka von großer Bedeutung ist.   zurück