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Der umgebaute Raum der Moderne

  • Roland Innerhofer: Architektur aus Sprache. Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst 1890-1930. (Philologische Studien und Quellen 270) Berlin: Erich Schmidt 2018. 335 S. farbige Abb. Hardcover. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3-503-18175-9.
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Welche Art von Intermedialität erscheint unter der Vorgabe »Architektur aus Sprache«? Der komplexe Zugriff der Studie, die diesen Titel trägt, lässt sich keineswegs durch eine simple Formel wiedergeben. Trotzdem liegt eine Orientierung darin, dass literarische Simulationen des baulichen Mediums keine andere Substanz haben als eine grundlegend sprachliche, mit allen Formbildungen und Anordnungen, die daraus abzuleiten sind. Was simuliert wird, ist gleichwohl weniger das plastische Bauwerk als der architekturale, d.h. baulich konstituierte und nach solchen Bedingungen erfahrbare Raum, der außerdem im erheblichen Maße über nicht-räumliche Verhältnisse verfügt, d.h. Beziehungen ebenso wie Begrenzungen disponiert. Jenes erweiterte Verständnis intermedialer Angleichung bzw. darstellender Vorstellung unterscheidet sich merklich vom Paradigma des Symbolischen. Die Zeichenhaftigkeit von Bauten, welche auf besonderen Eigenschaften beruht, hat sich in der jüngeren Forschung zurückgezogen, sofern sie weder der Wissenswende zur Räumlichkeit seit dem späten neunzehnten Jahrhundert noch den im Text entworfenen, reflektierten, imaginierten Architekturen der klassischen Moderne wechselseitig gerecht wird.

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Teilarchitekturen als Wahrnehmungsdispositive

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Der gesamte Zuschnitt der Untersuchung von Innerhofer, nicht nur die Periode 1890-1930, hat sich demnach schon länger angeboten. Folglich bezieht die Zusammenstellung aus Diskurs- und Literaturgeschichte, aus Kontextualisierung und Medienanalyse eine klare sowie im Ansatz bereits legitimierte, erstmals voll ausgeschöpfte Position. Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, wo gleichsam der Grundriss eines Hauses für Architektur innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften erkennbar vorgezeichnet ist. Daneben haben sich die speziellen Fragestellungen so weit entwickelt, dass sie nicht mehr nur bauliche Großstadtszenarien oder Avantgarde(alp)träume zum Gegenstand machen, sondern ins Detail gehen, indem einzelne Bestandteile des gebauten Raumes – zuletzt die Reihe Fenster Korridor Treppe 1 – zur Deutung freigegeben werden. Solche Elemente, Teilarchitekturen gelten mittlerweile, nach Anstößen von Gerhard Neumann und Detlev Schöttker, als »Wahrnehmungsdispositive«. Dieser Sichtweise schließt sich das präzise Interesse Innerhofers an, wenn man bedenkt, dass im relationalen Konzept des »Dispositivs« außer der »Wahrnehmung« ebenso das Gewicht eines stets historisch zu konkretisierenden »Wissens« inbegriffen ist.

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Stärker als »Korrespondenzen«, die jegliche Bezüge zwischen Bau und Text meinen können, entdeckt die Studie vielmehr medial-diskursive Konvergenzen. Dieser epochentypische Akzent wird thesenartig ausgefaltet: Beteiligt ist einerseits theoretische Rede über Architektur, die sich 1) in Formaten wie Manifest oder Essay artikuliert und 2) die dem literarischen Medium nahestehende Zeitlichkeit der Raumerfahrung fokussiert; andererseits bevorzugen bauaffine Autoren 3) »temporäre, bewegliche Architekturen« (S. 29), was über eine typologische Präferenz hinausgeht und 4) zur zeitlichen, wahrnehmungstechnischen »Mobilisierung der Architektur« (S. 30) in (inter)medialer Hinsicht führt; Theorie und Fiktion um 1900 lassen sich 5) mehr denn je auf die subjektiv aufgespannte, emotional gestimmte Räumlichkeit ein, hier im Überschneidungs- bzw. Differenzbereich von Atmosphäre und Bedeutung. Definitionen und Quellen dazu (Wölfflin, Schmarsow u.a.) handelt das zweite Kapitel ab, vor allem diverse Umbrüche der raumästhetischen Moderne, während dieselben Voraussetzungen im dritten Kapitel an Schriften oder Erzählwerken von Scheerbart, Taut und Kubin, besonders vielfältig schließlich bei Kafka nachgewiesen werden.

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Eigensinn der ›Baustelle‹

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Die Interpretationen Innerhofers verlieren trotz ihrer Rückbindung an das konvergierende Raum-Wissen den Eigensinn der sogenannten literarischen »Baustellen« nicht aus dem Blick. In den umrissenen Zusammenhang gehört eine einleitende Bemerkung zur unaufhebbaren medialen Diskrepanz, welche gleichzeitig mit den kontextuellen Annäherungen hervortritt. Sie erläutert das textuell verschärfte »Bewusstsein der Fremdheit des architektonischen Mediums, der Bauten in ihrer Materialität: Die physische Raumerfahrung […] kann im symbolischen System der Sprache nur heraufbeschworen, die fremde Materialität der Bauten nur sprachlich umkreist werden.« (S. 16) Destabilisierte Symbole und Metaphern sind daher nicht nur auf moderne Krisensemantik oder Erkenntniskritik zurückzuführen, sondern genauso auf die herausfordernde »Andersartigkeit der Architektur« (ebd.). Als Reflex auf die differenziellen Relationen drängen sich die zerfallenden, besser: unheimlich verrottenden Häuser auf, das vormoderne Bauensemble in Alfred Kubins Die andere Seite. Im dritten Kapitel spürt Innerhofer aber auch den utopischen Energien nach, die das Material der »Glasarchitektur« in literarischer Bearbeitung durch Scheerbart erzeugt hat.

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Kafkas »Unverfügbare Architekturen« präsentieren das bisher am dichtesten erforschte, von Innerhofer nochmals exemplarisch vermessene Terrain. Dass die Räume der Romane, die Bauprojekte der (Kurz-)Prosa atmosphärisch bis zur Beleuchtung durchgestaltet sind und fundamentale Schwierigkeiten der Verortung erzählen, bestätigt sich im längeren Verlauf dieser Lektüren eindringlich. Erlebte Räumlichkeit als Konstruktionseffekt markiert die Richtung, in der das Architektonische sich auswirkt. Ergänzend sei das Teilkapitel über die »Baupläne des Möglichen« (S. 272) in Musils Der Mann ohne Eigenschaften genauer betrachtet. Nicht allein der historistische Stil des vom Mann ohne Eigenschaften bewohnten Palaisʼ entstammt der Vergangenheit, mehr noch die Repräsentationsfunktion der Behausung des Bürgertums. Wegweisend agieren im MoE dagegen intermedial induzierte Verfahren der Raumdarstellung, dazu erfolgt der Verweis auf die Arbeit von Brüggemann. 2 An der Gegenüberstellung von Schlösschen oder Gründerzeitwohnung und damals neu entstehenden Auffassungen bzw. Wahrnehmungsweisen des Räumlichen zeigt sich der Wandel, den Innerhofer als seine Leitthese verfolgt; man könnte von ›Architekturen des Möglichen‹ sprechen.

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Fazit

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Bezeichnet wäre damit in erster Linie weder eine visionär-zeitgemäße Baukunst, obwohl dies bei Musil und anderen zum Tragen kommt, noch die scheinbar ortlose, da sich laufend verschiebende Referenz auf die gebaute Umgebung (vgl. S. 281). Was die Spanne 1890-1930 raumtheoretisch wie textbezogen ausmacht, ist die vermittelte Erkenntnis, dass architekturale Räume mehr ermöglichen, als ihrer Außenseite oder dem möblierten Inneren davor zugestanden wurde: das umfassende Sich-Befinden des Subjekts, der Lebenswandel innerhalb urbaner Strukturkomplexe und Wegführungen. Innerhofer demonstriert diese Perspektive der Ermöglichung facettenreich wie methodisch beweglich zwischen Werk und Wissenstendenz. Daraus erwächst ein Gegenbild zur zeitgleichen »Remythisierung« des Gebauten bzw. der Baukunst, hier mit Jahnns Perrudja oder von Harbous Metropolis (Kapitel 4).

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Die Ausführungen zur »Macht der Architektur« in Döblins Berlin Alexanderplatz bringen eine Problematik zum Vorschein: Sobald man das architektonisch gewendete Raumparadigma ernst nimmt, was folgerichtig geleistet ist, scheinen sich das Bauobjekt und bis zum gewissen Grad jene intermediale Praktiken, die es produzieren, zu verflüchtigen. Dies führt jedoch keinen Einwand gegen die vorgelegten Deutungen und Diskurslinien. Vielmehr kann darin eine nahezu unvermeidliche Konsequenz der Rekonzeptualisierung gesehen werden, welche ja gerade die moderne Signatur des intermedialen Gefüges beschreibt: ungreifbare, dennoch baulich gemachte, von Medien abhängige Allgegenwärtigkeit. Wie dies an Schlüsseltexten der klassischen Moderne, ebenso anhand zeitgenössischer Dokumente des Raum(bau)denkens rekonstruierbar wird, hat Architektur aus Sprache bestechend vorgeführt.

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Im Nachwort formuliert Innerhofer eine kritische Intervention wider den Machtanspruch des gebauten Raumes, wie ihn die Avantgardisten propagiert haben – indirekt womöglich ein Aufstand gegen das Wahrnehmungsdispositiv: »Architektur erstrahlt in literarischen Texten kaum in glänzender Herrlichkeit, sondern tritt den Figuren oft als Baustelle oder Ruine entgegen.« (S. 299) Geschriebene Raumgebilde entziehen sich so einer von der »Baumoderne angestrebten Steuerung und Disziplinierung individueller wie kollektiver Denk- und Lebensformen« (ebd.). Demzufolge gäbe es eine untergründige, potenzielle Verwandtschaft zwischen dem Neuen Bauen und den neuesten Spatial Turns. Jeder wissenschaftliche Zugang kann allerdings durch Theoriebildung, Historisierung, mithilfe interpretierter z.B. medialer Differenzen dazu beitragen, jene vermeintliche Gleichheit zu entmythisieren.

 
 

Anmerkungen

Lena Abraham/Kira Jürjens/Edith Anna Kunz/Elias Zimmermann (Hgg.): Fenster – Korridor – Treppe. Architektonische Wahrnehmungsdispositive in der Literatur und in den Künsten. Bielefeld: Aisthesis 2019.   zurück
Heinz Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Hannover: Offizin 2002.    zurück