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Aktuelle Entwicklungen und Verortung der Studie
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Wenn ich morgens mein Smartphone in die Hand nehme, kann ich bereits erste Neuigkeiten abrufen. Auf Twitter sehe ich, dass die USC Shoah Foundation einen Tweet gepostet hat: Darin äußerst sich Hayley – eine Enkeltochter des Holocaust Überlebenden Max Glauben – zur Bedeutung des Zeugnisses ihres Großvaters, das von der kalifornischen Stiftung aufgenommen worden ist. Das knapp einminütige Video ist in die Twitterumgebung integriert, mit Hashtags versehen, zeigt die Enkeltochter und endet mit einem Standbild von Max Glauben in Majdanek. Zudem habe ich noch einmal Instagram aufgerufen, wo seit Beginn letzter Woche »Eva Stories« zu finden ist. Es handelt sich um eine an die Holocaust-Überlebende Eva Heymann angelehnte Geschichte, deren grundlegende Frage lautet: »What If a Girl in the Holocaust Had Instagram?« Ein israelischer Mäzen hat das Projekt initiiert und finanziert; innerhalb einer Woche werden 1,6 Millionen Follower angezeigt. Schauspieler(innen) stellen Evas Geschichte nach und fasziniert folge ich den Einheiten, die mich auf digitalen Kanälen in fremde Zeiten geleiten.
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Diese beiden Beispiele belegen exemplarisch, wie vielfältig in den Social Media die Auseinandersetzung mit Zeug(inn)en und Zeugnissen des Holocaust verläuft. Versucht man sich in der wissenschaftlichen Literatur zu orientieren, um die jüngsten Entwicklungen beschreiben zu können, so zeigt sich eine Leerstelle: Wenige Studien liegen vor, die den Zusammenhang von Digitalisierung und Holocaust Studies in den Blick nehmen. Hervorzuheben sind die Anstrengungen im Kontext der Memory Studies.
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Wenig wird reflektiert, welche medialen Praktiken der Auseinandersetzung mit Holocaust und NS-Verbrechen das Internet bereit hält.
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Alina Bothes Studie versucht hier, erste Lücken zu schließen – sowohl in theoretischer Hinsicht als auch in einem auf Fallstudien basierten Zugriff. Vorliegende Untersuchung hat ihren Ausgangspunkt im Jahr 2007 genommen, als (Über-)Lebensgeschichten des Visual History Archives (VHA) in Seminare an der FU Berlin integriert worden sind (S. 3). Selbstreflexiv stellt die Verfasserin fest, dass »eine Studie, die die digitalen Medien einschließt, davon [ausgehen muss], bereits im Moment der Drucklegung veraltet zu sein«. (S. 17)
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Zielsetzung und Forschungsfragen
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Bei der Studie handelt es sich um eine 2016 an der Freien Universität Berlin abgeschlossene Dissertationsschrift. Als zentrale These formuliert Alina Bothe, dass »der mediale Transformationsprozess, dem die videographierten Interviews der USC Shoah Foundation im Zuge der Digitalisierung und Einbindung in das digitale Visual History Archive unterlagen, die Quellen selbst ebenso wie das geschichtswissenschaftliche Arbeiten mit ihnen verändert« (S. 3 f.). Damit wird eine die Studie kennzeichnende Schwerpunktsetzung offenkundig, da einerseits mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand insbesondere die Zeugnisse der kalifornischen Einrichtung berücksichtigt werden, und andererseits der Frage nach dem wissenschaftlichen Umgang – unter besonderer Berücksichtigung der Geschichtswissenschaft – nachgegangen wird. Ihre These operationalisiert sie in drei Forschungsfragen, die sich auf die digitale Verfasstheit des Visual History Archives (1), auf die daraus resultierenden epistemologischen Konsequenzen (2) sowie auf Schlussfolgerungen für Rekonstruktion, Repräsentation und Rezeption von Zeugnissen (3) beziehen.
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Ausdrücklich weist Alina Bothe auf den transdisziplinären Zuschnitt ihrer Arbeit hin und damit auf die sich als disparat erweisende Forschungslage (S. 29). Nähere Ausführungen zu ihrem Verständnis von Transdisziplinarität unterbleiben.
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Aufbau und Methodologie
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Die Arbeit gliedert sich in fünf größere Kapitel. Im Einleitungskapitel geht die Verfasserin auf den Aufbau der Arbeit ein. Das erste thematische Kapitel ist »Zeugnis und ZeugInnenschaft« gewidmet, in dem sowohl eine begriffliche Schärfung als auch ein inhaltlicher Überblick über Auslassungen und Tabus in Zeugnissen gegeben wird. Alina Bothe befleißigt sich einer Begrifflichkeit, die eine dezidierte und auch exkludierende Ausrichtung prägt: Sie versteht Zeugnisse als subjektive Quellen, »die in unterschiedlicher Form sprachlich oder nichtsprachlich von der Shoah aus Sicht der jüdischen Opfer berichten«. (S. 81) Sie können anhand folgender Faktoren unterschieden werden: Geschlecht, Zeit, Raum, Sprache, Medium, Genre, die wiederum bei einer sorgfältigen Quellenkritik zu berücksichtigen sind. Als Begründung der Fokussierung auf jüdische Zeugnisse führt sie historische Forschungsentwicklungen, gedenkkulturelle Differenzierungen sowie das von den Opfern geprägte Narrativ an. Die jüdischen Überlebenden würden – so ihre Annahme – über die Vernichtung des europäischen Judentums Zeugnis ablegen und nicht über »nationalsozialistische Vernichtungspolitiken in Gänze« (S. 83).
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Auf diese Begriffsschärfung folgt im Kapitel 3 eine Darstellung der USC Shoah Foundation und des von ihr geprägten Visual History Archives, wobei in besonderer Weise über Quellenkritik reflektiert wird. Dieses Kapitel bietet einen fundierten und detailreichen Überblick über die Entstehungsgeschichte und Motivationen des Visual History Archives, die im Anschluss an die Filmaufnahmen zu Schindlers Liste (1993, Regisseur: Steven Spielberg) entstanden sind. Es werden bereits existierende Archive – Tonaufnahmen von David P. Boder und Videoaufnahmen des Yale Fortunoff Archive – berücksichtigt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Motivationen für die Aufnahmen und damit verbundener Interviewführung und technischer Reproduzierbarkeit zu erfassen. Alina Bothe charakterisiert die Shoah Foundation als eine Institution mit Zügen eines öffentlichen Archivs, einer Bildungs- und Forschungseinrichtung sowie eines privatwirtschaftlichen Unternehmens ohne Gewinnabsichten. Solchermaßen ist auch die Sammlung der Zeugnisse verschiedenen Zielen und Zwecken verpflichtet, die Erlösung, »Heilung«, Wiederherstellung und Erziehung intendiert (S. 136). Um ihre Überlegungen zur Quellenkritik einzulösen, wählt die Verfasserin den Begriff des Dispositivs (im Anschluss an Michel Foucault), um auf das Ordnungssystem, Wissen- und Herrschaftspraxis sowie apparative Vorrichtungen eingehen zu können (S. 138). Ihre Überlegungen exemplifiziert sie an quantitativen und qualitativen Auswertungen des Visual History Archives.
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Das sich anschließende vierte Kapitel »Die virtuelle Sphäre als virtueller Zwischenraum der Erinnerung« wird mit vier zentralen Fragen versehen, die von begrifflichen Bestimmungen der Virtualität bis hin zu veränderten Wissensorganisationen durch digitale Medien reichen (S. 183). In weiten Teilen ist dieses Kapitel (S. 185-233) der Darstellung von Themen und Begriffen rund um Digitalisierung gewidmet, ehe der theoretische Kern der Arbeit entfaltet wird. Alina Bothe knüpft an das Konstrukt des Zwischenraums an, um die »Neuheiten und Andersheiten des Internets bzw. der digitalen Medien« erfassen zu können (S. 236). Dieser Zwischenraum lässt sich anhand der Ebenen Räume, Zeiten und Subjekte näher beschreiben (S. 237). In ihren weiteren Überlegungen knüpft Alina Bothe an verschiedene Forschungstraditionen an: Bezüglich der räumlichen Verortung rekurriert sie auf Homi K. Bhabha (Cultural Studies) und Edward Soja (Stadt-Raum-Geographie); im Anschluss an diese Denker versteht sie den Zwischenraum als ein hybrides Gefüge menschlicher Erfahrungen und gesellschaftlicher Aushandlungen (S. 252). Mit Blick auf Zeiten werden die Überlegungen Reinhart Kosellecks sehr ausführlich referiert, die in der Erkenntnis von Auschwitz als Zivilisationsbruch und Bruch der Zeit münden. Die Zeugnisse des Holocaust im Gewand der digitalen Medien sind geprägt von einer Beschleunigung und einer Möglichkeit der Wiederholung. Und schließlich geht die Verfasserin auf die dritte Dimension – die Subjekte – ein, wobei sie in besonderer Weise auf die Schriften der Theoretikerin und Publizistin Hannah Arendt rekurriert.
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Zusammenfassend bezeichnet der Zwischenraum der Erinnerung ein Konstrukt, das durch das Internet geschaffen wird und in dem Erinnerung einen tiefgreifenden Wandel erfährt. In dem durch Immersion, Instantität und Interaktivität geprägten Raum können Subjekte Zeitzeug(inn)en begegnen; in diesen Prozess der Rezeption können sich die User(innen) aktiv einbringen, sodass eine ausgeprägte Interaktionssituation anzunehmen ist (S. 295).
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Die in den vier Kapiteln zusammengetragenen Befunde werden in dem mit »Fallstudien« überschriebenem fünften Kapitel einer Prüfung an drei Beispielen unterzogen. Es gilt den »Zwischenraum« als epistemologisches Konstrukt anhand konkreten Materials zu überprüfen, wie Erinnerung an die Shoah im virtuellen Zwischenraum verhandelt wird.
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In der ersten Fallstudie werden fünf Zeugnisse des Visual History Archives zur sogenannten Polenaktion in Berlin am 28.10.1938 näher analysiert. Der Fokus ruht dabei auf Chancen und Grenzen der Rekonstruktion eines lokalgeschichtlichen Themas. Die Verfasserin reflektiert dabei auch die eigenen Erfahrungen und die ihrer Studierenden, die sie in Lehrveranstaltungen zu diesen Quellen sammeln konnte. Zentrales Ergebnis dieser Studie ist, dass die Rezipient(inn)en sich insbesondere auf die Überlebenden konzentrieren und zum Teil die Interviewführung kritisieren. Solchermaßen ist die Kontextualisierung der Zeugnisse relevant (S. 338).
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Das zweite Fallbeispiel widmet sich unkonventionellen historiographischen Repräsentationen, die auf Zeugnissen beruhen. Es werden Online-Ausstellungen ebenso berücksichtigt wie die Plattform IWitness, die die Bildungsarbeit der Shoah Foundation prägt, sowie das Projekt IWalk, das die digitalen Zeugnisse an eine Region bindet. In ihren Analysen kommt sie zu dem Schluss, dass die Rahmung der digitalen Zeugnisse zentral für deren Rezeption ist. Dabei wird ein narratives Grundmodell aufgenommen, das den Raum prägt und ein differenziertes Verständnis der Rezeption digitaler Narration erfordert (S. 378).
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Und schließlich werden in Fallstudie 3 Kommentierungen von Zeugnissen aus dem Visual History Archive bei YouTube einer kritischen Würdigung unterzogen. Diese Online-Kommentierungen gelten als besonders »authentisch« und werden unter der Perspektive – Wie begegnen Menschen online Zeug(inn)en und ihren Zeugnissen? – untersucht. Für die Analysen werden Kommentare zu sieben der zehn im Jahr 2015 am häufigsten gesehenen Zeugnissen herangezogen. Es wird ein inhaltsanalytisch geprägtes Kategoriensystem der Kommentare entwickelt und YouTube als virtueller Zwischenraum der Erinnerung gedeutet, der Kommunikation der User(innen) möglich macht (S. 435). Hervorzuheben ist, dass antisemitische Äußerungen in den Kommentaren nicht ausgeblendet, sondern als ethische Herausforderung begriffen werden (S. 435).
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Hinsichtlich der gewählten Methodiken für die jeweiligen Fallstudien verweist die Verfasserin auf dürftige Forschungsliteratur und entwickelt eigene Forschungsansätze, die sich aus der Diskursanalyse und der Grounded Theory speisen (S. 299).
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Die Arbeit endet mit einem »Fazit« überschriebenen Kapitel, das Konsequenzen im Umgang mit Zeugnissen im Kontext der Digitalisierung formuliert: Zum einen zeigen sich ethische Implikationen im Umgang mit Zeugnissen des Holocaust, die in vielfacher Weise reproduziert und verändert werden können. Zum anderen haben digitale Zeugnisse – so Alina Bothe – als neues Genre zu gelten, für das eine eigene Quellenkritik zu entwickeln sei. Dies gelte auch für die in der Entwicklung befindlichen »holografischen Zeugnisse«. Damit einher gehen veränderte Anforderungen an Forschen und Schreiben zum Holocaust (S. 445).
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Fazit und kritische Würdigung
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Mit ihrer Studie hat sich Alina Bothe in ein weitverzweigtes Forschungsfeld begeben, das von Dynamik und Innovation geprägt ist. Hervorzuheben ist, dass sie einen fundierten Einblick in die Entstehungsgeschichte des Visual History Archives bietet; diese Erkenntnisse werden zudem kontextualisiert, sodass die »Era of Witness« (Annette Wieviorka)
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am Beispiel verschiedener Archive nachvollziehbar wird. Des Weiteren hat die Verfasserin vielfältige Literatur aufbereitet und systematisiert; die Fallstudien zeugen davon und liefern zahlreiche neue Erkenntnisse.
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Allerdings hat man an einigen Stellen den Eindruck, dass die vielfältigen Einzelergebnisse den Blick auf die Forschungsfragen und die Methodologie verstellen. Kritisch ist anzumerken, insbesondere mit Blick auf die Fallstudien, dass hier Methoden der Sozialwissenschaften aufgeführt werden, die jedoch differenzierter ausgeführt hätten sein müssen und nur fragmentarisch auf die Forschungsfragen bezogen sind. Erste diesbezügliche Überlegungen sind sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für medienbezogene Studien formuliert worden.
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Das würde die Argumentation im Bereich der Analysen stärken, v.a. wenn es um die Verbindung des theoretischen Konstrukts des Zwischenraums mit den im Netz vorfindlichen Materialien geht. Zudem ist nicht immer deutlich, welche Perspektive die Verfasserin einnimmt: Schreibt sie als Kulturwissenschaftlerin? Als Historikerin? Als Germanistin? Der avisierte transdisziplinäre Zugriff hätte einer detaillierteren und (selbst)kritischeren Darstellung bedurft, damit die Orientierung für die Leser(innen) leichter sowie die angestrebte Quellenkritik deutlicher wird. Vielleicht wäre dann auch Platz für Begründungen gewesen, warum Social Media in der Studie keine Rolle spielen. Dies mag – wie eingangs von der Verfasserin bemerkt – an den Dynamiken des Feldes liegen. Reizvoll erscheint vor dem Hintergrund des mobilen Internets ein Nachdenken über die Nutzung webbasierter Kommunikationsangebote außerhalb des privaten Raums und der damit einhergehenden Konsequenzen für das Konstrukt »Zwischenraum«.
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Diese kritischen Anmerkungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Alina Bothe einen wertvollen Beitrag zu Herausforderungen im Spannungsfeld von Geschichte und Holocaust im digitalen Gewande leistet; gleichzeitig öffnet sie den Raum für weitere Fragen, die es zu klären gilt. Denn solche Fragen und Veränderungen sind mit »Eva Stories« bereits präjudiziert.
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