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Das Handwerk der Argumentation

  • Stefan Descher / Thomas Petraschka: Argumentieren in der Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam 2019. 188 S. EUR (D) 6,00.
    ISBN: 978-3-15-017693-1.
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Stefan Descher und Thomas Petraschka benennen ihr eng umgrenztes Projekt im ersten Satz: »Dieses Buch handelt davon, wie man Interpretationen gut begründen kann« (S. 7). Die primäre Zielgruppe ihrer Einführung in die Theorie und Praxis des Argumentierens sind Studentinnen und Studenten der Literaturwissenschaft. Diese werden von den Autoren wiederholt direkt angesprochen: Das »Lehrbuch […] hat das Ziel, Ihren Blick dafür zu schärfen, was Argumente eigentlich sind, und Sie darauf aufmerksam zu machen, was gute Argumente von schlechten Argumenten für Literaturinterpretationen unterscheidet« (S. 9; Hervorhebung im Original).

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Anders als breiter ausgerichtete literaturwissenschaftliche Einführungen stellen Descher und Petraschka nicht das Fach oder das wissenschaftliche Arbeiten im Allgemeinen vor. Sie nehmen gezielt die Frage in den Blick, wie in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten für (oder gegen) Interpretationen argumentiert werden kann. Dazu gehen sie in drei Schritten vor. Sie beginnen mit der Entkräftung von möglichen Einwänden gegenüber dem Gesamtprojekt. Im Hauptteil erläutern sie das Handwerk der Argumentation an literarischen Beispielen. Zuletzt machen sie Vorschläge zur sprachlichen Darstellung von Argumenten. Als Titel tragen die Kapitel jeweils Fragen, die in der Folge beantwortet werden.

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Die erste Frage ist grundsätzlicher Art: »Warum sollte man überhaupt für Interpretationen argumentieren?« (Kap 2) Descher und Petraschka beginnen auf einer Metaebene und argumentieren für das Argumentieren als solches. Dazu formulieren sie mögliche Einwände aus der Sicht von imaginierten ›radikalen‹, ›moderaten‹ und ›ästhetizistischen‹ Skeptikern, die das Argumentieren für zwecklos, unergiebig oder unangemessen halten. Diese Positionen werden zunächst entkräftet, um danach den zentralen positiven Grund für das Argumentieren zu formulieren: ohne Argumentation kein vernünftiger Austausch innerhalb der Wissenschaft – und ohne vernünftigen Austausch kein wissenschaftlicher Fortschritt.

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Zu Beginn des Hauptteils werden unter der Frage »Was ist ein Argument?« (Kap. 3) die Begriffe der Prämisse und der Konklusion eingeführt. Die Autoren zeigen, wie Prämissen und Konklusionen in einem Begründungsverhältnis stehen und zusammen als eine Gruppe von Aussagen ein Argument bilden. Zudem führen sie ein einfaches Notationssystem ein.

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Daran knüpft die Frage nach der Rolle eines Arguments beim Interpretieren an: »Wie hängen Argumentieren und Interpretieren zusammen?« (Kap. 4) Descher und Petraschka gehen von einem weiten Interpretationsbegriff aus und verstehen Interpretationen als Antworten auf »Verständnisprobleme« (S. 37) verschiedenster Art. Sie listen einige typische Interpretationsziele auf, schränken die Menge an legitimen Fragen, die man mit in einer Interpretation zu beantworten versuchen kann, jedoch nicht ein. Für jede Antwort auf ein Verständnisproblem gilt jedoch gleichermaßen, dass für sie argumentiert werden muss.

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Dabei kann für Interpretationen unterschiedlich argumentiert werden. Unter der Frage »Welche Typen von Argumenten gibt es?« (Kap. 5) erläutern die Autoren verschiedene deduktive (›modus ponens‹, ›modus tollens‹, ›Schluss vom Allgemeinen auf den Einzelfall‹) und induktive (›Indizienargument‹, ›Generalisierungsargument‹, ›Analogieargument‹, ›Expertenargument‹, ›Schluss auf die beste Erklärung‹) Argumenttypen und führen sie an Beispielen vor.

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Unabhängig von der formalen Struktur des Arguments können Interpretationen wiederum mit verschiedenen Gründen gestützt werden. Im Kapitel »Mit welcher Art von Gründen kann man für Interpretationen argumentieren?« (Kap. 6) unterscheiden die Autoren zwischen ›Textargumenten‹, ›historischen Argumenten‹, ›intertextuellen Argumenten‹ und ›biographischen Argumenten‹. Dabei gehen sie auf die Leistungsfähigkeit und Risiken der einzelnen Typen von Gründen ein.

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Im nächsten Schritt stellt sich die Frage nach der Qualität eines Arguments: »Was heißt es, gut für eine Argumentation zu argumentieren?« (Kap. 7) Descher und Petraschka stellen im Rückgriff auf Forschungsliteratur eine eigene Interpretation von Hofmannsthals Mein Garten vor, analysieren die Einzelteile ihres Arguments und prüfen die Qualität der Interpretation. Dabei erläutern sie unter wissenschaftlich etablierten Gütekriterien wie ›Korrektheit‹, ›Relevanz‹, ›Widerspruchsfreiheit‹, ›Textnähe‹, ›Datenbasis‹, ›Kohärenz‹, ›Reichweite‹, ›Präzision‹ und ›Klarheit‹, was im Grundsatz eine gute Argumentation auszeichnet.

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Im letzten Abschnitt des Hauptteils wird auf häufige Argumentationsfehler hingewiesen: »Welche typischen Probleme gibt es beim Argumentieren?« (Kap. 8) Die Autoren führen verschiedene Fehlschlüsse vor, die es zu vermeiden gilt (›affirming the consequent‹, ›denying the antecendent‹, ›Zirkelschluss‹, ›Äquivokation‹, ›Strohmann-Fehlschluss‹, ›cherry picking‹, ›ad novitatem‹, ›ad antiquitatem‹, ›ad populum‹, ›ad hominem‹, ›ad ignorantiam‹).

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Das letzte Kapitel widmet sich der Sprache: »Wie stellt man Argumente sprachlich dar?« (Kap. 9) Unter Stichworten wie ›Direktheit‹, ›Einfachheit‹, ›Klarheit‹, ›terminologische Einheitlichkeit‹ und ›Deutlichkeit‹ werden allgemeine Qualitätsmerkmale des wissenschaftlichen Schreibens im Allgemeinen sowie der Präsentation von Argumenten im Besonderen diskutiert.

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Dem formulierten Ziel entsprechend ist die Einführung »beispielreich, praxisnah, so kurz und so leicht verständlich wie möglich« (S. 11). Formallogische Darstellungen sind auf ein Minimum beschränkt, die Formulierungen sind kurz und klar. An kanonischen Texten von Brecht, Celan, Heym, Hofmannsthal, Droste-Hülshoff, Goethe, Kafka und Rilke wird vorgeführt, wie man argumentieren kann und sollte. Die einzelnen Kapitel schließen mit einer Zusammenfassung und weiterführenden Literaturhinweisen aus der (vor allem analytisch ausgerichteten) Philosophie und Literaturwissenschaft.

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Das Buch von Descher und Petraschka positioniert sich damit zwischen einer allgemeinen Einführung in das literaturwissenschaftliche Arbeiten (wie etwa Benedikt Jessings Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums (2001) 1 ) und einer stärker spezialisierten Einführung in die Logik und Argumentationstheorie (wie etwa Jonas Pfisters Werkzeuge des Philosophierens (2015) 2 ). Es eignet sich insofern insbesondere als ergänzendes Lehrmittel für Einführungskurse aller Art im literaturwissenschaftlichen Studium. Darüber hinaus kann es für alle nützlich sein, die intuitives oder praktisches Argumentationswissen theoretisch untermauern wollen.

 
 

Anmerkungen

Benedikt Jeßing: Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums. Stuttgart: Reclam 2001.   zurück
Jonas Pfister: Werkzeuge des Philosophierens. Stuttgart: Reclam 2015.   zurück