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Ein deutscher Bestseller der Frühen Neuzeit
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Jakob Lochers Stultifera navis (kurz SN) ist der erste europäische Bestseller eines gedruckten Buchs aus der Feder eines deutschen Autors. Der eminente Erfolg der Übersetzung, besser: Bearbeitung von Sebastian Brants Narrenschiff (1494) (kurz Nsch), die 1497 beim Basler Drucker Johannes Bergmann von Olpe erscheint, steht in keinem Verhältnis zu ihrer kläglichen Resonanz in der Forschung. Es war jedoch Lochers für den internationalen ›Markt‹ berechnete Latinisierung, die neben der des Josse Bade / Jodocus Badius Ascensius Brants Narrenrevue zum europäischen Durchbruch verhalf. Zwei neue, zeitgleich entstandene Studien zur Stultifera navis sorgen nun für die gerechte Rehabilitation und, wenn man will, Popularisierung von Lochers Werk. Erschließt Michael Rupps (in derselben Reihe erschienene) Untersuchung eher kursorisch Leitaspekte der SN,
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so bietet Nina Hartls zweibändige Münsteraner Dissertation einen repräsentativen Ausschnitt des Werkes, den sie durch Kommentar, Übersetzung und Einführung einem breiteren (Fach-) Publikum neu zugänglich macht.
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So ertragreich Hartls Arbeit für die Erschließung des Werkes ist, so hybrid nimmt sich ihr Gesamtzuschnitt aus. Hier werden zwei Anliegen (Gesamtdarstellung der SN und Edition) gleichzeitig verfolgt, aber – und dies mit vollem Vorsatz – nur bedingt erreicht. Das Ergebnis ist ein Kompromiß: auf der einen Seite eine literarhistorische Studie, die zentrale Aspekte des Komplexes berührt, auf der anderen eine Edition mit kritischem Anspruch, die dem Leser jedoch weite Partien (ungefähr die Hälfte) des originalen Werks schuldig bleibt. Eine arbeitstaktische Fehlentscheidung mit Folgen: Hartls Teiledition wird – das läßt sich leicht vorhersagen – eine integrale Ausgabe des Textes auf absehbare Zeit verhindern. Dies wirft die Frage auf, ob Teileditionen neulateinischer Texte nach klassisch-philologischer Praxis angesichts der editorischen Gesamtlage überhaupt der richtige Weg sind, einen bedeutenden Strang der frühen deutschen Literatur einer angemessenen Würdigung zuzuführen. Wer schnell auf den integralen Text der SN zugreifen will, sei auf die Online-Edition des Mannheimer CAMENA-Projektes verwiesen (hier ist freilich nur die Ausgabe Basel: Seb. Henricpetri, 1572 greifbar).
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Volkssprache und Latinität
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In ihrer Einleitung skizziert Hartl zunächst Lochers Revision des Brantschen Texts. Die Eigenständigkeit der SN im Zeichen einer deutsch-lateinischen »Doppelkultur« (Harms) wird als methodische Prämisse des Vergleichs zu Recht hervorgehoben, wenig später jedoch eingeschränkt, wenn Locher als das »vermittelnde Sprachrohr Brants« bezeichnet wird (S. 13). Als »Desiderat« bezeichnet Hartl »die Aufarbeitung des Komplexes Nsch – SN« (S. 12); ihm will Hartl in großen Zügen, nicht in einer »kleinteilige(n) Kapitelanalyse« (S. 12 Anm. 20) abhelfen. In fünf Kapiteln führt sie in das Werk und seine Entstehung ein. Nacheinander werden Umstände und Voraussetzungen der Entstehung (Kap. 1), Fragen der Transposition (ihrer Theorie wie Praxis) und des Exemplum-Gebrauchs (Kap. 3), des moralsatirischen Gehalts (Kap. 4) und schließlich der Weisheits- und Tugendlehre, konzentriert auf die wichtige Concertatio Virtutis cum Voluptate (Kap. 5), vorgeführt.
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In knappen Zügen würdigt Hartl die Entstehungsgeschichte der SN, die ein erstes Mal die Frage nach dem Verhältnis von Latinität und Volkssprache sowie nach der Gattungszugehörigkeit von Brants originalem Text aufwirft. Bereits hier relativiert Hartl wohltuend holzschnittartige Aussagen über das Publikum beider Fassungen. Denn schon Brant richtet sich nicht einfach an den illiteraten Laien. »Die Volkssprachigkeit des Werks [stand] offensichtlich auch einer gelehrten Rezeption nicht im Wege« (S. 17).
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Auf eine Übersichtsskizze, die bündig die Stationen der Locherschen Vita zusammenfaßt, folgt ein knapper Überblick über die Locher-Forschung sowie ein Abriß zu »Tradition und Rezeption der SN« (S. 28–34), die den binnen Jahresfrist einsetzenden europäischen Erfolg der SN unterstreicht. Der kursorischen Rezeptionsgeschichte läßt Hartl eine sorgfältige Zusammenschau der Drucküberlieferung folgen. Auch in buchkünstlerischer Hinsicht ist das Projekt Narrenschiff ein Meilenstein. Die lateinische Version enthält 117 Holzschnitte, für die größtenteils die Druckstöcke der Brantschen Ausgabe verwendet wurden. Aufgegeben wird in der SN die simultane Darbietung von Text und Holzschnitt im deutschen Nsch. Die floralen Bordüren am rechten und linken Blattrand der Erstausgabe werden ersetzt durch umfangreiche »Zitatkompilation(en)« (S. 43).
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Hinsichtlich der Editionsprinzipien relativiert Hartl die von der ›New Philology‹ aufgeworfene Problematik, wie ein verbindlicher ›Text‹ aus der Vielzahl der ›Texte‹, d.h. Fassungen editorisch zu konstituieren sei. Für die SN greift sie auf die Basler editio princeps vom 1. März 1497 als Leitzeugen zurück, bezieht jedoch die beiden folgenden Bergmannschen Ausgaben ebenfalls ein. In der Textgestaltung wird ein Ausgleich zwischen »Historizität« und modernen, d.h. an der klassischen Latinität geschulten »Rezeptionsgewohnheiten« gesucht. Konkret vertritt Hartl in der Textkonstitution eine relativ strikte Normalisierung der uneinheitlichen Orthographie (vor allem hinsichtlich Diphtongierung oder Besonderheiten der Vokalisierung wie ›e caudata‹). Dies führt teilweise zu voreilig klassizistischer Tilgung mittelalterlicher Schreibungen (Wechsel von ›ti‹ und ›ci‹, z.B. bei ›sociare‹/›sotiare‹), während andere »orthographische Eigenheiten des Textes, die für das Neulateinische charakteristisch« sind (S. 54), ausdrücklich erhalten werden. Diese halbherzige Normalisierung ist schon deshalb problematisch, weil hier die ›Historizität‹ des Textes von der anachronistischen Idee einer Schulnorm verdunkelt wird, die sich historisch erst im philologischen Klassizismus des 16. Jahrhunderts ausbilden wird.
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Docti oder Illitterati? Die Frage nach Lochers Publikum
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Das ertragreichste Kapitel der Arbeit widmet sich dem Verhältnis von Narrenschiff und SN. Unter den vielfältigen Motivationen zur Latinisierung volkssprachlicher Texte sieht Hartl die der Nobilitierung vordringlich, nicht aber allein maßgebend. Damit ist die Frage nach dem Rezipientenkreis beider Fassungen angeschnitten. Hat Brant auch die breite Masse im Auge, so soll die lateinische Fassung vor allem die docti erreichen. Hartl widerspricht jedoch zu Recht einer strikten Zuordnung beider Fassungen auf die illiterati hier, die Gelehrten dort. Immerhin ist belegt, daß auch Kölner Kaufleute – in der schwankenden zeitgenössischen Terminologie also indocti – das lateinische Narrenschiff rezipierten. Man hat also mit einer nicht unerheblichen »Durchlässigkeit von oben nach unten« und mithin einer »breiteren Rezeption« (S. 65) zu rechnen. Äußerlich ergeben sich aus Lochers Bearbeitung folgende Prinzipien: Unter Wahrung des Textbestandes sind drei Kapitel unterdrückt, dafür am Ende zwei eigene (in Commendationem Philosophiae und Concertatio Virtutis cum Voluptate) beigegeben. Neben der Kürzung der Einzelkapitel auf zumeist 34 Verse (dokumentiert in einer Tabelle) fällt vor allem die Beigabe der »Mantel-«, d.h. »Paratexte« (Widmungsbriefe und -vorreden, Epigramme etc.) auf (S. 66), die knapp gewürdigt werden (S. 70–73).
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Hatte Brant den Bildkomplex der Narrenschiffahrt nur sporadisch eingesetzt, so rückt Locher die Schiffahrtsmetaphorik und -topik stärker in den Mittelpunkt. Dabei strafft und vereinheitlicht er alternative Bildbereiche (›Narrenhaut‹, ›Narrenschlitten‹, ›Narrenspiel‹). Hartl führt die wichtigsten Konnotationen an: die Reise nach Narragonien als »deportation ins tollhaus« (Zarncke), das Schiff als »Platzhalter für das Narrenbuch«, die Reise als Sinnbild der vita humana in ihren vielfachen religiösen und säkularen Bezügen. Dem steht die Deutung des Schiffs als Symbol von Kirche und Glauben gegenüber (SN Kap. 103), zu dem das Narrenschiff die kontrastive Spiegelung darstellt. Für Hartl zeigt Locher »in der Narrenschiffahrt das menschliche Treiben bzw. im Schiffbruch das Sinnbild menschlichen Scheiterns« (S. 79). Daß er das Bild der Narrenschiffahrt gegenüber der Brantschen Fassung zu einer »abgerundeten Gesamtkonzeption« integriert, mag von der Tendenz her zutreffen. Wenn Locher die alternativen Narrenmotive Brants auf das der Schiffahrt konzentriert – und dies oft schematisch genug im Auftakt der Kapitel, so ist dies freilich auch Folge der Transponierung in die Latinität. Einerseits hatten hier die autochthonen Bilder von ›Narrenhaut‹, ›Narrenschlitten‹, ›Narrenspiel‹ keine Entsprechung, andererseits boten navigatio und peregrinatio ein komplexes topisches Feld an, in das sich eine Fülle antiker Texte, Motive und Deutungsoptionen einstellen ließen. Die verschiedenen Aspekte des Schiffahrtsmotivs werden zudem von einem Topos zusammengehalten, den Hartl unerwähnt ließt: den vom Schreiben als Schiffsreise.
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Lochers eloquentia-Ideal
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Die SN ist ein Produkt der imitatio, und dies – so unterstreicht Hartl – gleich doppelt: Nachahmung Brants als »verpflichtende[r] Vorlage« sowie Anlehnung an die Antiken als »sprachlicher Autorität« (S. 87). Hier sind Interferenzen vorgezeichnet, ja einkalkuliert. Hartl resümiert zunächst bekannte Prinzipien des humanistischen Bildungsprogramms: die Ciceronische Einheit von eloquentia und philosophia, der praktische Aspekt der Rhetorik, die Ziele von prodesse und delectare. Selten wird Locher poetologisch: so plädiert er gegen obscuritas und brevitas, sucht die Brantsche Vorlage in den Kontext der altrömischen Satire zu stellen. Die Berufung auf das Dreigestirn Horaz, Persius, Juvenal setzt mittelalterliche Kanones fort, deren Funktion über die »Prävalenz der utilitas« hinaus näher zu präzisieren wäre (S. 90). Offenkundig überlagern sich die Traditionen: Antike und mittelalterliche Moraldidaxe verbinden sich mit einem Grundbuch der Renaissance, Petrarcas De remediis utriusque fortunae, das – Hartl erwähnt es nicht eigens – auch Lochers Bild des Satirikers als Arztes motiviert haben dürfte.
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Anhand der Beispiele aus Bibel und Kirchenrecht hebt Hartl Lochers »Kontamination antiker und biblischer Elemente« hervor (S. 98). Gegenüber Brant treten indes die pagan-antiken Bezüge deutlicher zurück. In anderen Fällen – etwa Kap. 22 mit der allegorischen Sapientia – ergeben sich synkretistische Schnittmengen zwischen beiden Wissenstraditionen. Im ›Argumentationssystem‹ der poetica theologia werden Athen und Jerusalem durch Zitatkollage und Anspielung als gleichberechtigte Bezugsorte inszeniert.
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Hartls Analyse der Locherschen Bezugstexte, die der Stellenkommentar an zahlreichen Stellen beträchtlich erweitert, läßt Fragen von Stil und Stilwahl weitgehend unbeachtet. Der pauschale Hinweis auf das imitatio-Prinzip suggeriert allzu schnell eine konturenlose Klassizität, die der Latinität der deutschen Humanisten um 1500 – als Parallelfall sei an Lochers Lehrer Celtis wie an Brant, Wimpfeling, Bebel, Murmellius u.a. erinnert – noch insgesamt abgeht. Hier eröffnet sich der Humanismusforschung ein weites Feld an Fragen: Wie situiert sich Lochers Stil und Poetik im historischen Kontext? Wie läßt sich der Befund deuten, daß Locher etwa in seinem Brief an Sebastian Brant (III.; Bd. 2, S. 12 ff.) dezidiert den Auftakt von Apuleius’ Metamorphosen paraphrasiert, um im späteren Prologus (XI.) wieder in Ciceronisches Fahrwasser zu lenken? Keineswegs nämlich beschränkt sich das humanistische Latein um 1500 auf Cicero und Vergil. Gerade der Briefstil ist stark von Vertretern der ›silbernen Latinität‹ (und späteren wie Sidonius Apollinaris) geprägt. Hier käme man sehr schnell auf einen der wichtigsten Vermittler des italienischen Humanismus, Filippo Beroaldo. Er ist nicht nur wirkmächtiger Propagator des Apuleius (sein bedeutender Kommentar der Metamorphosen erscheint 1500). Seine Petrarca- und Boccaccio-Übersetzungen in den Carmina von 1491 werden von Locher (Bd. 2, S. 14, 35–39; von Hartl nicht identifiziert) ausdrücklich als Anlaß und Modell der eigenen Übersetzungsbemühungen erwähnt.
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Dieser ›hybride Klassizismus‹ der deutschen Humanisten um 1500 bleibt in Hartls Analysen unscharf bzw. unkommentiert.
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Ein Licht auf die Kooperation zwischen ›Autor‹ und Übersetzer werfen die Marginalien der SN, die Brant auf der Grundlage seiner deutschen Version verfaßt. Sie unterstreichen in ihrer plakativen Häufung die Sättigung der Didaxe mit doctrina und pagan-biblischer auctoritas. Leider gibt Hartl die Marginalien in ihrer Edition nur im Apparat wieder und durchbricht so das suggestive optische Ensemble des originalen Drucks. Als »Metatext« (S. 101) und Rezeptionsanweisung aus Brants Feder geben sie »Verweise auf Parallelstellen« und »Lesetips« (S. 100 bzw. 101). Ähnliches gilt für die ebenfalls von Brant verfaßten Holzschnittbeischriften.
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Exempla-Gebrauch und Typisierung
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Ein wesentliches Element humanistischer Moraldidaxe sind die Exempla. Ihrem Gebrauch bei Brant und Locher widmet Hartl ein eigenes Kapitel mit einer Fülle ausgezeichneter Textbeobachtungen. Anknüpfend an Daxelmüller bestimmt sie die rhetorische Funktion des Exempels als »beispielhafte narratio« (S. 107), deren Umfang von bloßer Namensnennung bis zur kürzeren oder längeren Erzählung reicht. Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, daß Locher die Zahl seiner exempla gegenüber Brant deutlich reduziert (von 411 auf 245 in Hartls Zählung). In den verbliebenen wird ein »Zug zur Straffung, Harmonisierung und Moralisierung« erkennbar (S. 117). Deutlich erhalten bei Locher die gelehrten gegenüber den religiös-biblischen Exempla ein Übergewicht – ein »Reflex auf den Bildungsstand seines lateinisch gebildeten Rezipientenkreises« (S. 110). Art und Umfang des Exempla-Gebrauchs in beiden Fassungen des Narrenschiffs illustriert Hartl mit einer ausführlichen nach Provenienzen sortierten Vergleichstabelle (S. 119–133).
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Das Kapitel schließt mit der bedeutsamen Frage nach Art und Funktion der Typisierung in Lochers Bearbeitung. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Rezipientenkreise beider Drucke: Locher beschneidet das allzu regional Gebundene (›Sackpfeifer von Niklashausen‹, ›der Pfaffe vom Kalenberg‹) zugunsten ›international‹ verständlicher Didaxe (im Prolog erhofft sich Locher eine Rezeption von Gallien bis Griechenland!). Volkstümliche Elemente – etwa Kap. 110b: von fasnacht narren – müssen zu saturnalia festa ›romanisiert‹ oder im Sinne der alten Welttheatermetapher zu ludicra mundi generalisiert werden. Die Zielsprache Latein erzwingt den Verzicht auf derben Realismus, wie umgekehrt für Brant der epische Ton Vergils tabu ist. Diese Tendenzen sieht Hartl auch in Lochers Narrentypus wirksam, wenngleich dieser die wesentlichen Insignien und Attribute mit Brant teilt (S. 136–139). Brants satirische Komik tritt allerdings bei Locher im Fahrwasser der ›pathetischen‹ Satire Juvenals hinter das ›Strafen‹ zurück.
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Als Gegenstück zu Brants lon der wisheit (Kap. 107) fügt Locher als Kap. 113 eine Commendatio Philosophiae ein, die zugleich den Übergang zur abschließenden Concertatio Virtutis cum Voluptate bildet. Die Weisheit der Welt, so der von Brant übernommene Tenor, ist Torheit vor der göttlichen Weisheit – ein Gedanke, den Erasmus zum Nukleus seines Encomion Morias machen wird. Wieder kann Hartl zeigen, wie Locher pagan-Antikes mit Christlichem verbindet, die Allegorie der Philosophie aus Boethius’ Consolatio mit der biblischen Sapientia verschmilzt. Schließlich wird Lochers wichtigster Zusatz, die Concertatio Virtutis cum Voluptate, in ihre ideen- und motivgeschichtliche Tradition eingereiht. Die Wahl des Herakles, christlich gedeutet als Entscheidung zwischen via mortis und via vitae, zählt zu den beliebtesten mythologischen Exempeln der Zeit mit unabsehbarer Wirkung in Literatur und Bildkunst (letztere bleibt bei Hartl durchgehend außen vor). Locher gestaltet sie in der SN als dreiteiligen Rede-Agon beider Personifikationen, in dem erwartungsgemäß die als Greisin gezeichnete ›Frau Tugend‹ den Sieg davonträgt.
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Kenntnisreich führt Hartl am Ende durch die verwinkelten Wege der Motivtradition und schließt mit einem aufschlußreichen Vergleich mit Brants Fassung der Herkules-Wahl: Zeichnet Locher seine Virtus nach dem altrömischen Tugendmodell, so geht Brant von der mittelalterlichen Allegorie der ›Frau Armut‹ aus (S. 155). Dies setzt ein grundsätzlich anderes Menschenbild voraus: Die Wahl des Herakles betone den freien Willen des Individuums gegenüber der mittelalterlichen Vorstellung, wonach die menschliche Seele zum Angriffspunkt gegensätzlicher Mächte werde. Das schmeckt nach Burckhardtscher Renaissance-Emphase, ist aber in der Sache nicht falsch. Bezüge zu analogen Mythen läßt Hartl dagegen unerwähnt. In der Betonung der Wahlfreiheit berührt sich die Herakles-Fabel mit der in Bild und Text gleichermaßen verbreiteten Paris-Wahl, die Locher selbst in einem Schuldrama vorgeführt hat (Iudicium paridis de pomo aureo, 1502). Leider verzichtet Hartl hier wie auch sonst darauf, ihre aufschlußreichen Analysen der SN durch Vergleich mit Lochers übrigem Werk zu untermauern. Für den Fall der Concertatio hätte sich hier einmal mehr der Blick auf Lochers Poematia empfohlen, deren Moraldidaxe ganz die Linie der SN fortführt.
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Stellenkommentar und Übersetzung: Licht und Schatten
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Eine Würdigung der eigentlichen Edition kann nur zu einem positiven Ergebnis kommen. Zunächst zum Stellenkommentar. Hartl findet einen guten Kompromiß zwischen Wort- und Sacherklärungen auf der einen und Kontextualisierungen aller Art auf der anderen Seite. Behutsam werden signifikante Parallelstellen aufgenommen, ohne wahllos Similien zu häufen. Unter den Belegen haben die antiken und biblischen naturgemäß das Übergewicht. Die Hinweise auf Marginalien werden jedoch nicht aufgelöst. Daneben schaltet Hartl des öfteren kleinere Exkurse zu literar- und geisteshistorischen Bezügen ein, die den Leser knapp und zutreffend orientieren. Insgesamt stellt sich bei der Durchsicht der wohltuende Eindruck ein, daß ein gesundes Maß hinsichtlich Umfang und Intensität gefunden wurde. Der Leser wird kaum einmal allein gelassen (am ehesten im Hinblick auf Fragen zeitgenössischer Poetik und Stilistik, Lochers humanistische Vor- und Mitwelt abgesehen von Brant bleibt schwach ausgeleuchtet), aber auch nicht in ausgreifende Exkurse verstrickt. Immer wieder orientiert Hartl über die grundsätzlichen Tendenzen einzelner Kapitel und nennt weiterführende Literatur auf aktuellem Stand.
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Einen eher zwiespältigen Gesamteindruck hinterlassen Hartls Übersetzungen. Ausdrücklich sind sie als »Verständnishilfe der Lektüre des lateinischen Textes« gedacht. Freilich läßt sich über das Ansinnen, »möglichst große Nähe zum Wortlaut des Originals herzustellen« (S. 59), trefflich streiten. Soll die SN einem breiteren, womöglich nicht lateinkundigen Publikum nähergebracht werden, ist die mitunter ängstliche Ausrichtung an Lexik und Syntax des Ausgangstextes nur schwer nachvollziehbar. Vielerorts führt Hartls ›wörtliches‹ Übersetzen von Lochers Text weg, indem sie diesem ein unnötig hölzern-schülerhaftes Gepräge unterstellt. Beispiele finden sich auf Schritt und Tritt: die Wiedergabe des lateinischen Superlativs durch ›sehr‹ (Bd. 2, S. 13), sperrige Nebensatzkonstruktionen nach lateinischen AcI (»daß du wolltest, daß ich dein volkssprachliches Werk ... übersetze«; Bd. 2, S. 15), notorische Brüche der originalen (zugegeben: oft unglücklichen) Locherschen Bildlichkeit (»Das berühmte Griechenland konnte seine Dichter leuchten lassen, weil es vom nahen Quell genährt wurde« Bd. 2, S. 19) oder deren blumig-ungefilterte Wiedergabe in deutscher Prosa (»doch uns erzeugte der Himmel in einem schrecklichen Landstrich«; ebd.), die unnötig nach Schulstube schmecken. Eine Übersetzung der Allegorien Virtus und Voluptas verweigert Hartl ganz (Bd. 2, S. 317). Hier wie andernorts hätte die Notwendigkeit, Bedeutungen und Assoziationen des lateinischen Textes präzise, nicht ungefähr festzustellen (›Tugend‹ – mit moralisierender Tendenz?, ›Frau Tugend‹? – mit mittelalterlichem Beigeschmack? – Sittlichkeit oder Mäßigung?), wertvolle Anschübe für ein tieferes Verständnis des Tugend-, Weisheits- und Narrenbegriffs geliefert.
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Fazit
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Ein Gesamturteil über Hartls Narrenschiff-Studie fällt dennoch positiv aus. Kenntnisreich bündelt sie zentrale Aspekte der Locherschen Übertragung und legt damit ein solides Einführungswerk zur SN in ihrem Verhältnis zur Brantschen Urfassung vor. Naturgemäß stehen vertraute Themen der Narrenschiff- wie der Humanismusforschung im Mittelpunkt, bisweilen hätte man sich ein wenig mehr Mut zu neuen oder kontroversen Fragestellungen gewünscht. Vergeblich sucht man eine Brücke von der klassischen Humanismusforschung zu neueren, eher sozialgeschichtlichen Untersuchungsinteressen, wie sie die Forschung zur volkssprachlichen Literatur der frühen Neuzeit bestimmen. Vielversprechend wäre etwa eine vergleichende Analyse ökonomischer, religiöser oder politischer Zusammenhänge. Auch eine Differenzierung der Tugend-, Weisheits-, Sittlichkeits- und Verhaltenskonzepte (Liebe, Ehe, Freundschaft, Frauenbild etc.) steht aus.
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Ohne Widerhall bleiben die umstrittenen Thesen Foucaults, der sich in seiner Histoire de la folie (dt. Wahnsinn und Gesellschaft)
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eingehend mit dem Komplex der Stultifera navis beschäftigt.
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Seine These von der Komplementarität und Reziprozität von Vernunft und Wahnsinn (»Der Wahnsinn wird eine Bezugsform der Vernunft«)
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hätte man mit Gewinn für eine schärfere kontrastive Bestimmung der Leitbegriffe stultitia und sapientia / ratio einsetzen können. Trotz solcher Monenda hat Nina Hartl mit ihrer gelehrten, philologisch sauberen, sprachlich wie redaktionell wohl präsentierten Arbeit eine nachhaltige Bresche in die Narrenschiff-Forschung geschlagen und einen weithin verschollenen deutschen Bestseller der Frühen Deutschen Literatur einem breiteren Publikum wie der Frühneuzeitgermanistik zurückgewonnen.
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