Johann Holzner

Zeugnisse einer untergegangenen Welt:
Passionsspiele aus der Steiermark
und aus Kärnten




  • Karl Konrad Polheim / Stefan Schröder (Hg.): Passionsspiel. Erster Teil. (Volksschauspiele 1) Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2000. 688 S. Kartoniert. EUR 148,00.
    ISBN: 3-506-77961-3.


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Das Verschwinden der Passionsspiele

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Die innerösterreichischen, d.h. aus Kärnten und aus der Steiermark stammenden Passionsspiele sind erst im 20. Jahrhundert, in der NS-Ära, von der Bildfläche des österreichischen Kulturbetriebs verschwunden. Ihr Verschwinden ist indessen kaum bemerkt, kaum registriert worden, denn sie haben auch schon lange vor 1938 die Öffentlichkeit nicht mehr sonderlich beschäftigt (und nie mit dem Oberammergauer Spiel ernsthaft konkurrieren können).

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Auch die Forschung hat sich zurückgehalten. Während die in der NS-Zeit verbannten und verbrannten literarischen Werke seit der Mitte der siebziger Jahre allmählich, nach langen Anlaufschwierigkeiten wieder das Interesse der Literaturwissenschaft finden, 1 bleiben die Volksschauspiele (und das gilt nicht nur für die Spiele aus Kärnten und aus der Steiermark) in einer Nischenposition, allenfalls von Vertretern der Volkskunde als Überlieferungsträger noch wahrgenommen, darüber hinaus jedoch vollkommen verborgen, wie Museumsstücke, die im Depot schlummern und die niemand mehr vermisst.

[4] 

Selbst Spezialisten bezeichnen die Textvorlagen der Spiele vom Leiden Christi, die, in mittelalterlichen Traditionen wurzelnd, im österreichischen Raum bis ins 19. und sogar 20. Jahrhundert überlebt haben, als unbedeutend, 2 und auch die Neugewichtung der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte kann, wie Karl Konrad Polheim und Stefan Schröder im Vorwort dieses Buches ausführen, das Genre der Volksschauspiele offensichtlich nicht mehr aus der Versenkung holen.

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Die Edition

[6] 

Dass die Herausgeber dieser Sammlung den eben besprochenen Tatbestand bedauern und mit ihrer Edition endlich wieder ein größeres Publikum ansprechen wollen, ist evident. Sie präsentieren aus dem umfangreichen Quellenmaterial, das in der Bonner Forschungsstelle zum Volksschauspiel in den letzten Jahrzehnten zusammengetragen worden ist, sieben Spiele, alle bislang unveröffentlicht; sie geben sie handschriftengetreu wieder, jeweils mit einem konzisen textkritischen Apparat versehen, verzichten jedoch auf Kommentare und Analysen zu den hier edierten Texten, um den Rahmen der Ausgabe nicht ganz und gar zu sprengen.

[7] 

Das Ergebnis: Sie öffnen ein Archiv, in dem für historische, volkskundliche, germanistische und nicht zuletzt theologische Forschungsarbeiten doch allerhand zu entdecken ist; aber neue Zugänge zu den ausgewählten Spielen geraten nach wie vor nirgendwo ins Blickfeld.

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Volksschauspiele sind, so wird im Vorwort definiert, keineswegs dem Bereich des Volkstheaters zuzuordnen, sondern Spiele, die »als Brauchtum empfunden«, »vom Volk und für das Volk« in Szene gesetzt werden; der Begriff ›Volk‹ wird in diesem Zusammenhang nicht weiter reflektiert, 3 allerdings »auf die ländlichen Schichten begrenzt« (S. VII). Die hier ausgewählten Passionsspiele stammen aus der Steiermark, nämlich aus Kammern im Liesingtal (1862; Original-Handschrift aus der Stiftsbibliothek Admont) und aus Kärnten: Glanegg / Stall (1843 / 1888), Guttaring (2. Hälfte 18. Jahrhundert), Sörg (vor 1876), Steinfeld (1815 / 1849), Steuerberg / Glanegg (1832) und Vellach (1863).

[9] 

Verzicht auf Aktualisierung = Verzicht auf Resonanz

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Anders als das berühmte Oberammergauer Passionsspiel haben diese Spiele im 18. und 19. Jahrhundert verhältnismäßig wenige Aktualisierungen erfahren und damit den didaktischen Charakter, überhaupt zahllose Spuren der mittelalterlichen Tradition bewahrt. Daraus ergibt sich ihre Sonderstellung im Kontext der Geschichte des alpenländischen Passionsspiels. 4 Daraus erklärt sich jedoch auch zugleich das Schwinden ihrer Resonanz.

[11] 

Eine Szene wie »Die Predigt Christi zur Bekehrung der Magdalena« aus dem Spiel Das große Versöhnungsopfer auf Golgatha oder die Leidens- und Todesgeschichte Jesu (Kammern) dürfte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in »ländlichen Schichten« (sofern sie nicht voll und ganz dem ultramontanen Lager nahe gestanden sind) in erster Linie doch Kopfschütteln provoziert und jedenfalls kaum mehr aufrüttelnd gewirkt haben. Und auch die guten Vorsätze, die Magdalöna in dem Passionsspiel aus Steuerberg / Glanegg nach der ersten Begegnung mit Christus sich zu Herzen nimmt (S. 458), auch diese Vorsätze (»Meine Hare flächte Ich Niemehr ein, / mit Bänter und mit Seiden, / meine Berlein Gueth und Geld / will Ich Verschönken, / und auf den Spiegel will Ich nicht mehr gedenken«) haben ganz bestimmt das Publikum nicht mehr übermäßig irritiert.

[12] 

Aus Szenenphotographien von Passionsspielaufführungen in Kärnten (in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts) lässt sich zwar schließen, dass das Brauchtum stärker betont worden ist als das ›Theater‹, dass also auch in der letzten Phase der Geschichte dieser Aufführungen der Verkündigungscharakter den Vorrang behalten hat vor allem anderen, 5 doch dem gleichzeitig zu entnehmen, dass »der religiöse, ja liturgische Charakter der Spiele« sich ungebrochen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert erhalten habe, wie Polheim feststellt, 6 dass die Spiele lebendig geblieben seien über die Jahrhunderte, ein derartiges Diktum ist nicht mehr zu begründen.

[13] 

Diese Spiele sind nicht lebendig geblieben; und jeder Versuch, sie zu revitalisieren, wäre zum Scheitern verurteilt, müsste auch mit hartem Widerstand von den unterschiedlichsten Seiten rechnen.

[14] 

Nicht zuletzt mit dem Widerstand der Pfarrgemeinden selbst. Das Beispiel der Innichner Mysterienspiele zeigt das schon recht anschaulich: Der von der »Theaterwerkstatt Innichen« im Jahr 1987 gestartete Versuch, in der Stiftskirche, im größten und schönsten romanischen Bauwerk Südtirols, die Bearbeitung eines alten Passionsspiels, »Das Leiden unseres Herrn Jesus Christus« aufzuführen, ist bereits am Einspruch des Pfarrgemeinderats gescheitert. Dieser hat nämlich zu bedenken gegeben, dass ein derartiges Spiel mit »der Weihe des Ortes als Gotteshaus« unvereinbar sei. 7

[15] 

Gegen eine ›Neuinszenierung‹ der hier publizierten Spiele wäre, von ästhetischen Bedenken zunächst einmal ganz abgesehen, vor allem vorzubringen, dass die (obsoleten) Frauenbilder und die antijüdischen Stereotypen in allen diesen Passionsspielen als Grundpfeiler der Strukturen gelten müssen und deshalb allenfalls übermalt, nicht jedoch entfernt werden könnten, ohne die Gesamtkonstruktion der Werke zu gefährden. Sie zu erneuern, hieße also sie zu zerstören.

[16] 

Der Kampf gegen »die epicureische Lebensart«

[17] 

Magdalena, naturgemäß die schillerndste und farbigste Frauenfigur in diesen Spielen, die Sünderin, die alle Warnungen in den Wind schlägt, im »Garten der Wollust« wandelt (S. 8) und »die epicureische Lebensart« genießt (S. 9), das Gegenbild der weiblichen Identifikationsfigur par excellence, ehe sie, nach der Begegnung mit Christus, vollkommen bekehrt auftritt, Magdalena ist keineswegs die einzige, wenn auch die auffallendste Erscheinung auf der Schwarz-Weiß-Zeichnung der Passionsspiele:

[18] 
Mit seiden und Perllein Pin ich geziert –
ach waß solt dan dar yber sein!
ergözen Tue ich mich fast alle tag
Mit mussig und spilleiten,
die jungen gesellen, de hambt Mich lieb,
sie Tuen mich gar schen Pegleiten. –
von Prödig hörren halt ich nicht gar fill,
auch nicht fill uon Petten;
daß Tanzen Mier ja fillieber ist,
dem will ich alle zeit nach Tröten. (S. 283)
[19] 

So zeigt sich »Madalenä in der Hofart« im Spiel von Sörg, kurz bevor Christus auf den Plan tritt. Unmittelbar danach ist sie radikal verwandelt; das folgende Beispiel stammt aus dem Spiel von Steuerberg / Glanegg:

[20] 
O Ihr Augen Thuet euch auf,
und Last die Zächer Rihnen
wie mich schon vor den Sünden graust
möcht siech die Höll Ergrimen. (S. 458)
[21] 

Die »Lebensart«, die in derartigen Szenen-Wechseln propagiert wird, ist leicht auszumachen. Schwer fällt es hingegen sich vorzustellen, dass diese Volksschauspiele neu gestaltet, irgendwann einmal umgeformt werden könnten zu Spielen, in denen (wie in den zitierten Bibel-Stellen) die Welt zur Sprache kommt, ohne dass permanent von Kanzeln herab gemahnt, gewarnt, gedonnert würde. Zu den »Spielformen der Kunst«, in welchen die Moral, »wenn überhaupt, dann als Draufgabe, als das Beiläufige, ja Selbstverständliche eine Rolle spielt, nicht als mühsam zurechtgeschliffener Kern« 8 (so Christoph Ransmayr in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Bertolt-Brecht-Literaturpreises in Augsburg), zu solchen Spielformen stehen die Passionsspiele jedenfalls in einem diametralen Gegensatz.

[22] 

Antijüdische Stereotypen

[23] 

Zum »Kern« der Passionsspiele gehört schließlich auch der massive Einsatz antijüdischer Stereotypen. 9 Aus welcher Perspektive auch immer sie beurteilt werden, die Juden erscheinen in jeder Szene nur im düstersten Licht. Ein »undankbares und gottvergessenes« Geschlecht, zieht Christus Bilanz vor seinen Jüngern (S. 21); und Judas konstatiert, ebenfalls im Spiel von Kammern: »Nichts schändlicheres hat die Sonne jemals beschienen und die Erde getragen als mich und diese verfluchte Juden-Rotte« (S. 50). Während Jesus im Neuen Testament von der römischen Soldateska verhöhnt und misshandelt wird (vgl. Mt 27,27–30), sind es in allen diesen Stücken die Juden ganz allein, die einander überbieten, wenn es darum geht, die schrecklichsten Martern für Jesus Christus zu erfinden:

[24] 
Bisch basch – das Blut muß haushoch spritzen –
es gibt einen Brunnen ab, macht ihm nur tapfer Hitzen. (S.65)
[25] 
Die Ruthen sind sehr gut,
Und machen steife Riß,
Sie zapfen ab das Blut,
So lang noch eines ist. (S. 146)
[26] 
Ein zauberrer, der so fill kan liegen –
schlaget zue, das die fezen fan Jhm fliegen.
wier wollen Jhm recht Machen schwizen
Mit Rueten streich und geisel spizen. (S.346)
[27] 
Ich weiß wohl was ihm fehlt,
bringts her ein Rauch und frische Glut,
jetzt wollen wir den argen Schlauchen,
ein wenig den Kopf anrauchen geschwind,
und also warmer gut verbinden,
dann wird er seine Gesundheit finden. (S.632)
[28] 

In Oberammergau hat man nach Protesten jüdischer Organisationen die antijüdischen Auslassungen »entschärft«. 10 Von den Spielen aus der Steiermark und aus Kärnten würden nach ähnlichen Eingriffen indessen nur mehr Trümmer übrig bleiben: Sie widersetzen sich, als Zeugnisse einer untergegangenen Welt, hartnäckig jeder Neubearbeitung.


Prof. Dr. Johann Holzner
Universität Innsbruck
Forschungsinstitut Brenner-Archiv
Josef-Hirn-Str.5
AT - 6020 Innsbruck

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Ins Netz gestellt am 17.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Norbert Otto Eke. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Johann Holzner: Zeugnisse einer untergegangenen Welt:Passionsspiele aus der Steiermark und aus Kärnten. (Rezension über: Karl Konrad Polheim / Stefan Schröder (Hg.): Passionsspiel. Erster Teil. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2000.)
In: IASLonline [17.03.2004]
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Anmerkungen

Vgl. dazu Evelyn Adunka / Peter Roessler (Hg.): Die Rezeption des Exils. Geschichte und Perspektiven der österreichischen Exilforschung. Wien: Mandelbaum Verlag 2003.   zurück
Ekkehard Schönwiese: Das Volksschauspiel im nördlichen Tirol. Renaissance und Barock (Theatergeschichte Österreichs, Band II: Tirol, Heft 3). Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1975, S. 62.   zurück
Vgl. dagegen den Band: Volksstück. Vom Hanswurstspiel zum sozialen Drama der Gegenwart. Von Hugo Aust / Peter Haida / Jürgen Hein. Hg. von Jürgen Hein. München: C. H. Beck 1989; dort vor allem das Kapitel »›Volksstück‹ in Wortbelegen von 1774 bis 1967«, S. 21–31, das nebenbei auch wichtige Querverweise zum Begriff ›Volksschauspiel‹ vermittelt.   zurück
Vgl. Karl Konrad Polheim: Passionsspiele in Steiermark und Kärnten. In: Hört, sehet, weint und liebt. Passionsspiele im alpenländischen Raum. Hg. von Michael Henker / Eberhard Dünninger / Evamaria Brockhoff (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur, Nr. 20 / 90). München: Süddeutscher Verlag 1990, S. 33–41.   zurück
Vgl. die Abbildungen in dem unter Anm.4 zitierten Ausstellungskatalog aus dem Haus der Bayerischen Geschichte, S.36–38 und 326–327.   zurück
Karl Konrad Polheim (Anm.4), S.39.   zurück
Ekkehard Schönwiese: Passionsspiele in Tirol. »Gelöbnisspiele« als Trauerarbeit. In: Michael Henker / Eberhard Dünninger / Evamaria Brockhoff (Anm.4), S. 43–47. Zitat S. 44.   zurück
Christoph Ransmayr: Gegen das Gegröle. In: Die Presse (Wien) 14.2.2004.   zurück
Vgl. dazu Schalom Ben-Chorin: Die Polster, das Schwarzbrot und der Antisemitismus. Randbemerkungen zum Oberammergauer Passionsspiel. In: Hört (Anm.4), S. 215–218.   zurück
10 
Schalom Ben-Chorin (Anm.9), S. 215.   zurück