Michael Jaumann

Literarische Eigengeschichte, Historismus, Probleme der Autonomieästhetik

Friedrich Barbarossa in den Erinnerungsorten deutschsprachiger Literatur?




  • Tobias Bulang: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser. (Mikrokosmos 69) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2003. 349 S. 6 Abb. Kartoniert. EUR 49,80.
    ISBN: 3-631-50698-8.


Inhalt

»Verhandlungspraxis« als Leitbegriff der Interpretation | Intertextuelle Verhandlungspraktiken bei Achim von Arnim | Ästhetisierung und Politisierung bei Grabbe | Adalbert Stifters intertextueller und institutioneller Historismus | Wilhelminischer Denkmalskult und Literatur | Ausblick: Geschichtskultur, kulturelles Gedächtnis und Literaturwissenschaft





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»Verhandlungspraxis«
als Leitbegriff der Interpretation

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»Verhandlungen von Kunst und Historismus« – mit dieser Titelformulierung bezeichnet Tobias Bulang deutlich das Erkenntnisinteresse und den theoretischen Ort seiner Studie. In einem knappen Eingangskapitel (S. 11–54) greift Bulang Stephen Greenblatts Begriff der »negotiations« auf und deutet ihn für die Interpretation geschichtspoetischer Werke des frühen 19. Jahrhunderts um. Die Untersuchung richtet sich dabei auf die produktionsästhetische Problematik dieser Texte in ihren »Auseinandersetzungen mit der sich konsolidierenden germanischen Philologie, der Historiographie, der politischen Situation aber auch der Eigengeschichte ästhetischer Tradition« (S. 18). Literatur wird also in einem Spannungsfeld von »Historizität, Autonomie und Funktionszuweisung« betrachtet, explizit will die Studie zeigen, »wie der problematische Abgleich zwischen den konkurrierenden Geltungsansprüchen in die literarische Produktion hineingenommen wird« (S. 53).

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Greenblatts Theorie liefert dabei weder ein Analyseraster noch eine den weiteren Text der Studie prägende Terminologie, sondern vor allem einen grundsätzlichen Reflexionsanstoß. Bulang will beim interpretativen Rückbezug literarischer Texte auf literaturgeschichtliche, wissensgeschichtliche und politische Kontexte die Perspektiven grundsätzlich offen halten. Literatur wird somit als kulturelle »Verhandlungspraxis« verstanden.

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Der Verfasser präzisiert den zunächst metaphorischen Begriff der Literatur als Verhandlungspraxis, indem er unter stetigem Bezug auf die Forschung spezielle Problemstellungen der literarischen Ästhetik mit allgemeinen Historisierungsmodellen verknüpft:

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Ihren eigenen ›Verhandlungsrahmen‹ setzt sich die Studie durch eine elementare stoff- und themengeschichtliche Klammer: Den ausgewählten Texten ist sämtlich eine (gleichmäßig signifikante?) »Präsenz des Reichskomplexes und der Figur Friedrich Barbarossas« (S. 13) eigen.

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Alle ausgewählten Texte und ihre Darstellungsweisen des Geschichtlichen sieht Bulang bestimmt von der seit Koselleck, Lepenies und anderen bekannten Temporalisierung des Wissens seit dem späten 18. Jahrhundert (S. 23 f.). Der damit bestehende »Verzeitlichungsimperativ« (S. 41) bildet den Hintergrund für den in der Studie vertretenen Historismusbegriff: Im Anschluss an Daniel Fuldas einschlägig bekannte Studie Wissenschaft aus Kunst gebraucht der Verfasser ›Historismus‹ zum einen »im Sinne des breiten kulturellen Phänomens der Verzeitlichung, das mit der Moderne gleichursprünglich ist«, zum anderen soll der Begriff die Ausgestaltung der Verzeitlichung in diversen (Fach)diskursen meinen (S. 37). Wiederum im Anschluss an Fulda führt dies zur Betrachtung »miteinander konkurrierender und einander überlagernder Redeordnungen, zwischen denen ein reger Austausch stattfindet« (S. 41).

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Es fällt allerdings auf, dass Bulang auf eine tiefergehende Diskussion geschichtstheoretischer oder historiographischer Quellen des frühen Historismus zwischen Ranke, Droysen und Niebuhr verzichtet. Hingegen wird für den Historismusbegriff in seiner ersten Bedeutung als allgemeine Historisierung hauptsächlich und ausgerechnet auf die späte Position Ernst Troeltschs verwiesen (S. 36), die zur Verunklarung und zum Ambivalentwerden des Begriffs viel beigetragen hat; 1 Bulang wertet an gleicher Stelle Troeltschs Krisis-Begriff als unproblematischen Bestandteil einer Historismusdefinition. Die Studie bezieht ihr Verständnis des Historismus somit vor allem aus der durchdringend ausgewerteten literaturwissenschaftlichen Forschung und einschlägigen Beiträgen in Fachlexika. Eine Auseinandersetzung mit geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zur disziplinären Verfassung und ideengeschichtlichen Situierung des ›Historismus‹, zu dessen Ausprägung als methodisch geregeltem Schulzusammenhang, unterbleibt. 2

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Die Historisierung des Wissens bestimmt in Bulangs forschungsgeleiteter Sicht auch die im 19. Jahrhundert fortbestehenden Konzeptionen von Autonomieästhetik und autonomer Autorschaft (S. 35). Ästhetische Autonomie wird somit ebenfalls zur »Verhandlungspraxis« (S. 29 und öfter) im Rahmen neuer und differierender »Funktionsauflagen« (S. 33).

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Dasselbe gilt für Bulangs letzte Interpretationsgröße »Eigengeschichte«. Geprägt im Dresdner Sonderforschungsbereich Institutionalität und Geschichtlichkeit, meint dieser Begriff die Stabilisierung von Institutionen durch die Herausbildung und Verteidigung einer ihnen allein zugehörigen Geschichtlichkeit (S. 43). Im Kontext von Bulangs Studie bedeutet dies schlicht ein »Reflexivwerden von Literatur« (S. 49), das sich in deren gesteigertem wie problematisiertem Bezug zur literarischen Tradition zeigt. Bulang betrachtet seine Texte als ›Literatur auf zweiter Stufe‹ und stellt die Selbstbeobachtungen des Literatursystems ins Zentrum (S. 48). Verantwortlich für diese selbstlegitimierenden Entwürfe einer Eigengeschichte der Literatur macht er deren verschärfte Kontextbedingungen, vor allem den allgemeinen Historisierungsimperativs nach 1800 in einem »Feld konkurrierender Geschichtskonzepte« (S. 45). Als bedeutsamste Störgrößen dieser Art identifiziert Bulang die literaturhistorischen Entwürfe der sich gerade entwickelnden Germanistik (S. 42 f.).

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Methodisch gesehen läuft somit alles tatsächlich »auf eine konsequente Historisierung von Intertextualität hinaus, die auch in vorliegender Studie anvisiert wird« (S. 29). Die Spannungen und Widersprüche zwischen den gewählten Interpretationskategorien sind dabei dem Verfasser bewusst, er integriert sie in die Argumentation: Die »Konkurrenzsituation von Ästhetik und Historismus« (S. 41) will Bulang – dieser Tenor durchzieht das gesamte Methodenkapitel – als produktive verstehen.

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Intertextuelle Verhandlungspraktiken
bei Achim von Arnim

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Die eingangs beschworene Verflüssigung und Dynamisierung zentraler Interpretationskategorien wird im weiteren überraschend traditionell durchgeführt: Nach einer rein werkgeschichtlichen Gliederung werden Texte von Arnim, Grabbe und Stifter in drei Einzelkapiteln interpretiert; jedes Kapitel soll nacheinander literarisch-historistische Konkurrenzsituationen, Probleme der literarischen Eigengeschichte und schließlich die jeweiligen Inszenierungen politischer Funktionen abhandeln (vgl. die Ankündigung dieses Konzepts auf S. 53).

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Die historistische Rekontextualisierung der literarischen Texte mittels dieses triadischen Schemas gelingt dann auf ganz unterschiedliche Weise.

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Mit am interessantesten, aber auch am schwierigsten, gestaltet sich dieses Vorgehen bei Arnims komplexem Roman Die Kronenwächter (1817). Der Romananfang mit seiner Dichtung und Geschichte betitelten Einleitung entwickelt tatsächlich vielfältige und bewusst verwirrende Spannungslagen, etwa von Transzendentem und Irdischem oder Vergangenheit und Gegenwart, er bietet darüber hinaus Vermittlungen dieser Widersprüche an, die sogleich wieder problematisiert werden. Arnims Romaneinleitung betreibt damit wirklich, so lautet das recht allgemeine Fazit der Interpretation, eine »Kritik metaphysischer, literarischer bzw. politischer Großentwürfe« und relativiert die zentralen Konzepte »der Autorschaft, des Genies und der Wahrheit« (S. 82), was insgesamt auf die Historismusproblematik beziehbar sein soll. Stimmig erscheint in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Sybille-Motivik in Arnims Text, die als »Allegorisierung der Überlieferung« kritisch Distanz zu Volkspoesiekonzeptionen bei Herder und den Brüdern Grimm nehme (S. 66).

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Geht Arnims in der Forschung kontrovers gedeutete Romaneinleitung in diesen historistischen Bezügen auf?
Bulang selbst verweist auf die im Roman fortbestehende und zugleich problematisierte Bedeutung sowohl romantischer Transzendentalpoesie (S. 59) als auch religiöser Transzendenz (S. 70–75) – dass sich bei Arnim schließlich die »ubiquitäre Zeichenhaftigkeit der Welt als eine letzte mögliche Form von Kunst« (S. 82) zeigt, deutet im Ganzen eher auf eine genuin (spät)romantische Konzeption. Zwar wird im ›Weiblingen‹-Abschnitt der Romaneinleitung stellenweise die Relevanz historiographischer Paralleltexte für den Dichter thematisiert; diese intertextuellen Markierungen führen aber nicht zu einer historistischen Verstörung, sondern – wie Bulang selbst darlegt – zu gelingenden Narrativen von Raum und Zeit (S. 78–81).

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Der folgende Abschnitt »Literarischer Historismus im langen Schatten des Don Quijote« (S. 83–101) widmet sich im Rahmen literarischer Eigengeschichte zunächst der »intertextuelle[n] Überdetermination des Romans« (S. 94, Anm. 148). Den notwendigen Schwerpunkt setzt die Interpretation mit der Thematik des Sammelns von Texten, die tatsächlich sowohl im Text des Romans wie auch in dessen Entstehung dominiert. Dies bestimmt den Modus der Geschichtsdarstellung im Roman: Man könne die These aufstellen, dass die ›Kronenwächter‹ das 16. Jahrhundert »als Analogon und als Vorgeschichte« der Situation um 1800 werten und somit grundsätzlich den Historismus kommentieren, noch »ehe dieser in seiner ganzen Ausprägung bis in die Alltagskultur hinein wirklich aufgetaucht ist« (S. 84).

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Im Weiteren werden die innerliterarisch-intertextuellen Bezüge auf Tristram Shandy und Don Quijote gedeutet (S. 86–94), was auf Umwegen zum Kern der Interpretation führt: Die moderne Gattung des Romans habe ihre ganz eigene Sicht auf die Fragen des literarischen Wissens und der literarischen Überlieferung entwickelt und somit eine »poetische Konkurrenz« zu der sich gerade erst formierenden Germanistik als Wissenschaft gebildet (S. 95).

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Anschließend wird die bekannte, um Natur- und Kunstpoesie und andere Fragen geführte Kontroverse zwischen Arnim und den Grimm-Brüdern nachgezeichnet. In Anlehnung an die Forschung interpretiert Bulang diese Debatte vor dem Entwicklungshintergrund der Germanistik auf ihrem Weg von der »wilden Philologie« (so der Titel der auf S. 97 zitierten Studie von Ulrich Wyss) mit ihrer »Mischung aus Bibliotheksgelehrsamkeit und schöpferischem Enthusiasmus« (S. 96) hin zu diskursgeregelter Professionalisierung und Methodisierung. Vollzogen habe sich dies in scharfer Abgrenzung von der romantischen Konzeption des Romans als autonomem »Ort der Integration von Wissen« bzw. von Gattungen (S. 100), was sich schon in der lange gebremsten Forschung zu Arnims Text zeige: »In gewisser Hinsicht können die ›Kronenwächter‹ als der literarische Bruder der sich konsolidierenden Germanistik bezeichnet werden, ein Bruder allerdings, der enterbt wurde« (S. 101).

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Diese Formulierung besticht, ein Desiderat besteht allerdings fort: Erst eine genaue intertextuelle Analyse der auf S. 100 f. kurz gestreiften Quellen Arnims – sie umfassen ältere Chroniken, Volksbücher und auch aufklärerische Historiographien – und der Art, wie sie literarisiert werden, könnte die These von der Literatur als Wissensraum weiter erhärten.

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Die politischen Funktionalisierungen in Arnims Roman sind – und dies ist nur scheinbar paradox – gar nicht existent: Denn für Arnims Roman ist geradezu die »Inszenierung einer Unverfügbarkeit der Kunst für politische Projekte« zu konstatieren, und eben diese »Entzogenheit der Kunst« werde von Arnim »als ihr kritisches Potential inszeniert, das sich gegen alle Formen angemaßter Legitimität richtet« (S. 128). Arnims Roman debattiert also unterschiedliche Möglichkeiten politischer Sinnstiftung qua poetischem Geschichtsbezug, verwirft diese aber letztendlich, um jegliche Instrumentalisierung von Kunst zugunsten ihres überzeitlichen und grundsätzlich (ideologie)kritischen Status zu bestreiten.

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Diese Unmöglichkeit einer direkten politischen Referenz von Kunst wird zum einen in geläufiger Weise »vor dem Hintergrund der historischen Verwerfungen der Restaurationszeit« (S. 121) gesehen, zum anderen gewinnt Bulang nun in Abgrenzung von Teilen der Forschung eigenständige Perspektiven. Die Auffassung von einer nihilistischen Resignation in Arnims Geschichtsvorstellung und Politikauffassung sei zu problematisieren; stattdessen sei für Arnims Positionen zu Politik und Kunst die grundsätzliche »Transitorik eines Reflexionsprozesses« (S. 114) anzusetzen, die im Fragmentcharakter des Textes sichtbar werde (S. 114 und S.120 f.). Gestützt wird dies auf eine Interpretation des in den Roman integrierten ›Hausmärchens‹, die zu Recht dessen dichtungsallegorische Überschüsse hervorhebt, welche sich einer totalen politischen Funktionalisierung entziehen (S. 113 und 115); Arnims Ballade Staatsdichter – eine Vorstufe des Hausmärchens – liefert weitere Belege (S. 109).

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Die so entwickelte »Dialektik« von ästhetischer Autonomie und politischer Funktionsauflage begründet für Bulang den Rang des Romans als romantische Antwort auf den ästhetischen Historismus (S. 128 f.). Das poetische Eigengewicht und die Vielschichtigkeit von Arnims Roman sind damit, und übrigens auch nicht durch den Interdiskurs mit der frühen Germanistik, keineswegs ausgeschöpft. Im Grunde steht hier jegliche Interpretation vor der Frage, inwieweit die vielfältigen textuellen Schichten von Arnims Roman, die historiographische Bezüge, Mythen und Sagen unterschiedlichster Art, dominante Transzendenzreste, eine avancierte Raum-Zeit-Poetik und vieles mehr umfassen, sich nicht doch in eine originelle Gesamtkonzeption fügen, die über eine elementare Antwort auf den ›Historismus‹ hinausreicht. 3

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Ästhetisierung und Politisierung
bei Grabbe

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Das folgende Interpretationskapitel zu Christian Dietrich Grabbes Drama Kaiser Friedrich Barbarossa (1829) stützt sich auf eine für die Zwecke Bulangs eher ungünstige Forschungslage. Es geht aus von Eigentümlichkeiten auf der Mikroebene des Textes, die seit langem auf Interesse stoßen: Gemeint ist die überschießende Bildlichkeit in Grabbes Dramensprache, die in früherer Forschung letztlich hilflose, unreflektiert genieästhetische »Diagnosen der Bizarrerie und Unfähigkeit« Grabbes hervorriefen (S. 132).

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Bulangs Interpretation des Bildlichkeitsproblems setzt sich mit Jürgen Links auch an Grabbe erprobtem Theorem der Kollektivsymbolik auseinander. 4 Link versteht Literatur als Interdiskurs auch literaturferner Redeordnungen; demgegenüber beharrt Bulang in konsequenter Verteidigung seiner Konzeption einer literarischen Eigengeschichte auf der Eigenständigkeit und Wirksamkeit einer spezifischen Intertextualität von Literatur: »Im Produktionsprozeß von Autoren, die sowohl an Kollektivsymbolen als auch an der poetischen Eigengeschichte ihres Materials partizipieren, überlagern sich verschiedene diskursive Halbwertszeiten« (S. 135). Die dramatischen Bizarrerien und sicherlich auch kollektivsymbolisch bedingten Traditionsbrüche bei Grabbe bleiben doch einer »longue durée der Gattung« Tragödie verpflichtet (S. 136); wie häufig in Bulangs Studie werden Brüche und Spannungen der Texte vor allem innerliterarisch begründet, entziehen sich aufgesetzten literaturfernen Deutungsgrößen.

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Die weitere Interpretation von Grabbes Bildsprache – hier insbesondere der Wettermetaphorik – führt zu einem differenzierten, an einer Vielzahl von intertextuellen Bezügen ausgerichteten Befund. Die Bildlichkeit der dramatischen Tradition wird letztlich bestimmt von der Spannung zwischen Providenz und Kontingenz, mit Schelling und Kant wird darauf verwiesen, dass in der Bühnenmetapher selbst schließlich »Geschichte« den »defizitären Modus des Dramatischen« bildet (S. 147). Das Drama geriert sich somit als ultimatives Providenzmodell, konstruiert sich geradezu einen »ontologische[n] Vorsprung« (ebd.) – den hier relevanten Intertext bietet das kosmologisch-heilsgeschichtliche Weltmodell Shakespeares, das sogar Störungen universalisierend integrieren kann (S. 148).

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Doch vor allem Shakespeares Dramatisierungen der Macht bzw. des Machtverlustes (zum Beispiel im King Lear) legen eine korrespondierende »Entkoppelung« (S. 152) von bildlicher und providentieller Korrespondenz zumindest nahe. Grabbes intertextueller Bezug radikalisiert diese Option geradezu: Bei ihm »ist die Macht nicht mehr an eine metaphysische Ordnung gekoppelt. Sie ist autoreferentiell« (S. 153), die bei Shakespeare noch universalen Analogien können »lediglich das ontologische Pathos abschöpfen – aus Metaphysik wird Konnotat« (S. 163).

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»Grabbes historistischer Dichtermythos« (S. 170) und sein Umgang mit literarischer Eigengeschichte: Hier ist zu konstatieren, dass »Völker und poetische Texte als Produkte von Genien gleichermaßen verschaltet werden können« (S. 184). Dichtung und das politische Handeln von Geschichtsheroen – für Grabbe bekanntermaßen zentral: Napoleon – werden nahezu identisch. Bulang sieht dies bestimmt durch das eigentümliche Geschichtsverständnis Grabbes: Dessen Glaube an ein »ästhetisches Substrat der Geschichte« – bezeichnet mit vagen Chiffren wie ›Glanz‹, ›Fülle‹, ›Herrlichkeit‹ – bedarf der personalen »Träger«, mithin der »Imperatoren und Dichter« als »einander ebenbürtige Genies, die einen durch Verursachung, die anderen durch Virtualisierung der Geschichtsakte« (S. 176).

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Politisierung des Ästhetischen, Ästhetisierung der Politik also – im Grunde genommen unterläuft diese wechselseitige Kontaminierung das Konzept einer literarischen Eigengeschichte. Genau dies arbeitet Bulang heraus: Denn die intertextuellen Bezüge des Stücks haben nur eine Funktion – sie wollen quasi-genealogisch Grabbes Hohenstaufen-Zyklus in die »Apotheose der Hohenzollernherrschaft« (S. 181) münden lassen. Hier bestand aber keine reale historische Entwicklungslinie, genau dies machte die Integration des Hohenstaufen-Stoffs in literarische und andere Erinnerungskulturen für die Zeitgenossen so schwierig (S. 181). Grabbes Stück übergeht diese Problematik mit einer fast gewaltsamen Häufung typologischer Bezüge, die auch literarische Fragen betreffen. Treffend bezeichnet der Verfasser die so bei Grabbe aufgebauten (Schein)genealogien als »Gattungstranslatio« und »Mythensubstitution« (S. 181), insgesamt werde bei Grabbe »eine mythische Kontinuität behauptet, welche für die mangelnde geschichtliche Kontinuität desgleichen aufzukommen hat« (S. 182).

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Ist all dies aber ein spezifisch historistisches Verfahren? Die geläufigsten Definitionen des Historismus heben auf Epochenindividualität und den mit ihr korrespondierenden Entwicklungsgedanken ab; die vom Verfasser so treffend wie häufig gebrauchten Begriffe translatio und Genealogie kennzeichnen Grabbe eher als Vertreter ganz anderer, fast vormoderner Zeitkonzepte. Diese mischen sich mit einem nur allzu modernen, spielerisch-ekklektizistischen Zugriff auf die literarische Tradition, der literarische Eigengeschichte als Geschichte letztlich nicht ernst nimmt und sie stattdessen gezielt ästhetizistischen Politikprojekten unterwirft. Die freie Verfügbarkeit von Intertexten, Mythen, historischen Daten, die Bulang überzeugend bei Grabbe demonstriert, verweist demnach weniger auf einen allgemeinen, in diesem Sinne ›historistischen‹ Verzeitlichungsdruck, dem Grabbe unterliegen würde, sondern vielmehr auf ein fast exemplarisches, nicht-retrospektives Verständnis von Geschichte.

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Dahinter stehen sehr zeitgenössische, tagespolitische Motive, die allerdings die Rolle des Literaten schließlich aporetisch werden lassen, wie Bulang eindringlich zeigt: Grabbe entging zwar sowohl den »Mobilisierungsstereotype[n]« als auch den »Autonomiestereotype[n]« (S. 186), zwischen denen die politische Lyrik seiner Zeit schwankt; die seit 1830 wieder drängend werdende Problematik des revolutionären Terrors (S. 200) führte aber zu einer bemerkenswerten Verschiebung: Das »Phantasma dichterischer Machtausübung« (S. 201) in den Hohenstaufen-Dramen verschwindet vor allem in Grabbes Hannibal zugunsten einer »Erosion politischer Funktionsinszenierungen und -zuweisungen« und einer zunehmend intensivierten »Kritik von Macht« (S. 203).

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Adalbert Stifters intertextueller und
institutioneller Historismus

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Auch die dritte Einzelinterpretation zu Stifters Witiko (1865–67) geht von einem geläufigen Forschungsproblem aus: dem extremen Personalstil, der mit seinen parataktischen Reihungen, beständigen Wiederholungen und der Einfügung von Katalogen und Inventaren als »syntaktische Schwundform von Erzähltechniken« zu werten ist und zur radikalen »Monotonisierung des Sprachflusses« führt (S. 206). Die Ausrichtung dieser textuellen Komplikationen bei Stifter fasst Bulang mit den Begriffen »Mimesisproblem und Subjektkritik« zusammen: Der erste Begriff meint das manische Streben nach einer totalen Abbildung physischer Wirklichkeit im literarischen Text, die »ans Obsessive grenzende Mühe um ein nie wirklich einzulösendes Optimum an Abbildlichkeit« (S. 208), was zugleich für Stifters Schreiben »Räumlichkeit« als »maßgebliche Orientierungskategorie« etabliert (S. 209). Der Begriff der Subjektivität hingegen »faßt bei Stifter« schlechthin »Instanzen der Störung zusammen« (S. 215) – und dies gilt gerade auch für ästhetische Konzeptionen, wie die Interpretation im weiteren erweist.

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Die differenzierende Einbettung des literarischen Textes in eine Konkurrenzsituation von Ästhetik und Historismus, die das Hauptziel der Studie bildet, ist in dieser Interpretation bestens gelungen. Bulang grenzt sich überlegt von dekonstruktivistischen, semiotischen und luhmannistischen Interpretationen ab, die in seiner Sicht die spezifisch epochale Problematik von Stifters Radikalstil ahistorisch verkennen (S. 208–211) und orientiert sich stattdessen an Cornelia Blasbergs Begriff von »erschriebener Tradition« bei Stifter. 5 Im Ganzen gelangt Bulang so zum Befund einer »polykontextualen Motivierung von Stifters Schreibweisen«, die wesentlich von der lebensweltlichen Praxis des Autors als Naturforscher, Denkmalspfleger, Pädagoge und Maler geprägt sei (S. 212).

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Hierbei kommt es zu verblüffend konkreten Kontextualisierungen der Stifterschen Schreibpraxis, diese Rezension kann nur einige herausgreifen. Besonders in der Arbeit des Denkmalsschützers Stifter – er war bis 1865 »Conservator« in der entsprechenden »k. k. Centralkommission« (S. 220) – wird deutlich, wie sehr er »Subjektivität als Störfall der Historie identifiziert« (S. 221). Bei Stifter bestand offensichtlich ein regelrechter Authentizitätswahn, spätere Umarbeitungen, Renovierungen etc. von mittelalterlichen Altären wurden von ihm nicht als Dokumente eines Geschichtsprozesses, sondern als subjektivistische Korrumpierung der Originale verstanden. Die Aufgabe der Denkmalspflege lag für Stifter daher in der (selbstverständlich problematischen) Wiederherstellung reiner Urzustände und in der Tilgung aller späteren Zusätze. Genau dieser Wunsch nach »Purifizierung und Entstörung« (S. 223) bestimmte auch den Umgang mit den Quellen des Witiko, was Stifters extremen Stilpurismus und seine Neigung zur Einfügung von Inventaren in den literarischen Text bereits hinlänglich erklärt. Auch die Raumdominanz in Stifters Erzählverfahren, sein »Konzept einer die Geschichte determinierenden Landschaft« (S. 219), findet eine bestechend konkrete Deutung: Sie ist aus der Physischen Geographie Alexander von Humboldts, Carl Ritters und anderer abgeleitet (S. 217), wobei dieser Wissenstypus laut Bulang »im 19. Jahrhundert mit spekulativer Geschichtsphilosophie konkurriert, die Subjektphilosophie ist« (S. 218).

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Der Gewinn der Interpretation dürfte darin liegen, dass sie die Brüche und Widersprüche dieses Mimesiskonzepts eben nicht auf eine eher unklare philosophisch-konzeptuelle Ebene oder ein vorgebliches Versagen realistischer Schreibweisen bei Stifter zurückführt (dazu die Kritik an Teilen der Forschung S. 227 f.), sondern sehr konkret in intertextuellen und institutionellen Bezügen verankert. Dabei werden »kunstexterne Auflagen« für Stifters Schreiben in hohem Maße verbindlich, sie bewirken eine »kriteriale Überforderung literarischer Rede« (S. 229) durch denkmalspflegerische, historiographische, pädagogische (vergleiche S. 223–225) und andere Vorgaben. Im Schreibprozess manifestiert sich diese Störwirkung aber dann auf dem »Umweg einer revisionistischen Neuorganisation jenes Haushalts literarischer Verfahren, welche die Traditionen moderner Literatur bereithalten«. Stifters Schreiben tilgt und tabuisiert somit Verfahren der Ironie, Phantastik, auktorialen Rede, Psychologisierung etc. (S. 229). Auch Stifters Sicht der literarischen Eigengeschichte folgt also den Verfahren von »Purifizierung und Korrektur« (S. 231).

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Von besonderem Interesse ist dabei Stifters Umgang mit den historiographischen Quellen des Witiko. Den extremen Objektivierungs- und Authentizitätsansprüchen seiner spezifischen historischen Mimesis gemäß schreibt er zu Teilen aus Franz Palackys Geschichte von Böhmen (1836) regelrecht ab (S. 238). Entscheidender aber sind die Partien, in denen er die historiographischen Prätexte verändert: Denn Stifter »tilgt [...] nicht nur Momente moderner Poesie aus seinen eigenen Texten, er spürt diese noch in der historiographischen Vorlage seines Romans auf« (S. 237), um sie zu löschen. Stifters Umschriften der Geschichtsschreibung entfernen also aus ihr gerade das historiographiegeschichtlich moderne und eigentlich literaturnahe Element: Nämlich »die Instanz, die eigentlich dem Roman entstammt – den Erzähler« (S. 242).

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Zwar bleibt es fraglich, ob die Narratisierungsschübe in der Geschichte der Geschichtsschreibung seit dem späten 18. Jahrhundert ausgerechnet dem Vorbild des Romans geschuldet sind, die Kategorie des Erzählers ließe sich vielleicht durch den neutraleren Begriff der Mittelbarkeit ersetzen; dennoch legt Bulangs Interpretation überzeugend dar, wie entschieden Stifters archaisierende Denkmalskonzeption der literarischen Geschichtsdarstellung hinter die modernen Darstellungsoptionen der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft zurückfällt (eindringlich belegt wird dies durch den Vergleich von Stifters und Palackys Darstellungen der Herzogswahl auf dem Vyšehrad, S. 239–242).

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Diese Interpretation nimmt durchaus Differenzierungen vor: In »Stifters Poetologie obsessiver Faktizität kommt es mithin zur Bildung von Inseln, auf denen sich die Phantasie ansiedeln darf« (S. 250). Ein Beispiel bietet die Figur Huldriks, die als Sonderlingsgestalt zu werten ist (S. 251), damit einen Restbestand der eigentlich zu tilgenden literarischen Eigengeschichte vertritt und sogar auf »die überzeitliche Perspektive der Dichtung« schlechthin (S. 253) verweist. Trotzdem verzeichnet Bulang ein Scheitern von Stifters Konzeption und legt sich damit auf eine allerdings überlegte Wertung fest.

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Dieses Scheitern lässt sich in Bulangs Sicht zudem politisch-zeitgeschichtlich erklären: Im Roman des überzeugten Austroslawisten Stifter (S. 258) besteht eine enge »Verschaltung von Historie, Kunst und Politik« (S. 265), die vor dem Hintergrund der Gefährdungen habsburgischer Herrschaft im 19. Jahrhundert zunehmend problematisch werden musste. Barbarossas Reich galt Stifter im Rahmen seiner pädagogischen Ideale als transzendent-universale Ordnungsidee (S. 265), bildete für ihn eine Verkörperung des überzeitlich gültigen »Sittengesetzes« – die italienischen, ungarischen und tschechischen Autonomiebestrebungen in Stifters Zeit stellen dann dessen Übertretung dar (siehe S. 258 und 262). Der habsburgische Staat seiner eigenen Epoche erschien Stifter »qua translatio imperii« als natürliche Fortsetzung von Barbarossas Ideal- und Universalreich (S. 261). Damit legte er sich unter dem Druck der Ereignisse auf eine großdeutsche Lösung fest: Deren Scheitern lässt sowohl die Geschichtskonzeption als auch den ethischen Vorbildanspruch des Romans anachronistisch werden, somit ist mit »Königgrätz für Stifter die Erfahrung der Entmachtung seiner Autorschaft« (S. 266) komplett.

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Wilhelminischer Denkmalskult
und Literatur

[42] 

Die rein literarischen Interpretationen der Studie finden einen einigermaßen überraschenden, aber zugleich höchst anregenden Abschluss. Das letzte Kapitel widmet sich unter den Stichworten »Politische Theatralik und literarische Verhandlungen« (S. 271) dem 1895 eingeweihten Kaiser-Wilhelm-Denkmal auf dem Kyffhäuser.

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Der sonst oft weite Historismusbegriff der Studie wird hier äußerst konkret: Das Monument erweist sich als typischer Ausdruck des eklektizistischen Öffentlichkeits- und Dekorationshistorismus und verfolgt mit seiner überbordenden Ikonographie die höchst ambivalente Zielsetzung, den Hohenzoller und unwilligen Reichsmitgründer Wilhelm I. typologisch auf den Stauferkaiser Barbarossa zu beziehen (S. 282, vergleiche auch die Abbildungen der beiden Kaiserstatuen S. 302). Dieser explizite Anspruch der Denkmalsgestaltung kaschiert in sich problematisch die Diskrepanz zwischen den universalen Ansprüchen des staufischen Reiches und der kleindeutschen Machtpraxis der Hohenzollernmonarchie (bzw. ihres Kanzlers) im 19. Jahrhundert (gelungene Wendung Bulangs: »Dieses römisch-borussische Doppelleben«, S. 275); gerade diese paradoxe Vermischung von kleindeutscher Politik und großdeutscher Symbolik verfolgt nach Bulang offensiv das Ziel, das »Legitimitationsdefizit« (S. 277) der von Bismarck mehr oder weniger erzwungenen Reichseinigung zu verdecken. Das Denkmal lässt sich so als Versuch lesen, die Diskontinuitäten der deutschen Geschichte wie auch die innere Brüchigkeit des Bismarckreiches mit seinen unruhigen Sozialdemokraten, ethnischen Minderheiten und protestantisch-katholischen Gegensätzen stillzustellen (S. 281): Es folgt damit einem doppelten »Modus von symbolischer Versöhnung und Bannung« (S. 284), der rezeptionsästhetisch mit dem Freudschen Begriff des Fetischs zu fassen ist (S. 285–289).

[44] 

Es ist klar, worauf diese Deutung hinausläuft: Die auf dem Kyffhäuser sichtbare Theatralisierung des Politischen fußt auf einer Pervertierung vormals komplexer Geschichtsästhetiken der Literatur, es kommt zur Umkehrung des von Stephen Greenblatt beschriebenen Austausches zwischen Ästhetik und Politik (S. 290). Die Pointe eigentlich der ganzen Studie liegt nun darin, dass das ideologische Vorhaben des wilhelminischen Denkmalkults gelingt, während die Anliegen der Literatur scheitern. Das kulturelle »Archiv« der Literatur werde von der theatralischen Politik der Denkmäler »geplündert«, das Poetisierungsgebot der Romantik sei hier nur zu gut »gelernt worden« (S. 291). Der ideologische Erfolg des Kyffhäuser-Monuments zeige sich schon in seiner schichtenübergreifenden Akzeptanz, »in der integrativen Leistung für die Untertanen« (S. 292).

[45] 

Die untersuchten literarischen Texte hingegen – dies beweise schon ihr Fragmentcharakter (S. 293) – hätten bei der gewünschten »Literarisierung des Reiches versagt« (S. 294) und niemals wie die Denkmäler die Wirkungen der »Unmittelbarkeit, Volkstümlichkeit und Integration« (S. 292) erreicht. Neben dem Konflikt von Autonomiepostulat und verschiedenen politischen Funktionsauflagen (S. 296 f.) wird für Bulang hier die Kategorie der literarischen Eigengeschichte entscheidend: Alle an die Literatur gestellten moralischen, politischen, autonomieästhetischen Forderungen und der ihr eigene Wunsch nach Beschwörung historischer Authentizität beziehen sich immer schon auf Literatur selbst – »literaturexterne Auflagen werden nur dahingehend repräsentierbar, sofern sie in literaturinterne Probleme übersetzt wurden« (S. 300). »Eine konsequente Historisierung der Literatur« – so Bulang zur Intention seiner Untersuchung – »muß den der Literatur eigenen Historismus berücksichtigen« (ebd).

[46] 

Ausblick:
Geschichtskultur, kulturelles Gedächtnis
und Literaturwissenschaft

[47] 

Es bleibt zu fragen, ob dieser Begriff des ›Historismus‹ nicht mit dem der Intertextualität zusammenfällt, die schon vor dem 19. Jahrhundert eine maßgebliche Produktions- und Problemebene der Literatur bildete. Dem Vorhaben, die komplexen »Verhandlungen« zwischen Literatur und literaturfernen Praktiken kultureller Sinnbildung nachzuzeichnen, wird Bulang jedoch immer wieder gerecht. Die folgenden Schlussbemerkungen verstehen sich somit keinesfalls als Kritik an der Studie, sondern als sehr vorläufige Hinweise darauf, in welche Richtung sich deren Erkenntnisse weiterdenken ließen:

[48] 

1. Von größtem Interesse bleibt der Vergleich zwischen den Geschichtserzählungen der Literatur und den Deutungsmodellen der alltäglichen ›Geschichtskultur‹ 6 im 19. Jahrhundert, die sich über diverse mediale Träger vermittelt. Bereits Bulangs Interpretation eines Denkmals zeigt, wie prekär die Geschichtskonstruktionen und ideologischen Ansprüche der wilhelminischen Geschichtskultur sind; eine Ausweitung der Materialbasis über den Barbarossa-Stoff hinaus wird diesen Eindruck noch verstärken. Im zweiten Kaiserreich stand eine Vielzahl von historisierenden Gedächtniskonzepten in Konkurrenz miteinander, die wohl alle intermediale Verschränkungen und Spannungen mit genuin literarischen Geschichtsentwürfen aufweisen – man denke in diesem Zusammenhang nur an den Arminius-Kult, die Schiller-Verehrung, die textuelle Praxis der Gesangsvereine, historische und andere Festspiele. Dies betrifft auch diverse Geschichtsjubiläen: Das 1912 eingeweihte Völkerschlachtdenkmal in Leipzig beispielsweise verkörpert eine dem Kyffhäuser-Monument konträre, nicht-monarchische Konzeption, obwohl beide von Bruno Schmitz geplant wurden (zugleich fordert dieses Denkmal für die Befreiungskriege zu einem Vergleich mit Fontanes Vor dem Sturm geradezu auf).

[49] 

2. Bulang untersucht erklärtermaßen »avancierte Literatur« (so sein im letzten Kapitel viel verwendeter Begriff). Er gibt aber selbst Hinweise darauf, dass zum alten Reich und zu Friedrich Barbarossa »eine große Menge unterkomplexer Literatur« existiert: »Sie reicht von säbelrasselnden Gesängen aus den Befreiungskriegen bis zu Gedichten ambitionierter Gymnasiallehrer, die zum Kaisergeburtstag in der Schul-Aula deklamiert werden« (S. 54). Zukünftige Untersuchungen zur Beziehung zwischen Literatur und öffentlicher Geschichtskultur dürften sich für genau diese Trivialisierungen und Nivellierungen interessieren. Die eigentliche Erinnerungsrelevanz eines historischen Ereignisses wird unter Umständen erst in der Massenkultur sichtbar: Wie viele historische Trivialromane zu Friedrich Barbarossa gibt es eigentlich? Zeichnen sich dort Bewertungsverschiebungen des Barbarossa-Bildes ab? Und wie verhält es sich mit den entsprechenden Darstellungen des Stoffes in der populären Geschichtsschreibung bzw. dem historischen Sachbuch? Gustav Freytag zum Beispiel lehnte Traditionsbezüge auf das alte Reich aus borussisch-hohenzollerischen Gründen ab (vergleiche den Verweis bei Bulang S. 274 f.), konnte sich aber in seinen eigenen Bildern aus der deutschen Vergangenheit der Faszination der Barbarossa-Gestalt gewissermaßen nur widerwillig entziehen. 7 Zu beachten bleibt auch, dass zu avancierter Geschichtsliteratur und populärer Geschichtskultur noch die Deutungsansprüche universitärer Geschichtswissenschaft hinzutreten.

[50] 

3. Ohne auf die entsprechenden Theoreme bei Jan und Aleida Assmann und anderen irgendwo Bezug zu nehmen, liefert Bulangs Studie wesentliche Beiträge zu einer Frage, die auch die Fachkommunikation zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft betrifft: zu der des kulturellen Gedächtnisses nämlich. Die Assmann-Schule hebt geschichtsferne ›Tradition‹ als Grundform der kulturellen Erinnerung und als wesentlichen Kontinuitätszusammenhang hervor, in dem kanonische Wertinhalte der Vergangenheit verfestigt und überliefert werden. 8 Geschichtswissenschaftliche Stimmen hingegen betonen einerseits die Parteilichkeits- und Partialisierungsgefahren, die in einer historischen Erinnerungskultur liegen, verweisen aber andererseits auf eigenständige Gedächtnispotentiale der Geschichtswissenschaft. 9 In jüngster Zeit hat sich die Geschichtswissenschaft ihrerseits dem kulturellen Gedächtnis zugewandt und in umfangreichen Publikationen eine Vielzahl von Erinnerungsorten ausgemacht. 10 Liest man sie vergleichend, positioniert sich Bulangs Studie im Grunde genommen in genau diesem Diskussionsfeld: Sie gibt Hinweise darauf, wo jenseits disziplinärer Vereinseitigungen der Ort der Literaturwissenschaft bei der Erforschung des kulturellen Gedächtnisses liegen könnte und eröffnet mit den Bezügen auf Denkmalskult, Geschichtsschreibung, Denkmalspflege usw. wesentliche interdisziplinäre und intermediale Perspektiven. Zugleich bekräftigt sie erneut die komplexe Eigenständigkeit literarischer Geschichtsentwürfe – man mag diese nun historisch oder ›historistisch‹ nennen – die letztlich auch auf ein besonderes memoriales Potential der Literatur verweist.


Michael Jaumann
Schlossermauer 29
DE - 86150 Augsburg

Ins Netz gestellt am 13.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Daniel Fulda. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Stephanie Becker.

Empfohlene Zitierweise:

Michael Jaumann: Literarische Eigengeschichte, Historismus, Probleme der Autonomieästhetik. Friedrich Barbarossa in den Erinnerungsorten deutschsprachiger Literatur? (Rezension über: Tobias Bulang: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser. Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2003.)
In: IASLonline [13.05.2004]
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Anmerkungen

Vergleiche Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1992, S. 149–151.   zurück
Otto Gerhard Oexle: »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs. In: O. G. O.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 41–72 (zuerst in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1986, S. 119–155), hier S. 57–59 zur szientistisch-objektivistischen Position Troeltschs. Jörn Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993.   zurück
Vergleiche dazu die Tobias Bulang nicht mehr zugängliche Untersuchung von Fabian Lampart: Zeit und Geschichte. Die mehrfachen Anfänge des historischen Romans bei Scott, Arnim, Vigny und Manzoni. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 401) Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, hier S. 243:Das, was alle Figuren [...] zu bestimmen versuchen, ist diese Daseinsgrundlage, die einmal als ›Dichtung‹, einmal als ›Geist‹ theoretisch benannt, im Roman aber nur indirekt vermittelt werden kann. Dadurch wird aber die Geschichte bewußt als eine sekundäre Dimension gekennzeichnet, als ein Teil der Wirklichkeit, der nur indirekt auf das zentrale Sein zurückverweist. Bei Arnim sind die Ereignisse der Geschichte zwar wichtig, aber sie bleiben doch nur Phänomene, die sich an der Oberfläche der Wirklichkeit bewegen.Gerade im gattungsgeschichtlich-komparatistischen Überblick wird die ästhetische Singularität von Arnims Konzeption noch stärker deutlich, in einer an Ricœur geschulten narrationstheoretischen Sicht lassen sich die Kronenwächter überzeugend als »Phänomenologie menschlicher Zeitlichkeit« (S. 167) lesen, das Hausmärchen fungiert entsprechend als »metatextuelle Utopisierung des historischen Romans« (S. 232). Vgl. die Rezension von Hugo Aust in IASLonline: Walter Scott und seine Brüder oder: Wieviel Anfänge hatte der historische Roman?
http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/aust.html    zurück
Jürgen Link: »betrachte ... den Menschen als erste vom Dampf getriebene Maschine ...«. Grabbe und die Kollektivsymbolik seiner Zeit. In: Christian Dietrich Grabbe (1801–1836). Ein Symposium. Im Auftrag der Grabbe-Gesellschaft hg. von Werner Broer und Detlev Kopp unter Mitw. von Michael Vogt. Tübingen: Niemeyer 1987, S. 58–75.   zurück
Cornelia Blasberg: Erschriebene Tradition. Adalbert Stifter oder das Erzählen im Zeichen verlorener Geschichten. (Rombach Wissenschaft. Reihe Litterae 48) Freiburg im Breisgau: Rombach 1998.   zurück
Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft. München: dtv 1990. Zu Denkmalskultur und politischer Symbolik des Kaiserreichs ebenda, S. 224–301.   zurück
Gustav Freytag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Bd. I: Aus dem Mittelalter. Leipzig: Paul List Verlag o. J. [beigefügtes Widmungsschreiben datiert auf 1866], S. 447:

In vielem fürwahr ist er [Barbarossa] Karl dem Großen ähnlich. Eine hühnenhafte Heldengestalt war den Germanen aufgestiegen, um das Römische Reich deutscher Nation aus dem Umsturz der Völkerwanderung vorzubereiten; eine zweite erschien kurz bevor die alte Kaiseridee des Mittelalters verging. Doch Friedrich war nicht nur der stolzeste Nachfahre des großen Karl, zugleich sein dunkleres Gegenbild.   zurück
Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S. 42 f. und S. 77. Aleida Assmann: Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung. In: Kristin Platt / Mihran Dabag (Hg.): Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Opladen: Leske & Budrich 1995, S. 169–185, hier S. 182.   zurück
Wolfgang J. Mommsen: Die moralische Verantwortlichkeit des Historikers; Lucian Hölscher: Geschichte als »Erinnerungskultur«. In: Kristin Platt / Mihran Dabag (Anm. 8), S. 131–145; S. 146–168.   zurück
10 
Etienne François / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1–3. München: Beck 2001. Vgl. die Rezension von Klaus Große Kracht in IASLonline: Erinnerung à la carte.
http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/grosse2.html    zurück