Christine Stridde

Theorie einer mystischen Lesbarkeit




  • Jörg Seelhorst: Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckart und Heinrich Seuse. (Bibliotheca Germanica 46) Tübingen u.a.: Francke 2003. 410 S. Gebunden. EUR 98,00.
    ISBN: 3-7720-2037-2.


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Anliegen, Methodik und Aufbau der Studie

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Die Tübinger Dissertation von Jörg Seelhorst beschäftigt sich erneut mit den semantischen Möglichkeiten der mystischen Sprache und ihren wissenschaftlichen Beschreibungsdispositionen aus Rezeptionsperspektive. Der Autor verfolgt das ehrgeizige Ziel, »eine Theorie mystischen Sprechens zu entwickeln, die es erlaubt ein genuin ›mystisches‹ Sprechen von Formen des theologischen, spirituellen, aber auch eines poetischen Gebrauchs der Sprache zu unterscheiden« (S. 12).

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Die Ergebnisse der Arbeit sollen demnach das adäquate Instrumentarium zu dieser Differenzierung bereitstellen. Dies verweist allerdings auf einen (vorerst) harmlosen Zirkelschluß: Titel und Hergang der Arbeit verfolgen eine Untersuchung »zur Funktion mystischen Sprechens« und implizieren damit, daß die zu analysierenden Texte und jene, für die die Ergebnisse Beschreibungsanspruch behaupten wollen, bereits als ›mystisch‹ klassifiziert sein sollten. Allerdings kann sich der Autor in seiner Textauswahl auch auf einen relativ gesicherten Konsens der Forschung berufen.

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Der etwas nachlässig redigierte Band 1 gliedert sich neben einem methodischen Entwurf des literaturwissenschaftlichen Instrumentariums aus rhetorisch-historischer Perspektive in jeweils einen umfassenden Untersuchungsteil des Fließenden Lichts der Gottheit von Mechthild von Magdeburg, der Predigten Meister Eckharts und der Schriften seines Schülers Heinrich Seuse mit einer sehr kurzen Einleitung zur Überlieferung und ihrer Authentizität. Eine Zusammenfassung der jeweiligen Besonderheiten der herauspräparierten Sprachformen und ihrer Funktionen runden die Analysen jeweils zu einer Einzelstudie ab. Erst die relativ knappe Zusammenfassung stellt die Texte mittels einer tabellarischen Aufstellung der funktionalen Aspekte der Sprachformen in einen gemeinsamen literarhistorischen Horizont.

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Die Untersuchungen der einzelnen Textauszüge folgen einer »semiotisch-semantisch basierten« (S. 389) Analyse der Sprachformen mittels rhetorischer Kategorien, deren theoretische Begründung im Kapitel »Zur Funktion zentraler Formen mystischen Sprechens« zunächst erfolgt: Metapher, Dialog, Paradoxie (in der sinnvollen Unterscheidung zwischen paradoxalen Formulierungen und Kontradiktionen); hinzu treten in den Einzelanalysen weitere wie Antithetik, Hyperbolik, Tautologien sowie Iterationen und Über-Bildungen. »Da diese Sprachformen nicht allein mystischem Sprechen vorbehalten sind, [… müssen d]ie Formen stets im Zusammenhang mit ihrer Funktion betrachtet werden« (S. 33), wobei diese »als Wirkung einer Sprachform auf den Rezeptionsprozeß« (Anm. 101) verstanden sei.

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Autoreferentialität und Transformation

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Die Besonderheiten mystischen Sprechens bestimmt Seelhorst zum einen in der betonten »Autoreferentialität« des sprachlichen Mediums und zum anderen in der »Transformation« semantischer Identifikationen, die jeweils durch das Scheitern der rhetorischen Mittel hervorgerufen werde.

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In Auseinandersetzung mit Roman Jakobson meint »[d]er Begriff der Autoreferentialität […], daß Zeichenketten immer auch auf sich selbst in ihrer Machart verweisen und dadurch in ihrer Medialität erfahrbar werden« (S. 30). Gegenüber anderen Formen des Sprechens (insbesondere der poetischen) sei ›Autoreferentialität‹ deshalb ein adäquates Beschreibungsmoment des mystischen Sprechens, da dieses sich »durch eine ausgeprägte Realisierung der autoreferentiellen Funktion des Zeichenprozesses als mystisch qualifiziert« (S. 32). Seelhorst argumentiert zur Stützung seines Arguments mit einer kommunikationssoziologischen Konstante, daß »[w]ie andere Erfahrungsakte auch [] die Unio sprachlich nicht einholbar« sei (S. 22). Wie groß jedoch die Ausprägung der Unaussprechlichkeit sein muß, die zur Autoreferentialität nötigt, und wie sie gemessen werden kann, um nicht mehr poetisch, sondern mystisch zu sein, wird allerdings nicht gesagt.

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Die »Transformationsfunktion« wird im Anschluß an das ›Analogie- und Differenzmodell‹ Walter Haugs 2 entworfen. Die Gestalt des Transformationsprozesses sei davon abhängig, »ob die Transzendenz Gottes absolut gesetzt ist, oder ob sie nur als je größere Unähnlichkeit die Ähnlichkeit zwischen Gott und Geschaffenem übersteigt« (S. 36). Analogisch erweise sich die Transformation »als Unterbrechung des Verstehensporesses [sic!]« (S. 39), differenzgeleitet als »Aufhebung semantischer Anschlußfähigkeit« (S. 44), so daß die Inhaltsfunktion hinter der Autoreferentialität des Mediums zu verschwinden drohe.

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Mechthild von Magdeburg: Analogie und Differenz

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Gegenüber den Analysen zu Eckhart und Seuse nimmt die Mechthild-Exegese sehr viel weniger Raum ein (S. 83–149). Den Prozeß von Autoreferentialität und Transformation verfolgt Seelhorst in ausgewählten Abschnitten des Fließenden Lichts vor allem in der Genese von Metaphorik und Dialog.

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Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, daß die ausgeprägte Minnemetaphorik innerhalb wesentlich traditionellen Bildmaterials eine »Direktheit, die weit über die Formulierungen des Hohenliedes hinausreicht« (S. 88), besitzt. Seelhorst fragt weiter, ob Mechthild »die Möglichkeit einer geistlichen Deutung bewußt aufs Spiel setzt, um so an die grundlegende Differenz zwischen Bild- und Deutungsebene zu erinnern« (S. 92). Zu einer derartigen Funktionsbestimmung des mystischen Sprechens werden im Vergleich Predigtausschnitte Bernhards von Clairvaux herangezogen. Während dieser die körperlich-sinnliche Metaphorik allegoretisch umdeutet und hinter der spirituellen Sinnlichkeit zurückläßt, bewirke Mechthilds Experimentieren mit dem Hohenlied hingegen, »daß der Rezipient die Merkmale der körperlichen Vereinigung innerhalb seiner Realisierung der Bedeutungsstruktur von Gotteserfahrung so weit wie möglich akzentuiert« (S. 93).

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Dem Ausleben dieser Akzentuierung über das Sprachliche hinaus widerspricht allerdings die Unaufhebbarkeit der Transzendenz, welche »so ein Moment der Differenz in den metaphorischen Signifikationsprozeß« (S. 93) setzt: Die Asymmetrie der Metaphorik gegenüber dem transzendenten Gegenstand ermögliche erst, daß sie als Metaphorik wahrnehmbar bleibt, und gleichzeitig biete sie die Option, ihre Geltung durch »Überreizung« zurückzunehmen, um »so die Defizienz des Mediums« (S. 104) zu demonstrieren: Autoreferentialität.

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Der häufige Sprechartenwechsel zwischen Sentenz, Reflexion, Narration, Gebet / Bekenntnis und Dialog, exemplarisch vorgeführt an Kap. I.2 des Fließenden Lichts, fordere dem Rezipienten eine »sprunghafte[] Modifikation seiner Rezeptionshaltung« (S. 118) ab, wodurch »ihr medialer Charakter […] in den Vordergrund tritt« (S. 119). Insbesondere die von Mechthild häufig verwendete Form des personalen Dialogs vermittle dem Rezipienten »den Eindruck unmittelbarer Präsenz« (S. 120), wobei jedoch »das Bewußtsein der Lektüresituation […] die Differenz zwischen Text und Rezipient aufrecht« (ebd.) hält und »[e]ine wirkliche Vermittlung – im Sinne einer Integration des Lesers in das Dialoggeschehen – […] letztendlich an der Grenze der Textualität scheitern« (ebd.) muß.

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Nicht nur hier vernachlässigt Seelhorst bei seinen Überlegungen jenes Sprachmaterial, welches Bedeutung nicht semantisch, sondern pragmatisch generiert, wie zum Beispiel die personale Deixis des Dialogs. Interessant wäre zudem in diesem Zusammenhang eine Erprobung der rezeptiven Wirkung in einer Vortragssituation, die für das Fließende Licht ja nicht ausgeschlossen werden kann.

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Neben Metaphorik und Dialog tritt die Paradoxie in Mechthilds Text zwar stark zurück, aber gerade sie »zerstör[t] gewohnte Sichtweisen und nötige[] [den Leser] so zur Einnahme einer innerweltliche Maßstäbe umkehrenden, geistlichen Perspektive«. Die Autoreferentialität der Sprache vollziehe »sich in der paradoxalen Unterbrechung des semantischen Identifikationsprozesses« (S. 139): Transformation.

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Meister Eckhart: Differenz und Identität

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Die detaillierte Eckhart-Exegese, die Seelhorst bemerkenswert intensiv erarbeitet, ist weit umfangreicher (S. 150–269): Das überlieferte Sprachmaterial wird auf die Funktion vielfältiger rhetorischer Kategorien untersucht. Eine Darstellung der Ergebnisse und ihrer Probleme soll deshalb durch wenige Beispiele zur Tautologie und Paradoxie exemplarisch vorgeführt werden.

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Im Kapitel zu »Tautologien und Iterationen« arbeitet sich Seelhorst an der wohl populärsten theologischen Grundaporie ab: der Identität Christi mit dem Wort des Vaters gemäß dem Johannesprolog. Nach dem Muster von »ganz und gar« oder »einzig und allein« einer »bloße[n] Inhaltsdoppelung« bzw. Synonymie (S. 173) analysiert Seelhorst einen Abschnitt der 49. Predigt:

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[…] der vater von hîmelrîche, der gibet dir sîn êwic wort, und in dem selben worte gibet er dir sîn leben und sîn selbes wesen und sîne gotheit alzemale […]. 3
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Die »semantische Differenz« (S. 174) von »êwic wort, leben« und »wesen« würde durch die Konvention des christlichen Sprachgebrauchs überbrückt und »begründet den synonymen Charakter der Termini und damit den tautologischen Charakter der Aussage« (S. 175). Diese semantische Stillstellung, so Seelhorst, »lenkt die Aufmerksamkeit des Rezipienten wieder auf das Medium selbst« und läßt seine Grenze erfahrbar werden (S. 177). Zu bedenken wäre allerdings, ob das rein sprachliche Phänomen Synonymie bzw. Tautologie als Beschreibungskategorie mit den unterstellten autoreferentiellen und transformierenden Konsequenzen nicht die – zumindest außersprachlich gedachte – Seinsidentität zwischen verbum, Christus und Wesen Gottes verschleiert und so die »semantische Leere« (S. 173) mit Irritationspotential für die Rezeption nicht allein der Methodik der Studie geschuldet ist.

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Während sich bei »paradoxalen Formulierungen« die »einander widersprechenden Aussagenteile zu unterschiedlichen Perspektiven oder Sinnhorizonten« (S. 178) im transformierenden Prozeß der »radikale[n] Umwertung irdischer Maßstäbe« (S. 188) auflösen lassen, ist diese Auflösung bei »Kontradiktionen« nicht möglich. An ihnen sei deshalb die autoreferentielle Funktion mystischen Sprechens deutlich abzulesen, denn »[d]ie Vereitelung semantischer Anschlußoperation nötigt den Rezipienten die Medialität der Sprache wahrzunehmen und destruiert die involvierten Begriffe« (ebd.): »Der dritte wec heizet wec und ist doch heime«. 4 Der »materiale Widerspruch« unterbricht den Rezeptionsprozeß und wird in »einen formalen Widerspruch transformier[t]: Weg = Zuhause => begriffliche Implikation: auf-dem-Weg-sein = nicht-Zuhause-sein => formaler Widerspruch: nicht-Zuhause-sein = Zuhause-sein« (S. 191).

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Da denkt man doch allzu schnell an normalsprachliche Wendungen, wie »der Weg ist das Ziel«, aber die besonders exzessive Verwendung solcher kontradiktorischer Aussagen Eckharts ist ganz seiner Theologie verpflichtet: Eckharts Denken von der radikalen Differenz zwischen Gott und Kreatur steht außerhalb des Analogiemodells und läßt eine dynamische Annäherung an den Schöpfer, wie sie Seelhorst in Mechthilds Fließendem Licht nachweist, nicht zu.

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Deshalb muß sich »der Mensch außerhalb der Unio oder in ihr« (S. 143) positionieren. Daraus ließen sich – so Seelhorst – Schlüsse für den Rezeptionsprozeß ziehen. Während »sich die Mehrzahl der Menschen in alltägliche Denk- und Sprachmuster zurückzieht«, hält die ideale Rezeptionshaltung eine Erfahrung der Identität bereit: »In der Unio erfährt die Seele in der entgrenzenden Freisetzung der Zeichen die schlechthin undifferenzierte Identität der Gottheit« (S. 243). »Sprechen aus der Unio« (Kap. E.1.3) und Hören in der Unio – derart, daß die in den Analysen erarbeitete »Selbstaufhebung mystischen Sprechens« (S. 231) den »Weg zum Schweigen« (S. 234) aufzeigt.

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Heinrich Seuse: Bilder mit Bildern austreiben

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Die sprachliche Analyse von Seuses Werk (S. 270–384) besticht durch ihre Stringenz, welche entlang der ›via triplex‹ und der von Seuse zugeordneten spezifischen Sprachstufen von Seelhorst geführt wird. Nach der systematischen Dreistufigkeit von »anvahendes lebene – bildgebende wise / zuonemender mensch – glichnusgebende wise / selig volkomen leben – guot underscheid« 5 weist der Verfasser eine schrittweise Transformation der Metaphorik nach, für die er die Begriffe »Bildlichkeit«, »Entbildung« und »Gebildung« prägt. Die Argumentation erfolgt im wesentlichen in drei Schritten anhand dreier Bildfelder: Rittertum, Pflanzenwelt, Minne. Als exemplarisch kann hier Seehorsts Analyse zum Wald-Motiv gelten:

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1. Identifikation des Bildfeldes und Festlegung des »semantischen Feldes«

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2. Bestimmung des Bedeutungsspektrums der Metapher für den geistlichen Kontext

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3. Beurteilung des Verhältnisses zwischen »weltlicher Semantik« (S. 293) und mystischem Sprechen hinsichtlich Transformation und Autoreferentialität

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Hier argumentiert Seelhorst wie folgt: Zunächst nimmt Seuse die Implikationen von »Schutzlosigkeit und Fremdheit, des Ausgesetztseins« (S. 293) im Rahmen des festgelegten semantischen Feldes in einer »positiv-vermittelnden Funktion« auf (Bildlichkeit), um sie schon bald über die »Differenz der semantischen Merkmalsstrukturen von metaphorischem Zeichen und Bezeichnetem« (S. 294) zu unterlaufen (Entbildung) und schließlich gänzlich in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Konzentration Seuses auf die Compassio als einziger Weg zur Unio läßt den Wald als metaphorischen »Ort der Gottesferne und des Leidens« gleichzeitig zum Ort des Heils werden. Die »Metapher durchbricht eine ausschließlich weltliche Semantik und transformiert sie in ihr Gegenteil: Heil liegt im Leiden« (S. 293). Diese von Seelhorst so genannte Gebildung sprenge eindeutig zugunsten mystischen Sprechens das klar umrissene semantische Feld des Waldes, und »gewohnte metaphorisch-semantische Identifikationen werden ad absurdum geführt« (S. 294).

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Schon in der metaphorischen Deutung des Rittertums werden wichtige Analogien zum Artusroman anzitiert, auf die bereits Julius Schwietering aufmerksam gemacht hat, und auch hier verweist Seelhorst darauf, daß Erec im Wald Räuber und Riesen begegnet (S. 293). Es wäre durchaus zu überlegen, ob aber nicht auch Erec ähnlich compassional sein Heil gerade und einzig über den Weg durch den Wald findet – der in der Sprache Hartmanns zum locus amoenus wird (V. 7070–7109) –, auch wenn sein Ziel in der (literarischen) Welt liegt. Das m.E. viel zu eng umrissene semantische Feld – als ohnehin problematische Abstraktion –, in welchem Seelhorst seine Argumentationen führt, scheint wie bei Seuse aufgebrochen. 6 Die metaphorische Gegenüberstellung mit dem Artusroman stellt im übrigen den einzigen konkreten Vergleich zu Texten dar, von denen sich die Ergebnisse der Studie Abgrenzung erhoffen. Eine kontrastive Erprobung der »Formen mystischen Sprechens« wäre darüber hinaus öfter wünschenswert gewesen.

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Zu ähnlichen Befunden wie bei der Metaphorik gelangt Seelhorst bei der Betrachtung der Hyperbolik in Seuses Schriften: »[I]hr kommt sowohl vermittelnde als auch transzendierende Funktion zu, Ausdruck des Ineinander von Ähnlichkeit und Differenz« (S. 332). Der »einfache hyperbolische Vergleich« dient Seuse, wie bei der Gegenüberstellung von Tropfen vs. Meer 7 oder einvalteklich vs. tusentvalt 8 dazu, »eine Annäherung an das Göttliche zu bewirken« (S. 333), was bei Eckhart noch unmöglich schien. Wie sein Lehrer kennt Seuse jedoch auch die »negativ-hyperbolischen Vergleiche«, die durch den »Hinweis auf eine qualitative Differenz, [] die Möglichkeit einer quantitativen Annäherung zunichte mach[en]« (S. 337). Sie »betonen [nicht nur] stets das Differenzmoment der Relation Gott – Geschöpf« (ebd.), sondern auch die Autoreferentialität der Sprache, welche diese als mystisch qualifiziere.

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Ansätze einer Literaturgeschichte?

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Die Summe der Arbeit stellt Seelhorst schließlich in tabellarischer Form zusammen, wodurch noch einmal die wichtigsten rhetorischen Mittel Mechthilds, Eckharts und Seuses einem vergleichenden Blick ausgesetzt werden, um »Grundlinien einer Geschichte der mittelalterlichen Mystik« (S. 386) nachzeichnen zu können. Die Aufstellung mache im Rückgriff auf das Haugsche ›Differenz- und Analogiemodell‹ anschaulich, daß die Begine versuche, »die Gottesbeziehung Sprache werden zu lassen« (S. 386) und »der traditionellen Lehrauffassung: Ähnlichkeit bei je größerer Unähnlichkeit« (S. 387) folge, während Eckhart »sprachliche Formen, die einen Ansatz von Vermittlung intendieren«, scheuen würde, um »die Autoreferentialität der Sprache in größtmöglichem Maße hervor[treten]« (S. 388) zu lassen.

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Seuse hingegen nehme zwischen diesen beiden eine sowohl formal als auch inhaltlich mittlere Position ein. Einerseits ließe er zwar eine »Vermittlung der Gotteserfahrung« zu, ohne aber wie Mechthild »die Vereinigung der Seele mit Gott« (S. 389) zu erzielen. Andererseits betone er wie Eckhart die Differenz, relativiere sie aber allein schon durch die Einbindung in sein compassionales Stufenmodell der Annäherung. Während Eckhart verstärkt seine »Rezipienten jeglicher Prädikationsmöglichkeit beraubt« (S. 388), wäre Seuse mehr an einer positiven Vermittlung und Transformation auf die Compassio hin gelegen.

[36] 

Obwohl Seelhorst »Mystik« und »mystische Erfahrungen« nicht voneinander absetzt, zielt er dennoch, indem er »mystisches Sprechen« für das Sprechen über Erfahrung, als Spekulation oder Reflexion gleichermaßen konzediert, auf einen »Ansatz einer Literargeschichte der mittelalterlichen Mystik« (S. 389). Das ist zwar insofern konsequent, als daß er für Meister Eckhart ein »Sprechen aus der Unio« (S. 235–241) sowohl aus Autor- wie auch auf Rezipientenebene postuliert, 9 aber die so aufscheinende Historisierbarkeit von Erfahrungen ist wohl doch nur dem oft unterminologischen Sprachgebrauch des Verfassers geschuldet.

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Auch eine meines Erachtens notwendige Positionierung der Studie innerhalb der Diskussion um die ›Literarizität‹ mystischer Texte fehlt – der Begriff erfährt trotz Anwendung keinerlei Reflexion. Dies gilt im selben Maße für eine Auseinandersetzung mit der Kategorie der ›Fiktionalität‹, gerade weil Autoreferentialität als das wichtigste Kriterium für das Mystische behauptet wird.

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Fazit

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Die begrifflichen Inkonsistenzen sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich bei Seelhorsts Arbeit um einen wichtigen Beitrag zur (text)linguistischen Erschließung von Werken handelt, mit deren Sprachform und nicht zuletzt deren Verständnis man sich immer noch schwertut. Die Methode, die man eine ›Rezeptionsmystik‹ nennen könnte, zielt zwar auf eine abstrakte, idealisierte – und hochgradig irritable – Rezeptionshaltung, die Generalisierung und dauerhafte Stabilität erforderlich macht, und insofern muß die Studie blind bleiben gegenüber Deutungsalternativen. 10

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Aber sie spannt dennoch durch minutiöse Einzelanalysen und elaborierte theologische Reflexionen einen Deutungshorizont, der es durchaus wert ist, daß man über ihn hinausschaut. Die methodischen Probleme für die moderne Literaturwissenschaft ergeben sich unter anderem aus dem einseitigen Interesse an ›Einzelwortschicksalen‹ im Sinne der traditionellen Semantik, 11 welche die pragmatische Dimension der Sprache vollkommen ausblendet. Wer also – und hier sei an den eingangs erwähnten ›harmlosen‹ Zirkelschluß erinnert – nach stabilem Handwerkszeug fragt, das künftig zur Abgrenzung mystischer Texte von anderen dienen soll, kann diese Studie allenfalls als Ausgangspunkt nutzen. Doch die profunden Textbeobachtungen vor allem zum Werk Eckharts und Seuses sind eine Bereicherung für die Mystikforschung, welcher Couleur auch immer.


Dr. Christine Stridde
Universität Zürich
Deutsches Seminar
Schönberggasse 9 / SOD 208
CH - 8001 Zürich

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Ins Netz gestellt am 30.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Otto Neudeck. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Christine Stridde: Theorie einer mystischen Lesbarkeit. (Rezension über: Jörg Seelhorst: Autoreferentialität und Transformation. Zur Funktion mystischen Sprechens bei Mechthild von Magdeburg, Meister Eckart und Heinrich Seuse. Tübingen u.a.: Francke 2003.)
In: IASLonline [30.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=698>
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Anmerkungen

Z.B. fehlerhafte Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis, zahlreiche Tip- und Rechtschreibfehler, fehlende Einzüge, Ununterschiedenheit zwischen Binde- und Gedankenstrichen, unbeabsichtigte Trennungen im Wortinneren etc.   zurück
Walter Haug: Zur Grundlegung einer Theorie des mystischen Sprechens. In: Kurt Ruh (Hg.): Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände VII) Stuttgart / Weimar: Metzler 1986, S. 494–508.    zurück
Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Hg. im Auftrag der deutschen Forschungsgemeinschaft. Stuttgart: Kohlhammer 1968–1994. Die deutschen Werke. Bd. 2: Predigten. Hg. und übers. von Josef Quint, S. 436,7–10.   zurück
Meister Eckhart (Anm. 3), Bd. 3, S. 486,10.   zurück
Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907. Neudruck Frankfurt / Main: Minerva 1961, Prolog, S. 3,2–18.   zurück
Vgl. ebd., S. 434,12–435,1.   zurück
Ebd., S. 229,5–8.   zurück
Ebd., S. 376,15–18.   zurück
»Die in der Unio stehende Seele hingegen erfährt […] die Wahrhaftigkeit eines entgrenzten Redens aus dem unterschiedslos Einssein Gottes jenseits menschlich-kategorialer Beschränkungen« (S. 243).   zurück
10 
Das machen Sätze wie »Der Perspektivenwechsel insinuiert zunächst, dass das berichtende Ich die fremde Seele in ihrem Aufstieg begleitet, was natürlich nicht gemeint ist« (S. 133) deutlich.   zurück
11 
Vgl. Gerd Fritz: Historische Semantik. Stuttgart / Weimar: Metzler 1998.   zurück