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Die (Wieder-)Entdeckung eines hochmittelalterlichen Skriptoriums

St. Pankratius in Hamersleben

  • Aliza Cohen-Mushlin: Scriptoria in Medieval Saxony. St. Pancras in Hamersleben. Wiesbaden: Harrassowitz 2004. 252 S. 161 Abb. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-447-04622-8.
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Stift und Skriptorium
in Hamersleben

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Die israelische Kunsthistorikerin Aliza Cohen-Mushlin hat in den beiden vergangenen Jahrzehnten unsere Kenntnis deutscher Skriptorien des hohen Mittelalters, ihrer Handschriften und ihrer Buchmalerei erheblich erweitert. 1 Ihr drittes Buch zum Thema widmet sich dem schlecht erforschten sächsischen Regularkanonikerstift St. Pankratius in Hamersleben in der Diözese Halberstadt. In der Vorbemerkung (S. 11–13) erläutert die Autorin ihr Erkenntnisinteresse: Es geht zum einen darum, die Existenz eines Skriptoriums in Hamersleben nachzuweisen, zum anderen soll Material für die Charakterisierung des sächsischen Regionalstils in der Buchmalerei und Schreibtätigkeit des 12. Jahrhunderts gesammelt werden.

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Kapitel I (S. 15–21) bietet einen Abriß der Hamerslebener Geschichte vor allem des 12. und des 15. Jahrhunderts. In beiden Zeiträumen war das Stift ein bedeutendes monastisches Reformzentrum: in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts innerhalb der Unionsbemühungen der Regularkanoniker in den mitteldeutschen Diözesen, im 15. Jahrhundert als Motor der Reformbemühungen der Windesheimer Kongregation; der letztgenannte Aspekt wird allerdings nicht weiter thematisiert. Der Austausch von Büchern gilt der Autorin für das 12. Jahrhundert als Indiz der ansonsten nur schwer belegbaren Kontakte der Konvente untereinander. Wichtig ist der Nachweis, daß Hamersleben nicht nur innerhalb des eigenen Ordens eine bedeutende Rolle spielte, sondern auch bei der spirituellen Betreuung von Benediktinerinnenklöstern in umliegenden Diözesen.

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Sechs Handschriften und sieben Urkunden aus dem Hamerslebener Skriptorium des 12. Jahrhunderts sind erhalten, weitere Urkunden indirekt bezeugt. Ein Bibliothekskatalog vom Anfang des 13. Jahrhunderts dokumentiert einen Bestand von 93 Titeln. Im Anhang sind eine Abbildung der Bücherliste, die Transkription und Identifizierungshinweise beigegeben (S. 217–225; beruhend auf Vorarbeiten von Wolfgang Milde).

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Das Hauptwerk –
nur teilweise behandelt

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In Kapitel II (S. 22–40) behandelt Cohen-Mushlin das Hauptwerk des Skriptoriums, die um 1170–1175 entstandene Riesenbibel, von welcher der erste Band im Domschatz zu Halberstadt (Inv. Nr. 472 [I]) erhalten ist. Der zweite Band ist indes nicht, wie die Autorin annahm, zwischen 1878 und 1936 verlorengegangen, sondern wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in die UdSSR verbracht, 1998 mit einer Reihe anderer Handschriften aus Rußland nach Halberstadt zurückgegeben und befindet sich unter der Signatur M 2 im Historischen Stadtarchiv Halberstadt. Frau Cohen-Mushlin, die leider nicht mehr rechtzeitig auf den zweiten Band aufmerksam und offenbar auch von niemandem darauf hingewiesen wurde, bereitet derzeit eine ergänzende Studie vor. 2

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Die Bibel wurde laut Cohen-Mushlins paläographischer Untersuchung von zwei Schreibern A und B angefertigt. Zwar steuerte A den Hauptteil (Bl. 1–247) bei, jedoch wird B als ›Mastermind‹ hinter Konzeption und Ausführung identifiziert. Er schrieb nicht nur Bl. 248–281, sondern korrigierte auch die von A verfertigte Partie und fügte stellenweise Kapitelanfänge in Auszeichnungsschrift hinzu. Es gelingt der Autorin, das Verfahren der Händescheidung nicht nur als rein formale Methode anzuwenden, sondern die Zusammenarbeit von A und B aufgrund textlicher und kodikologischer Besonderheiten differenziert darzustellen. Durch die Untersuchung der Eingriffe von B in den A-Text gelangt sie zum Beispiel zu der plausiblen Vermutung, daß A bestrebt war, den Bibeltext über das wörtliche Kopieren seiner Vorlage hinaus exegetisch anzureichern, während B vor allem die Herstellung einer exakten Abschrift im Auge hatte. Außerdem kommt sie zu dem Schluß, daß B auch der Künstler war, der die Initialen sowie das Titelbild verantwortete. Die Stilanalyse verdeutlicht, daß B dank eines begrenzten Motiv- und Formenrepertoires und eines konsequent eingehaltenen, eher zeichnerisch als malerisch zu nennenden Stils individuell und daher wiedererkennbar arbeitet. Die paläographischen und kunsthistorischen Befunde ermöglichen es, Hand B auch in weiteren Hamerslebener Handschriften nachzuweisen.

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Bei allen sonstigen Bemühungen um Präzision bleibt ein auffälliger Sachverhalt unerklärt. Das in Abbildung 3 dokumentierte Nebeneinander von A und B auf Bl. 136v-137r (Handwechsel 136vb Zeile 8 / 9) wird weder in diesem Kapitel noch in der Katalogbeschreibung (S. 186–192) untersucht oder – abgesehen von einer beiläufigen Bemerkung S. 23 – auch nur erwähnt. Dabei verdeutlicht die Stelle augenfällig die schon in Tintenfarbe und Buchstabengröße unverkennbaren Unterschiede der Schreiberhände.

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Die weitere Überlieferung

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In Kapitel III (S. 41–110) diskutiert Cohen-Mushlin die weiteren erhaltenen Dokumente aus Hamersleben. Das sind zunächst zwei auf 1140 beziehungsweise 1147 datierte Urkunden, die sie Schreiber A zuweist, sowie Urkunden aus den Jahren 1174–1181, die wohl von Schreiber B stammen. Anschließend werden ein mit der Bibel stilistisch und paläographisch eng verwandter Psalter in Wolfenbüttel (Cod. Guelf. 1075 Helmst.) sowie ein Evangeliar untersucht, dessen Teile heute in London und New York aufbewahrt werden. Aufmerksamkeit verdient sodann ein seit dem Zweiten Weltkrieg als verschollen geltendes, von der Autorin in Moskau wiederentdecktes Evangeliar (ehem. Dresden, Sächsische Landesbibliothek, Mscr. A 94), das ausführlich beschrieben und abgebildet wird (S. 74–95). Dazu kommen ein nicht illustrierter Vergil-Codex in Pommersfelden, der vor allem wegen seiner detailliert rekonstruierten Besitzgeschichte (unter anderem Büchersammlung von Amplonius Ratinck in Erfurt) interessant ist, sowie eine rhetorische Sammelhandschrift im Kestner-Museum Hannover. Da die sechs Codices laut Cohen-Mushlin zwischen etwa 1170 und 1185 entstanden sind, kann man an der Hamerslebener Überlieferung eine eng umrissene Produktionsphase des klösterlichen Skriptoriums genau beobachten.

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Zu hinterfragen sind allerdings die Analyse der frühen Urkunden und die daraus gezogenen Schlüsse. Die Dokumente werden zwar einer paläographischen, aber nicht einer inhaltlich-diplomatischen Untersuchung unterzogen, was wünschenswert gewesen wäre, zum Beispiel im Hinblick auf Formularvarianten (abweichende Inscriptio 1140 / 1147). Erstaunlich erscheint vor allem der große zeitliche Abstand zwischen den vermeintlich von A geschriebenen Urkunden und der Datierung der Bibel. Die an den Abbildungen 34–36 (S. 42 f.) deutlich werdende Verwandtschaft der Buchstabenformen der unterschiedlichen Überlieferungsträger veranlaßt Cohen-Mushlin zu der Bemerkung: »it is remarkable that Scribe A’s hand has remained so little changed« (S. 41). Erwiese sich die Zuweisung der beiden Urkunden und der etwa drei Jahrzehnte später entstandenen Bibel an denselben Schreiber als richtig, so bestünde Anlaß, sich Gedanken über die Zuverlässigkeit paläographisch begründeter Datierungen im allgemeinen zu machen. Wenn Kopisten nämlich ›um 1140‹ genauso geschrieben hätten wie ›um 1170‹, dann könnten Handschriften ohne weitere Datierungsindizien kaum genauer als etwa auf das halbe Jahrhundert oder vergleichbar grobe Zeiträume datiert werden.

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Allerdings sind Zweifel an der Korrektheit der hier vorgelegten paläographischen Analyse anzumelden. Auch wenn die Schreiber der Urkunden und der Bibel aus demselben Skriptorium stammen dürften und es dann nicht erstaunen kann, daß sie einen gemeinsamen Stil aufweisen (wodurch zugleich Cohen-Mushlins eingangs formulierte Arbeitshypothese verifiziert sein dürfte, daß in Hamersleben ein Skriptorium existierte), so sind doch Unterschiede in einzelnen Buchstabenformen zu erkennen, etwa bei der Verwendung beziehungsweise Nicht-Verwendung des unzialen d in der Bibel (Abb. 36) und im Dokument von 1140 (Abb. 34), in den st- und ct-Ligaturen und den diplomatischen Kürzungszeichen, etwa in dem Wort ecclesia. Insbesondere die Urkunde von 1147 (Abb. 35) zeigt einen völlig anderen Schriftduktus und andere Proportionen als die Bibel. Daher kann die Identität der Schreiber im Gegensatz zu Cohen-Mushlins mit großer Gewißheit vorgetragenen Ausführungen meines Erachtens nicht als gesichert gelten. Diese und andere aus der paläographischen Analyse gezogenen Schlußfolgerungen werden mithin kritisch zu überprüfen sein. 3

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Ikonographische Traditionen
und Innovationen

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Ikonographische Traditionen und Innovationen der Hamerslebener Manuskripte sind Gegenstand des nächsten Abschnitts (S. 111–146). Die Autorin verfügt über gute Kenntnisse der europäischen Handschriftenillustration des 12. Jahrhunderts und scheut sich nicht, diese auch detailliert auszubreiten, so daß der verzweigten Beweisführung stellenweise nur schwer zu folgen ist. Die Quintessenz lautet: Die Illustrationen von Hand B wurzeln im sächsischen Regionalstil und in den ikonographischen Konventionen der Zeit, lassen gelegentlich aber auch innovative Züge erkennen, etwa in den ganzseitigen Autorenbildern der Evangelisten Lukas und Johannes im Moskauer Evangeliar (Abb. 72, 74).

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Das monastische Netz

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In Kapitel V (S. 147–181) werden schließlich die Beziehungen zu anderen sächsischen Skriptorien vor allem in den Diözesen Hildesheim und Halberstadt besprochen. Zum ›monastischen Netz‹ von Hamersleben gehörten demnach die Konvente von St. Michael in Hildesheim, Helmarshausen, Lamspringe, St. Marien in Halberstadt, Huysburg und Heiningen. Besonders das Skriptorium des Benediktinerinnenklosters Lamspringe scheint von Hamersleben beeinflußt worden zu sein. Die Hamerslebener Illustrationen ihrerseits lassen sich, wie bereits in Kapitel IV angedeutet, neben weitaus bekanntere sächsische Beispiele etwa aus Hildesheim und Helmarshausen stellen und teilweise von ihnen ableiten. Der Abschnitt leistet einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der sächsisch-niedersächsischen Schreib- und Buchkunst im 12. Jahrhundert und auch zur Frage nach der klösterlichen Kommunikation durch Bücher- und Ideenaustausch im allgemeinen.

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Materialien

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Nach einem kurzen Epilog (S. 183) folgt der ausführliche Katalog der sechs im Textteil besprochenen Handschriften; die Urkunden sind nicht aufgenommen (S. 186–215). Die Codices werden nach folgendem Schema beschrieben: Inhalt, Kodikologie, Einband, Besitzgeschichte, Schreiber- und Korrekturhände, Rubrizierung, Ausstattung; für die Moskauer Handschrift ist auch ein Restaurierungsbericht enthalten. Es folgt der bereits erwähnte Abdruck des Bibliothekskatalogs aus dem 13. Jahrhundert. Abbildungsverzeichnis, Bibliographie und Index beschließen den Band.

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Fazit

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Der großformatige, reich ausgestattete und sorgfältig redigierte Band bietet viel Material und eine Reihe gut begründeter Ergebnisse und ist von daher als wichtiger Beitrag zur Erforschung der sächsischen Handschriftenproduktion des 12. Jahrhunderts zu bewerten. Das Hamerslebener Skriptorium wird bei künftigen Studien zu diesem Thema stets zu berücksichtigen sein. Es ist allerdings bedauerlich, daß der zweite Band der Bibel nicht berücksichtigt wurde. Das Buch ist von seiner Materialbasis her somit unvollständig und muß durch die zu erwartende Nachtragsstudie ergänzt werden. Zudem bedürfen die paläographischen Thesen der Nachprüfung; von kunsthistorischer Seite müßte man wohl auch die gelegentlich stark genetisch-immanente Sichtweise buchmalerischer Entwicklungen diskutieren.

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Ein Wort noch zum Titel. Anders als von diesem suggeriert, werden weder mehrere »Scriptoria« abgehandelt noch deckt die Untersuchung das gesamte sächsische Gebiet im Mittelalter ab: Besprochen wird ein zeitlich eng begrenzter Ausschnitt aus der Produktion eines einzigen Skriptoriums, das seine Wirkung vor allem in einem bestimmten Teil Sachsens entfaltete. Zwar ist verständlich, daß Autoren und Verlage bestrebt sind, ihren Neuerscheinungen repräsentative Titel zu geben, doch sollten sie darauf achten, daß diese auch dem Inhalt der Bücher entsprechen. Der durch den Titel reklamierte allgemeine Geltungsanspruch kommt dem vorliegenden Werk jedenfalls nicht zu, obwohl es durchaus methodische Anregungen und wichtige Beobachtungen für die Erforschung hochmittelalterlicher sächsischer Skriptorien bietet.



Anmerkungen

Aliza Cohen-Mushlin: The Making of a Manuscript: The Worms Bible of 1148 (Wolfenbütteler Forschungen 25) Wiesbaden 1983. A. C.-M.: A Medieval Scriptorium: Sancta Maria Magdalena de Frankendal (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 3) Wiesbaden 1990.   zurück
Freundliche Mitteilungen von Dr. Christoph Mackert (UB Leipzig, Handschriftenzentrum) und Gabriele Bremer (Historisches Stadtarchiv Halberstadt). Nicht erfaßt sind die Halberstädter Bestände bei Renate Schipke / Kurt Heydeck: Handschriftencensus der kleineren Sammlungen in den östlichen Bundesländern Deutschlands. Wiesbaden 2000.   zurück
Wie eine solche aussehen kann, demonstriert Wolfgang Petke: Eine frühe Handschrift der »Glossa ordinaria« und das Skriptorium des Augustiner-Chorherrenstifts Riechenberg bei Goslar. In: Joachim Dahlhaus / Armin Kohnle in Verbindung mit Jürgen Miethke / Folker E. Reichert / Eike Wolgast (Hg.): Papstgeschichte und Landesgeschichte. Festschrift für Hermann Jakobs zum 65. Geburtstag (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 39) Köln, Weimar, Wien 1995, S. 255–296. Für viele Hinweise zur Paläographie danke ich Dr. Christine Magin (Greifswald).   zurück