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»Und dann kam Wierlacher...«

  • Alois Wierlacher / Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: J. B. Metzler 2003. XII, 689 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 3-476-01955-1.
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Vom Wachsen
einer neuen Disziplin

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Der Weg zur Einrichtung und Anerkennung eines Arbeitsfeldes als akademische Disziplin kennt im Muster des europäischen Wissenschaftssystems der letzten einhundertfünfzig Jahre verschiedene Stufen beziehungsweise Etappen bis zu dessen Etablierung als »Normalwissenschaft« (T. S. Kuhn). Zunächst sind es wohl einzelne Fälle und Projekte, in deren Zusammenhang sich die Notwendigkeit einstellt, vorhandene Wissensinhalte und Vermittlungsformen zu modifizieren oder neue anforderungsgerecht zu entwickeln; es folgen innovatorische Schritte einzelner Institutionen, die sich im Wechselbezug stärken, ein Netzwerk entwickeln können, und natürlich darf es nicht an Einzelstudien und wissenschaftlich kompetenten Persönlichkeiten fehlen, die dem intendierten Fachgebiet ein Gesicht und eine Ausstrahlung geben können. Dem dienen unter anderem Arbeitsgruppen, Tagungen und Kongresse ebenso wie Publikationen und gegebenenfalls auch persönlich geführte Kontroversen.

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Es muss in dieser Phase nicht nur erkennbar sein, dass es sich lohnt beziehungsweise dass es unvermeidlich ist, neue Wege zu gehen, Modelle zu entwickeln und Begriffe entweder zu schaffen oder (neu) zu besetzen, vielmehr müssen diese in dieser Zeit auch an Raum gewinnen, sich als nutzbar und tragfähig erweisen und es muss – zumindest zeitweise – auch en vogue sein, dazu zu gehören, auf der Bugwelle der angestoßenen Entwicklung zu surfen beziehungsweise zu stehen, zumindest bei bestimmten Anlässen und Projekten auch beteiligt gewesen zu sein. An diesem Punkt ist dann die Gründung eines Vereins, einer Gesellschaft nicht ungeschickt – zumal es im Falle öffentlich geförderter beziehungsweise getragener Einrichtungen wie Universitäten und anderer Lehranstalten auch gilt, eine breitere Öffentlichkeit zumindest auf der Oberfläche anzusprechen –, um weitere Schritte zu entwickeln, Arbeitsgruppen und andere Arbeitszusammenhänge zu schaffen beziehungsweise zu koordinieren sowie fachwissenschaftlich und wissenschaftspolitisch wirksam weitere Tagungen anbieten und eigenständige Themen auszuarbeiten, die dann in Sammelbänden einem breiteren Publikum vorgestellt werden.

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In der Folge, vielleicht auch damit verbunden, werden bestehende Arbeitsbereiche im Sinne der Neuerungen umgebaut, neue Abeilungen eingerichtet, und dann schließlich – so an der Wissenschaftsgeschichte nahezu aller moderner Human- beziehungsweise Gesellschaftswissenschaften nach 1900 ablesbar – werden Lehrstühle gegründet und besetzt, Studiengänge konzipiert und Fragen der eigenen Disziplin, freilich immer auch in Absetzung von anderen, angesprochen, Berufsprofile, Arbeitsobjekte und Methoden sowie nicht zuletzt das damit verbundene Selbstverständnis geklärt, zumindest reflektiert, und damit auf Weiteres für wissenschaftsinterne und auch öffentliche Debatten geöffnet beziehungsweise anschlussfähig gehalten.

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Im Muster des hier vorgestellten Entwicklungsganges und des damit auch verbundenen Anerkennungs- und zugleich Professionalisierungsprozesses lässt sich auch die Geschichte der »Interkulturellen Germanistik« in Deutschland und der damit verbundenen weltweiten Arbeitszusammenhänge darstellen. Davon legt das hier vorliegende Handbuch der Interkulturellen Germanistik nicht nur Zeugnis ab; es stellt vielmehr selbst einen bedeutsamen Schritt im Prozess dieser Einrichtung und Validierung eines bis dahin neuen Arbeitsfeldes als akademische Disziplin mit praxisbezogenen Relevanzansprüchen dar, den es im Folgenden darzustellen gilt.

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Vom Nutzen und Stellenwert
der Handbücher

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An der Verbreitung der Disziplin, ihrer akademischen Einrichtung, der Selbständigkeit von Studiengängen, der Anzahl von Studierenden und Lehrenden, den Forschungsaufträgen sowie den damit möglicherweise verbundenen Drittmitteln und nicht zuletzt an den Berufsfeldern der in diesen Studien- und Arbeitszusammenhängen Qualifizierten lässt sich auch der Etablierungsgrad, die Bedeutung einer neuen Disziplin bemessen; mitunter dringt sie mit ihren Themen, Forschungsansätzen und -methoden sogar in die öffentliche Kommunikation der Gesellschaft vor, nicht zum wenigsten dann, wenn grundlegende Selbstverständnisse dieser Gesellschaften berührt werden; etwa der Wert menschlicher Arbeit in der aktuellen Volkswirtschaftslehre, die Zukunft der Familie in den Gesellschaftswissenschaften, die Frage der Sicherheit in der Atomphysik oder die Frage nach den Grenzen des Lebens in der Biotechnik, nicht zuletzt natürlich auch beispielsweise die Gültigkeit solcher Schlüsselbegriffe wie Bildung, Dialog, Kritik, Kultur oder Toleranz in den Humanwissenschaften, namentlich dann auch in Bezug auf jene Fächer, die wie Germanistik, Geschichte, Literatur- und Sprachwissenschaften traditionell zu den Sinn-Produzenten personaler, kultureller, ja auch nationaler Identität gehören und die in einer Welt rasch wechselnder Zuordnungen und des Ineinander-Übergehens überkommener Differenzen und des Wachsens neuer Spaltungen von verschiedenen Seiten aus in Beschlag, zum Teil auch unter Beschuss genommen werden.

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Von Studierenden und Lehrenden, zumal aber auch von Interessierten anderer Fachgebiete, gebildeten Laien und nicht zuletzt von öffentlichen Vermittlern werden in solchen Fällen der Konflikt-Kommunikation, die ebenso sehr altvertraute »Wahrheiten« erschüttert wie sie darauf zielt, neue Standards (Selbstverständlichkeiten) zu etablieren, zuverlässige Grundinformationen gesucht: Forschungsstände und der Stand der Fachdiskussion sollen dokumentiert sein; weiterführende Aspekte und entsprechende Literaturangaben sollen neben Basisinformationen stehen, die es den Laien ebenso wie den Fachleuten ermöglichen, sich mit dem entsprechenden Arbeitfeld vertraut zu machen und zugleich so etwas wie das Selbstverständnis des Faches zu erkennen.

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Dem dienen Handbücher mehr noch als Fachwörterbücher, da sie einen Grundriss, eine Architektur des Faches, bieten und innerhalb dessen dann der Vielfalt der Neuansätze, Besonderheiten und fachlichen Ansätzen beziehungsweise Entwicklungen ihren Platz zuweisen können. Handbücher bieten also eine systematische Ordnung an, erwecken damit freilich auch den Anschein, versprechen die Ganzheit beziehungsweise Systematik einer Disziplin, die sich allerdings – nicht nur unter den Bedingungen der Moderne, sondern bereits aus wissenschaftstheoretischen Gründen seit den Vorsokratikern fragwürdig geworden – in kaum einem Fachgebiet wirklich finden lässt; in dieser Hinsicht stehen Handbücher auch an der Grenze, ideologische Projekte zu sein, im guten Sinn einen Glanz zu schaffen, der zur weiteren Etablierung und Ausdifferenzierung des Faches beitragen kann, in einem eher problematischen Sinne dann, wenn sie eine Geschlossenheit, Stimmigkeit und Universalität oder aber die besondere Privilegierung des jeweiligen Faches behaupten, Versprechen bieten, die nicht nur de facto uneinlösbar sind, sondern dieses auch entsprechend überfordern.

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Das Erscheinen eines Handbuchs bezeugt also nicht nur einen ersten Abschluss des Etablierungs- und Anerkennungsgangs eines bestimmten Fachgebietes – und zwar mit einem Erfolg –, sondern macht das Fach zugleich nach außen hin anschlussfähig, das heißt auch diskussionsfähig und -würdig im Blick auf die von ihm vertretenen Ansprüche, Maßstäbe und Modelle: Ein Überblick, in affirmativer wie in kritischer Hinsicht, kann hier ansetzen. Schließlich bietet ein Handbuch drittens für die am Fach Beteiligten, Lehrende ebenso wie Studierende und Praktiker, eine Art Grundlage, Spiegel und Bezugsfeld der eigenen Tätigkeit, nicht nur im Blick auf Informationen, Termini und Bibliographien, sondern ebenso im Sinne einer Systematik, die den jeweiligen Forschungs- und Praxisbezügen und den Nachfragen nach spezifischen Informationen einen Ort innerhalb des Fachgebietes zuweist, die Fragenden und sonst wie Beteiligten mit der Sicherheit einer Struktur ausstattet und sie zugleich auch – korporatistisch gedacht – an der Existenz einer fachbezogenen wissenschaftlichen Community beteiligt, diese zumindest als imaginären Rahmen auch schafft. In diesem Sinn bezeugt die Existenz, zumal auch inzwischen der Erfolg des vorliegenden Handbuchs nicht nur den Erfolg der Einrichtung von Arbeitsfeldern, Studiengängen und Forschungsprojekten im Bereich Interkultureller Germanistik, sondern schafft auch die Voraussetzungen für weitere Diskussionen und Arbeitsvorhaben; nicht zuletzt belegt es die (auch öffentliche) Gefragtheit der hier angesprochenen Themen.

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Vom Aufbau und Nutzen
dieses Handbuchs

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Handbücher, vor allem dort, wo es um die Legitimation (oder den »Durchbruch«) des Faches (angesichts von »Feinden«) geht, neigen zur Selbstpräsentation in Form einer festen Burg: Starke Grundmauern, feste Türme und Mauern, klare Linien und eine entsprechend (uni-)formierte Mannschaft unter einer straffen Führung. Kollektive, Teams und Arbeitsgruppen neigten dagegen zumindest zeitweise dazu, auf den Ausweis persönlicher Autoren oder gar einzelne »Stimmen« ganz zu verzichten oder diesen möglichst dem Jargon oder Sound einer Gruppe, eines »Kollektivs«, Teams oder Trends zu unterwerfen.

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Schon in dieser Hinsicht schlägt das hier vorliegende Handbuch einen anderen Ton an, der freilich durchaus auch zu den »weicheren« Konturen aktueller Wissenschaftstheorien und Disziplinkonzeptionen nach der »kulturalistischen Wende« der 1980er Jahre gehört und sich von den Erschütterungen postmoderner Wissenschaftskritik belehrt weiß: »Die modernen Wissenschaften«, heißt es gleich in dem von Alois Wierlacher verantworteten Vorwort auf S. IX des vorliegenden Buches, »bieten keine zeitlos gültigen Erklärungen mehr an, sondern setzten uns mit Hypothesen … ins Bild. (…) Sollten der kulturellen Vielfalt Spielräume eröffnet werden, erscheint es überdies unangebracht, die Beiträge dieses Handbuchs in einem möglichst einheitlichen, entpersönlichten und transnational uniformierten Stil vorzulegen. Es gibt viele Stimmen…«. Freilich – und dies wird im Folgenden auch zu bedenken sein – mag eine derart offen dargelegte Inkonsistenz als Modell auch zur Rechtfertigung und Sinnbehauptung angesichts von Lücken und Diskrepanzen verführen, die als solche sinnvoller Weise belassen und zur weiteren Bearbeitung, möglicherweise auch zur kritischen Selbstreflexion der eigenen Ansätze genutzt werden könnten (und sollten), also eben nicht ein Modell darstellen, sondern tatsächliche Lücken, Missverhältnisse, Grenzen und vielleicht auch Problemstellungen zeigen, die sich eben nicht im Spielfeld Interkultureller Germanistik bearbeiten, gar bewältigen lassen.

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Der bereits hier auf den ersten Seiten angeschlagene, mitunter allzu frohgemute Ton, der noch an die modernisierungstheoretisch gewendete Aufbruchstimmung im Feld internationalen Arbeitens der 1970er und 80er Jahre erinnert, wird im Buch immer wieder aufgenommen und führt in der Konsequenz nicht nur mitunter zu einer Selbstüberforderung der Interkulturellen Germanistik als Wissenschaft (dazu mehr in den Absätzen 52 ff. dieses Textes), sondern rückt diese selbst mitunter (so bereits S. XI, S. 8 ff. u. p.) in die Nähe einer Heilslehre, die es darauf anlegt, neben grundlegenden Problemen der Wissenschaftstheorie und -methodologie auch noch Fragen der Weltentwicklung, der politischen und sozialen Konfliktbewältigung bearbeiten (und gegebenenfalls lösen) zu können und selbstverständlich auch noch für Kulturaustausch und interkulturelle Kommunikation eine angemessene Plattform sein zu wollen, als Disziplin gar zur Lösung vertrackter weltpolitischer Probleme und Konfliktkonstellationen das ihrige beizutragen sucht.

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Exkurs:
Warum Kultur(en)?

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Es ist überdies auch zu fragen, in welchem Sinn (und mit welchem Recht) denn hier ausgerechnet auf »kulturelle Vielfalt« als Ausgangslage, als Ursache und Grund der Vielstimmigkeit einer Wissenschaftsdisziplin zurückgegriffen werden muss beziehungsweise soll; wird damit nicht gerade den Herkunftskulturen, deren rationale Überwindung, zumindest Einklammerung, zu den zentralen Leistungen moderner Wissenschaftlichkeit seit dem 18. Jahrhundert gehört, eine Bedeutung – als wissenschaftliche Voraussetzung – zugeschrieben, die sich dann, wenn es um die Fragen interkulturellen »Verstehens« und entsprechender Kommunikationsprozesse geht, entweder als unhintergehbare Barriere zwischen die Akteure schiebt oder aber im Sinne einer ideologischen Überformung entweder zur farbenfrohen Vertuschung der Hindernisse oder aber zur essentialistischen Aufladung vermeintlich »kultureller« Unterschiede führt?

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Talleyrands Bemerkung, die Legitimität der Revolution sei eine Frage des Datums, könnte im Blick auf Interkulturelle Kommunikation dahingehend aufgenommen werden, dass auch die Frage: Interkulturelle Kommunikation oder kultureller Konflikt (S. P. Huntingtons These vom »clash of civilizations«) nicht so sehr vom Modus der gewählten Schritte, gar von der Frage wissenschaftsorientierter Begleitung als vielmehr von den Umständen, den Situationen und ihren Konstellationen abhängig ist. Möglicherweise stellt hier gerade im Zusammenhang der deutschen Traditionsbezüge der Rekurs auf einen dem Hochkulturschema zugeordneten »Kultur«-Begriff eine Falle dar, in der statt der intendierten relativierenden Auflösung fester Kulturschemata in Handlungs- und Diskursfelder (W. Schiffauer 1 ) durch die erneute Setzung von »Kultur« als Kategorie in multi- und interkulturellen Zusammenhängen einer Verstärkung, ja Essentialisierung des Kulturbegriffs zugearbeitet wird, deren Folgen sich dann in dem vermaledeiten Göring-Zitat wieder finden lassen: »Wenn ich das Wort ›Kultur‹ höre, greife ich zum Revolver.« 2

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Wie sehr gerade der Anerkennungsdiskurs in Bezug auf »Kultur« in einen neuen Ausschließungsdiskurs, in der Folge auch in Mord und Totschlag, enden kann, haben nicht zuletzt die Ereignisse in Mittel- und Südostosteuropa nach 1990 gezeigt. Klaus Eder hat demgegenüber klarer und umsichtiger auf die »polemogene Funktion der Kultur« hingewiesen: »Kultur tut auch das Gegenteil von dem, was ihr die traditionelle Theorie insinuiert hat: sie stellt Bedingungen dafür her, sich zu streiten, Widersprüche zu erzeugen und Inkommensurabilitäten zwischen Kulturen herzustellen. Kultur – so das Paradox – schließt zusammen und trennt zugleich.« 3 und er hat – damit verbunden – die Notwendigkeit einer sozialwissenschaftlichen, kommunikativen Brechung beziehungsweise Relativierung des »Kultur«-Begriffs herausgestellt. 4

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Gegenüber der hier angesprochenen, inzwischen vielfach vertieften sozialwissenschaftlich und auch sozialkritisch fundierten Begrenzung, auch Kritik des Kulturbegriffs 5 verbleiben die dem Handbuch zugrunde gelegten Vorstellungen zu einer Vielgestaltigkeit und Vielstimmigkeit der Kulturen doch weitgehend im Bereich der in den ersten Jahren der »kulturalistischen Wende«, den 1980er Jahren, vorherrschenden Euphorie, im Muster der Kulturen eine Reichhaltigkeit, auch Ganzheit an Lebensmöglichkeiten und Lebensformen ansprechen zu können, die sich als eine Art Auflösung beziehungsweise Unterspülung des bis dahin gängigen Nationalgefühls zeigen sollte. Dass sich im Medium der Kultur neue (und alte) Formen der Differenzsetzung und damit auch der Reduktion beziehungsweise der Ideologisierung von Unterschieden eben auf »Kultur«-Unterschiede hin ausbilden können, die ihrerseits keineswegs verbinden, sondern neue Ausgrenzung befördern, gehört auch in epistemologischer Hinsicht zu den Ergebnissen politischer Diskussion und wissenschaftlicher Reflexion der letzten Jahre, 6 die allerdings im Multikulturalismus beziehungsweise auch Universalismus des hier vorliegenden Buches beziehungsweise des damit verbundenen Weltentwurfs keine Berücksichtigung finden.

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Wie wichtig ist denn angesichts sonstiger und inzwischen auch wieder in den Blick tretender Zuordnungsmöglichkeiten wie soziale Schicht, Geschlecht, Bildungschancen, Kapitalausstattung und Generationserfahrungen, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Theorietradition, unterschiedlicher Studienerfahrungen, Laborkulturen und Arbeitsfelder die Zugehörigkeit einer Forscherin, eines Forschers zu einer bestimmten, letztlich wieder lediglich nationalkulturell definierten »Kultur«, die sich jeweils doch sicher auch noch einmal nach ganz unterschiedlichen Kategorien (Stadt – Land; Tradition – Moderne, erfundene Tradition – erfundene Moderne usw.) klassifizieren lässt? Muss »Koreanisch« oder »Deutsch« denn unbedingt mehr sein als ein im Einzelfall ziemlich unterbestimmter Eintrag im Pass?

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Was hier im Blick auf die Individuen als Repräsentanten »kultureller« Vielstimmigkeit bereits angesprochen wurde, muss wohl im Hinblick auf die im fünften Teil des vorliegenden Handbuchs angebotene Übersicht über »länderspezifische Ansätze interkultureller Germanistik« (ebd., S. 595–667) noch einmal aufgenommen werden, wobei sicher einzuräumen ist, dass großräumige Kategorien in diesem Bezugsfeld, im Blick also auf nationalstaatlich organisierte Bildungs- und Ausbildungssysteme sowie deren gesellschaftsgeschichtlich bestimmtes Herkommen, wohl noch am ehesten greifen können, sich mitunter freilich – so zeigt es ein Blick in das vielfach als Lehrbuch genutzte Werk Geert Hofstedes 7 – kaum von einer gebetsmühlenartigen Wiederholung elaborierter Allgemeinplätze unterscheiden lassen.

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Übersicht

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Doch zunächst zum Handbuch im Ganzen: Tatsächlich wird im vorliegenden Werk statt des von einem Handbuch in der wissenschaftlichen Tradition zu erwartenden stringenten Aufbaus, einer »harten« Struktur, ein weiches Patchwork geboten, dessen Bestandteilen und dessen Zusammenhang allerdings nicht nur historische, sondern auch erkenntnistheoretische, ja nationalpolitische Signifikanz zugesprochen wird (vgl. bereits S. XI). Die neunzig einzelnen Beiträge, die sich mit so unterschiedlichen Themen wie der Ethnographie der Emotionen (2,5), den Menschenrechten (2,14), dem Verhältnis von Kultur und Geschmack (2,20), der Höflichkeit (3,9), der Reiseführerliteratur (4.4,8) oder den Ansätzen interkultureller Germanistik in China (5,2) beschäftigen und in der Regel von ausgewiesenen Fachleuten verfasst wurden, bieten insgesamt so etwas wie »shifting images«, einander teils überschneidende, teils in unterschiedliche Richtungen zielende Bildentwürfe, den eigenen Ansprüchen nach »orientierende Überblicksartikel« (S. X), wobei allerdings nicht immer nur Wohlklänge erkennbar sind, sondern durchaus auch Lücken und Widersprüche auftreten (beispielsweise zwischen der Darstellung komparatistischer Forschung bei Peter V. Zima und dem von Eberhard Scheiffele entworfenen Programm »Interkulturelle Germanistik und Literaturkomparatistik« im Abschnitt 4.4 des vorliegenden Bandes), die also durchaus als »incensive incidents«, wohlwollend als Brennpunkte, künftiger Kritik und weitergehender Arbeit angesehen werden können.

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Auf knapp siebenhundert, durchweg zweispaltig angeordneten Seiten sind die Beiträge des Bandes zu fünf großen Blöcken geordnet, wobei der vierte Abschnitt, der die Arbeitsbereiche (»Komponenten«) der Interkulturellen Germanistik: Sprach- und Literaturlehrforschung und Landeskunde – also die herkömmlichen Arbeitsfelder der bisherigen Auslandsgermanistik sowie des Bereichs Deutsch als Fremdsprache – und als Neuerung einen Bereich Kulturwissenschaftliche Xenologie und Kulturkomparatistik (4.4) umfasst, mit knapp 250 Seiten den breitesten Raum einnimmt. Diese Kernkapitel des ganzen Buches werden zu beiden Seiten von ebenso ausgefächerten wie nützlichen Übersichten zu unterschiedlichen Themenfeldern angereichert, wobei sich die einzelnen Beiträge zwar alle in den großen Sack einer interkulturell ausgerichteten Germanistik sortieren lassen, gleichzeitig aber ebenso auch in einem anderen, kulturwissenschaftlich ausgerichteten Handbuch Interkultureller Kommunikation, Internationaler Beziehungen oder einer vergleichenden Soziologie stehen könnten. Während das erste große Kapitel so etwas wie die Einrichtung und die Erfolgsgeschichte der Interkulturellen Germanistik in Deutschland, beginnend mit der Beauftragung Alois Wierlachers durch den Senat der Universität Heidelberg im Jahr 1970, »ein Konzept für ein gegenwartsbezogenes Deutsch- und Deutschlandstudium … auszuarbeiten« (S. 1), darstellt – auf die Problematik einer solchen nahezu prosopographisch orientierten Herleitung der Fach- und Erfolgsgeschichte sei hier nur hingewiesen –, werden in den Kapiteln zwei und drei Themenfelder und Kategorien vorgestellt, die in einem weiten Sinne auch im Bereich Interkultureller Germanistik eine Rolle spielen können; es folgt eine Beschreibung der unterschiedlichen germanistischen Arbeitsgebiete: Sprach- und Literaturwissenschaft sowie Landeskunde, wobei den Besonderheiten eines interkulturell angelegten Arbeitsprojekts noch darüber hinaus durch das bereits erwähnte Unterkapitel zum Umgang mit dem Fremden (»kulturwissenschaftliche Xenologie«) und zu den Möglichkeiten interkultureller Interferenzen und Vergleiche (»Kulturkomparatistik«) Rechnung getragen wird.

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Abgeschlossen wird der Band durch eine in sich durchaus unsystematische Übersicht bestimmter länderspezifischer Ausformungen »interkultureller Germanistik«. Abgedruckt wurde offensichtlich, was da war; so steht Dänemark neben China, Australien und Indien werden ebenso vorgestellt wie Polen und Portugal, schließlich noch die USA; einige Hinweise zumindest auf die afrikanischen »Schüler« der Bayreuther und Hannoveraner Interkulturellen Germanistik im Teil über die Fachgeschichte (Kapitel eins, S. 9–11) sollen das – im übrigen durchaus lückenhafte – Bild der Interkulturellen Germanistik in der Welt vervollständigen und zeigen doch um so mehr lediglich die Begrenztheit einer Perspektive, die den Aufbau eines Netzwerks, die Teilnahme an Tagungen und die Orientierung an beziehungsweise die Übernahme von Ideen der großen Stichwortgeber schon für Theorie und Systematik einer Fachgeschichte halten will. Auch hier ist, unterhalb der Kritik dieser allgemeinen Ausrichtung, sicherlich zuzugeben, dass einzelne Artikel, namentlich etwa die Geschichte der Germanistik in Polen (S. 647 ff.), durchaus mit Gewinn gelesen werden können und auch gerade für das jeweilige Selbstverständnis und den Diskussionsstand der länderspezifischen Germanistik eine nützliche und informative Ausgangslage weiterer Überlegungen oder Erkundungen bilden. Bemerkenswerter sind freilich vor allem die Lücken auf dieser Weltkarte: Russland, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande fehlen ebenso wie Italien und Spanien; da wo im Blick auf Deutschland die kulturellen Lagerungen einzelner Universitäten (Bayreuth, Dresden, Freiburg, Mainz und München – warum gerade diese?) eine differenzierte Betrachtung erfahren und eigene Abschnitte erhalten (S. 612–638), bleiben für China sechs und für Indien zehn Seiten, von Süd- und Nordamerika, das ja nicht nur aus den USA besteht, kein Wort! Ob dies den ansonsten im Buch vertretenen Grundsätzen der Anerkennung entspricht oder sich diese Weltkarte doch vor allem nur aus deutscher (Bayreuther?) Sicht rechtfertigen lässt, mag weiter zu diskutieren sein.

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Für alle Arten der Nutzer, namentlich auch die kritischen, ausgesprochen hilfreich sind freilich in allen Kapiteln die umfangreichen, in der Regel aktuell gehaltenen Literaturhinweise, auch die Anmerkungen jeweils zum Ende der einzelnen Beiträge, sowie das den Band insgesamt abschließende Sach- und Begriffsregister, das in seiner Ausdifferenziertheit nicht nur denjenigen weiterhelfen kann, die zu einem bestimmten Stichwort Information und Literaturhinweise suchen, sondern als eine Art von Netzwerk auch die unterschiedlichen Positionen, die zu bestimmten Sachverhalten innerhalb des Buches geäußert werden, erschließt und – zumindest für die Kontroverse – auch miteinander verbindet.

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Erster Schwerpunkt:
»Horizonte – Fluchtlinien«
(2. Abschnitt)

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Auf eine erste teils programmatisch, teils historisch ausgerichtete Darstellung des Arbeitsfeldes Interkulturelle Germanistik durch den Herausgeber (1) folgt eine circa einhundertfünfzig Seiten lange Sammlung von Beiträgen unterschiedlichster Bezugsfelder und Reichweiten, deren Themen von einem Aufriss der Nationalphilologien (D. Harth) über Wissenschaftstheorien (K. Müller, H. de Berg), kulturanthropologische Fragestellungen (R. Bendix) bis hin zur Rolle technologischer Bezüge in literarischen Texten und interkulturell ausgerichteten literaturwissenschaftlichen Interpretationen (H. Segeberg), von rechts- und kulturpolitischen Themen (T. Göller, G. U. Bauer) über das Thema »Gesundheit und Krankheit« (D. v. Engelhardt) bis zu Fragen der Wirtschaftskommunikation (J. Bolten) reichen und die unter der doch ziemlich »weichen« Konturierung »Horizonte und Fluchtlinien interkultureller Germanistik« (2) zusammengefasst werden.

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Es ist hier nicht der Platz (und seitens des Rezensenten auch nicht die Kompetenz), um alle Beiträge des vorliegenden Bandes angemessen zu diskutieren; das im Blick auf die einzelnen Beiträge in diesem Abschnitt Gesagte gilt aber auch für das ganze Buch: Die vorliegenden Beiträge haben einen hohen Informationsgehalt, sind in der Regel schlüssig strukturiert und können dadurch auch eine instruktive Funktion bei der Vorbereitung und Durchführung von Lehrveranstaltungen im genannten Themenbereich im In- und Ausland wahrnehmen. Der Nutzen des vorliegenden Bandes ist sowohl wegen der Breite der ausgewählten Themen, der Tiefe der einzelnen Ausarbeitungen als auch wegen der in den meisten Beiträgen gelungenen Mischung von Forschungsperspektiven und Praxisbezug ausgesprochen hoch; ob sich dadurch freilich ein in sich stimmiges Arbeitsfeld, eine insgesamt eben durch Interkulturalität verbesserte Germanistik abzeichnet, mag freilich, wie auch die Konsistenz des hier als Handbuch vorgelegten Grundbestandes weiterhin zu diskutieren sein.

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Bereits die beiden ersten Beiträge dieses Kapitels zeigen die Stärken des vorliegenden Buches. Dietrich Hardts knappe achtspaltige Übersicht zum Stichwort »Nationalphilologien« ist ebenso lesenswert und instruktiv wie Jörg Schönerts anschließende teils historisch, teils fallbezogene Darstellung der Dimension der Internationalität in der Germanistik. Viele der hier angebotenen Beiträge, so auch H. Segebergs Beitrag zur Technologie in der Literatur oder Franz M. Wimmers Darstellung der Interkulturellen Philosophie, sind zumindest in dreifacher Hinsicht für Leserinnen und Leser ausgesprochen nützlich: (a) Sie informieren knapp und gedankenreich von der Sache her über die angesprochene Thematik; (b) sie situieren die jeweils in Rede stehenden Sachverhalte im Feld interkultureller Arbeitsbereiche, sowohl von den Kategorien und Inhalten her als auch im Blick auf die Bezugsmöglichkeiten und die Entwicklung neuer, eben durch die bestehenden (kulturellen) Muster und deren Dynamik noch nicht vorgebbarer Strukturen und Fragestellungen, und sie bieten (c) in der Regel Ansatzpunkte für diejenigen, die – sei es im Ausland, sei es im Inland – im Bereich Interkultureller Germanistik arbeiten, also beispielsweise Lehrveranstaltungen anbieten. Für diesen Arbeitsbezug ist es ferner ausgesprochen nützlich, dass jeder der einzelnen Beiträge durch eine weiterführende Bibliographie auf den im Jahr 2003 (!) bestehenden Forschungsstand verweist, ein Informationsangebot, das gerade im ferneren Ausland und in Ländern, in denen wie in Russland die Recherche über das Internet noch nicht so ausgebaut ist wie im wesentlich kleineren Westeuropa, eine besondere Attraktivität des vorliegenden Bandes ausmachen dürfte.

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So anspruchsvoll, konstruktiv und diskussionswürdig die hier versammelten Beiträge im Einzelnen sind, beispielsweise auch Martina Fromhold-Eisebiths Überlegungen zu »Wissenschaft als kreatives Milieu« (2,12), die nicht nur über einen vergleichsweise neuen Forschungsansatz berichten, sondern eben diesen auch für die Arbeitsbereiche Interkultureller Germanistik fruchtbar zu machen suchen und darüber hinaus auch Anstöße zur Organisation von Lerngruppen bieten (besonders ebd., S. 119 f., zur Informalität als Kennzeichen der Akteursbeziehungen im kreativen Milieu, wobei die hier angesprochene »flache Hierarchie« durchaus mit den unter anderen von Richard Sennett dargestellten Befunden zu den in dieser Struktur verborgenen, ja auch »verlogenen« Machtquellen konfrontiert werden müsste 8 ), so fragwürdig sind freilich die Auswahl und die Zusammenstellung der Themen in diesem Bereich im Ganzen.

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Sicher ist davon auszugehen, dass hier im Wesentlichen Nützliches und Bildendes für Studierende und Lehrende im Bereich Interkultureller Germanistik zusammengestellt wurde und sicherlich sind auch die Schwerpunkte Wissenschaftstheorie, zumal auch in einer die kulturellen Rahmen europäischer Wissenschaften und Rechtsbegriffe reflektierenden Weise, Internationalität und Interkulturalität sowie einige Ansätze kulturwissenschaftlichen Arbeitens für den intendierten Arbeitszusammenhang wichtig. Es bleiben aber Fragen sowohl nach der Signifikanz der Schwerpunkte als auch nach grundlegenden Kriterien für die Auswahl der dargebotenen Themen: Konstruktivismus und Systemtheorie werden in eigenständigen Beiträgen dargestellt, Historische Anthropologie, der New Historicism, dessen Konzept der »sozialen Energie«, ihrer Transformation und Fluktuation ebenfalls eine nützliche, Perspektiven eröffnende und Arbeitsschwerpunkte in interkulturellen Zusammenhängen strukturierende Funktion wahrnehmen kann, fehlen jedoch ebenso wie Kulturwissenschaften (vielleicht angesichts von deren Unbestimmtheit als Ganzen und der Omnipräsenz ihrer Ansätze in nahezu allen Artikeln noch am ehesten erklärbar), Ethnologie oder Soziologie, der gerade im Zusammenhang einer seit den 1990er Jahren breit zu beobachtenden »Kulturalisierung« des Sozialen (W. Kaschuba 9 ) die Funktion einer Art von Gegenorientierung zukommen könnte.

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Auch – und nicht weniger schmerzhaft – fehlen jene Neuansätze der in der ersten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts zwar ideologisch verbrauchten »Deutschen Volkskunde«, der – nunmehr als Europäische Ethnologie renoviert – nicht nur im Blick auf die Kategorienbildung (das Eigene, das Fremde; Kultur, Tradition, Alltag) und im Hinblick auf bestimmte soziale Muster und Orte (Integration und Ausschließung; Gastfreundschaft, Feste, Feiern, Volkskultur, Familien, Haushalt, Gemeinde, Regionen, Erinnerungsorte, das »Gedächtnis« der Dinge), sondern auch im Zusammenhang einer Neukonzeption der traditionellen Landeskunde (der im Abschnitt 4.3 des vorliegenden Buches ein eigener gewichtiger Abschnitt gewidmet wurde) eine wichtige innovatorische Rolle zukommen könnte. Hier sind in den letzten Jahrzehnten, vor allem im Rahmen der von Hermann Bausinger – immerhin als Autor des Beitrages »Kultur« (3,13), für deren Definition und Darstellung er sich im Laufe der Jahrzehnte zu Recht ein Recht erworben hat, im Handbuch präsent – vertretenen Forschungsansätze und Arbeitsgruppen eine Fülle von Einzelstudien zur Alltagskultur, 10 zu Nutzung (und Erfindung) von Folklore in der Moderne, zur Codierung beziehungsweise Umcodierung von Geschlechterrollen, Bildungsvorstellungen, Ess-Sitten und Kleiderordnungen im Prozess der Modernisierung erstellt worden, die eine eigenständige Tönung im Arbeitsfeld Interkultureller Germanistik darstellen können, allerdings hier eben nicht beziehungsweise nicht angemessen berücksichtigt werden.

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So bleibt bei diesem Kapitel, in der durchaus verschwommenen Überschrift »Horizonte und Fluchtlinien« schon angesprochen, der Eindruck großer Beliebigkeit erhalten; auch anderes ließe sich als aufnehmenswert denken und benennen. Der Abfolge der hier aufgeführten Beiträge fehlt ein innerer Zusammenhang oder eine strukturierende Binnengliederung, wie sie – zumindest im traditionellen Zuschnitt – gerade von einem Handbuch zu erwarten gewesen wäre; eine Gliederung etwa in historische Bestände, Bezugswissenschaften, innovatorische Ansätze wäre ebenso möglich (und nicht zuletzt für die Strukturierung von Studienschwerpunkten und Unterrichtssequenzen nützlich) gewesen wie vielleicht eine Zentrierung um bestimmte Themenfelder wie Alltag, Symbole, Erinnerungsorte, Handlungszentren: Herdfeuer oder Kaffeemaschine, TV, PC oder Küchentisch, Soziale Konstruktion und Interkulturalität. Zumindest aber, so viel sei abschließend zu diesem Kapitel gesagt, bieten »Fluchtlinien und Horizonte« jede Menge Perspektiven und Anregungen für Theorie, Praxis und eigenes Nachdenken, leider aber keine Grundlage, wie sie vielleicht von Leserinnen und Lesern erwartet, sicher aber von der Systematik eines herkömmlichen Handbuches und angesichts weitergehend modularisierter Studiengänge auch von Studierenden gefordert werden (können).

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Zweiter Schwerpunkt:
»Rahmenbegriffe«
(3. Abschnitt)

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Zumindest der Überschrift nach bietet auch das dritte Kapitel »Rahmenbegriffe interkultureller Germanistik« keinen besseren Halt; exaktere Ausarbeitungen des »Rahmen«-Begriffs, wie sie seitens der Phänomenologie oder auch durch Erving Goffman vorgenommen wurden und durchaus auch für die Etablierung und Konturierung eines wissenschaftlichen Feldes nützlich sein können, fehlen. Tatsächlich bietet dieser Abschnitt aber auf seinen ebenfalls knapp einhundertfünfzig Seiten ein Lexikon unterschiedlicher Begriffe, die von »Anerkennung« bis »Wissen« reichen, die unterschiedlichen Wissensgebieten zugehören (Philosophie, Psychologie, Geschichte, Ethnologie, Kulturanthropologie, Wissenschaftstheorie, Textanalyse) und von denen als Gemeinsamkeit vielleicht gesagt werden kann, dass sie alle: zum Beispiel Anerkennung, Bildung, Fremdheit, Grenze, Interdisziplinarität, Interkulturalität, Toleranz und Wissen, ebenso aktuell und breit in der Öffentlichkeit diskutiert werden wie dass sie »irgendwie« auch zum Arbeitsfeld Interkultureller Germanistik dazugehören. Auch hier fehlt manches, das angesichts des Aufgeführten nicht weniger evident / relevant gewesen wäre: Warum »Tabu«, aber nicht »Ehre« (Scham / Schande), warum »Dialog«, aber nicht »Narration«, warum »Höflichkeit«, aber nicht »Gewalt«, »Fremdheit«, aber nicht »Identität«?

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Ein Blick sowohl in das 1997 erschienene große von Christoph Wulf herausgegebene Handbuch der Historischen Anthropologie 11 als auch in das 2004 erschienene dreibändige Handbuch der Kulturwissenschaften, 12 herausgegeben von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch, zeigt zwar auch ziemlich viel Buntes und lässt einen – gerade im Falle von Jaeger / Liebsch immer wieder in allen drei Bänden suchen, beide zeigen aber zugleich das Bemühen um strukturierende Leitvorstellungen, die im hier vorliegenden Handbuch an das Alphabet delegiert werden. Damit lassen sich an dieser Stelle zwar gesuchte Begriffe leicht finden, warum es aber gerade diese sind beziehungsweise warum und dass andere fehlen, erschließt sich dadurch nicht.

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Wiederum lässt sich auch hier – wie bereits im Blick auf den ersten Schwerpunkt – an der Qualität der meisten hier vorgelegten Artikel wenig mäkeln; ganz im Gegenteil stellt das hier vorliegende Lexikon in seinem Informationsgehalt einen wichtigen, ebenso lesenwerten wie nützlichen Teil des ganzen Werkes dar. Dies gilt zumal für die Einträge zu »Bildung« (H. H. Reich, 13 A. Wierlacher), »Grenze« (D. Košt’álová), »Kultur« (H. Bausinger), »Lernen und interkulturelles Lernen« (A. Thomas), »Vergleichen« (J. Matthes) und »Wissen« (H. F. Spinner), die ebenso nützlich für die Praxis (beispielsweise der Lehre) wie anregend für weitere durchaus kontrovers zu denkende Diskussionen sind.

[39] 

Ob sich freilich im Aufbau des Alphabets, so wie in dem von Alois Wierlacher verfassten ersten Artikel dieses Abschnitts »Anerkennung« (S. 199) angesprochen, bereits auch eine Sachaussage, ja mehr noch eine Art moralischer Deduktivität im Hinblick auf den Stellenwert, ja die Unhintergehbarkeit der »Anerkennung« erkennen lässt, muss bezweifelt werden. Nicht nur dass die Ansprache des ganzen Lexikonteils als »Antwortregister« unnötig und ohne tiefere Bezugnahme an dieser Stelle auf Bernhard Waldenfels große Studie von 1994 anspielt, 14 auch die weitergehende Aussage: »Die menschenrechtliche und kommunikative Grundbedingung allen Kulturdialogs lautet, die Angehörigen anderer und fremder Völker als Menschen anzuerkennen und das heißt immer auch schon: Sie als Mit-Menschen zu sehen.« (ebd., Hervorhebung dort), mag sicher zur Etablierung und Legitimation des Arbeitsfeldes Interkultureller Germanistik (nicht zuletzt bei politischen Entscheidungen, Sponsoren, akademischen Feierstunden) beitragen, sie trägt aber der komplexen, keineswegs – wie es bereits bei Hegel zu lesen ist und von Charles Taylor auch im Blick auf die Fragwürdigkeit dieser Setzung weiter geführt wird – nur auf Identitätsstiftung und friedliche Kommunikation beziehbaren Struktur der Anerkennung eben auch nur halbherzig Rechnung.

[40] 

Verstehen und Anerkennen, so hat es vor einigen Jahren bereits der Düsseldorfer Philosoph Oswald Schwemmer gezeigt, 15 stellen in interkulturellen Beziehungen zwei Weisen eines Umgangs mit dem Fremden dar, die in sich voller Widersprüche und Fallgruben sind, so dass auch die »konkrete Bestimmung des Feindes« im Jargon des NS-Juristen Carl Schmitt eine Form der Anerkennung darstellt, vermutlich in dieser Weise auf den Schatten- und Nachtseiten interkultureller Germanistik und unterschiedlichster Kulturaustausche auch so stattfindet 16 beziehungsweise als Grenze und Gefahr »interkultureller Begegnungen« dringend der Aufmerksamkeit und Reflexion bedarf.

[41] 

Diese Seite interkultureller Beziehungen, von der nicht zuletzt steigende Zahlen zur Fremdenfeindlichkeit angesichts einer von den kulturellen und wirtschaftlichen Eliten vertretenen international wachsenden Mobilität berichteten und die – auch im Blick auf die Rolle von Eliten bei der Repräsentation von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus 17 – nicht nur Gegenstand soziologischer Forschungen ist (vgl. etwa die Studien von Robert Miles, Stuart Hall oder Uli Bielefeld), sondern eben auch zum engeren Themenkreis, ja zur Grundlagenreflexion der mit Interkulturalität befassten Sprach- und Literaturvermittlungsprozesse gehören muss, wird aber in der ebenfalls von Alois Wierlacher verfassten Evolutions- und Erfolgsgeschichte der Interkulturellen Germanistik im ersten Abschnitt des hier vorliegenden Handbuchs ebenso wenig berücksichtigt wie in den von ihm zu diesem Teil des Buches verfassten Beiträgen zu Interkulturalität, Kritik, Professionalität oder Toleranz, die es – wer möchte angesichts der aktuellen Weltlage als Advocatus Diaboli denn auch etwas anderes vertreten? – alle darauf anlegen, die Spur des Guten im Gang der Weltgeschichte zu suchen und der Interkulturellen Germanistik hier einen nicht ungewichtigen Anteil zuzuschreiben versuchen (namentlich im Artikel »Toleranz«, besonders ebd., S. 322 ff.).

[42] 

Dieser Hang zur Erfolgsbilanz (als Disziplin) und zur Gutwilligkeit (der Menschen als professionellen Botschaftern dieser Gedanken) mag dann wohl auch etwas die Auswahl der hier vorgelegten Stichworte erklären, die nahezu alle auf der diesseitigen Grenze zum Bösen / zu Gewalt als Beziehungsmuster interkultureller »Begegnung« hin angesiedelt sind, damit aber leider auch nicht ganz weit davon entfernt sind, das Arbeitsfeld interkultureller Beziehungen vor allem schön zu reden: Macht, Elend, Abhängigkeit und Ausbeutung sind nicht nur Substantive im Wirtschaftsdeutsch, sondern auch Beschreibungskategorien globaler Verhältnisse, in denen die Bundesrepublik, nicht anders als die meisten anderen wirtschaftlich führenden Staaten auch, eine durchaus »gemischte« Rolle spielt. Es gibt hier eben nicht nur (so S. 319 angesprochen) Toleranz als »staatstragendes Prinzip« und als »konstantes Motiv der kulturpolitischen Verlautbarungen der Bundesrepublik Deutschland seit 1949«; die Bundesrepublik stellt vielmehr europaweit – deutlicher aus polnischer oder spanischer Perspektive als vom Inland aus zu sehen – etwa bei der Durchsetzung rigider Abschottungsmaßnahmen der Festung Europa (»Schengener Abkommen«) durchaus eine treibende Kraft dar und die von der Interkulturellen Germanistik allenthalben in Anspruch genommene Vorstellung eines »Dialogs der Kulturen auf Deutsch«, 18 ja auch die Forderung der Toleranz, steht – nicht nur in diesem Handbuch – auch im Rahmen eines von Europa und auch von Deutschland vertretenen neoliberalen Modells globaler Wirtschaftsbeziehungen, einer vor allem am Interesse der »Starken« ausgerichteten Sichtweise internationaler Beziehungen und eines entsprechenden »Flüchtlingsregimes«.

[43] 

Interkulturelle Germanistik, die ja auch ansonsten für sich in Anspruch nimmt, »von dieser Welt zu sein«, bewegt sich auch innerhalb dieser durchaus harten Vorgaben, sie arbeitet mit Medien und Geldern innerhalb dieser Bezugsfelder und muss sich – ähnlich wie die ältere Entwicklungshilfe oder auch »Entwicklungszusammenarbeit« – wohl auch hier positionieren. Hier nur die guten Seiten der »europäisch-deutschen Sicht« (S. 322) hervorzuheben, rückt das Arbeitsgebiet Interkultureller Germanistik dann auch in die Nähe anderer, vergleichsweise ideologischer Projekte. Zugleich sei allerdings auch hier wieder darauf hingewiesen, dass etwa in Bezug auf den dialektischen Begriff der Grenze oder die Setzung beziehungsweise Reflexion des Fremden auch innerhalb der Beiträge dieses Buches der Komplexität und damit auch der Zwiespältigkeit der vorgenommenen Beschreibungen und Setzungen durchaus angemessen Rechnung getragen wird.

[44] 

Dritter Schwerpunkt:
Komponenten
(4. Abschnitt)

[45] 

Den eigentlichen Kern des vorliegenden Buches stellt freilich das – auch vom Umfang her umfassendste – vierte Kapitel dar, das neben den drei traditionellen Arbeitsbereichen: Sprache- und Literaturdidaktik sowie Landeskunde um einen vierten Abschnitt: Xenologie und Kulturkomparatistik erweitert ist und das so etwas wie das kulturalistische beziehungsweise interkulturelle Kernstück der Entwicklung vom Ausländer- beziehungsweise Gastarbeiterdeutschunterricht über »Deutsch als Fremdsprache« hin zur »Interkulturellen Germanistik« darstellt. Auch hier sind zunächst die Kompetenz, der Informationsgrad und ebenso die weiterführenden Aspekte der einzelnen Unterkapitel zu loben, zumal sie neben Übersicht und Sachdarstellung auch eine Fülle praktischer, auf die Innovation von Lehre und Unterrichtspraxis zielender Ansatzpunkte und Impulse enthalten; stellvertretend auch für andere sei hier auf den Artikel zu Schreibtheorie und -praxis von Gerd Antos und Karl-Heinz Pogner (S. 396 ff.) verwiesen. Ausgesprochen informativ und auch lesenswert im Blick auf die kritische Reflexion möglicherweise überzogener Ansprüche an die Heilungskraft des Deutschen in einer aus den Fugen geratenen Welt sind die beiden Beiträge von Ulrich Ammon (S. 345 ff. beziehungsweise S. 356 ff.).

[46] 

Während sich im sprachwissenschaftlichen Teil theoretisch angeleitete Artikel (unter anderem zu Soziolinguistik, zu anthropologischer und interkultureller beziehungsweise kulturkontrastiver Linguistik), praxisbezogene und eher auf den historischen Rahmen beziehungsweise auf institutionelle Ausformungen bezogene Artikel die Wage halten und diese Beiträge auch zeigen, dass sich der heutige Stand interkultureller und angewandter Sprachwissenschaft gut in den Entwicklungsgang der modernen Linguistik seit den 1970er Jahren einfügt, stehen im Teil zur Literatur und ihrer Didaktik eindeutig die kulturwissenschaftlich ausgerichteten Perspektiven und Ansatzpunkte im Vordergrund. Diese Ausrichtung trägt zum einen der kulturwissenschaftlichen Wende seit den beginnenden 1990er Jahren Rechung – hierzu sind auch maßgebliche Autoren der damals einsetzenden Diskussion: Mecklenburg, Bachman-Medick, Steinmetz, Großklaus mit instruktiven Artikeln vertreten –, zum anderen wird damit aber die Legitimität der Interkulturellen Germanistik überaus stark an die Konjunktur und auch an die Fallen des Kultur-Begriffs in dem oben bereits angesprochenen Sinn einer Kulturalisierung nicht nur des Sozialen, sondern auch des Umgangs mit Literatur gebunden.

[47] 

Neben einer stärker soziologischen Brechung der naiv »kulturell« genannten Zusammenhänge beziehungsweise einer stärkeren Beachtung divergierender Reibungsflächen unter den unterschiedlichsten Produktions- und Rezeptionsbedingungen aller Herren Länder, die in diesem Zusammenhang allzu schnell als kulturell codierte in Rechnung gestellt werden, wäre hier – auch im Blick auf die beiden Kapitel zur Komparatistik im Sinne des in Deutschland so bezeichneten Arbeitsfeldes »Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft« – auf die Orientierung des Umgangs mit Literatur als einer auf Autonomie und Ästhetik zielenden selbständigen Praxisform und eine diesbezügliche Ebene der Reflexion hinzuweisen. Galten literarische Texte in einer spezifischen Lesart älterer Provenienz lediglich als Ausdruck klassenkultureller Gegebenheiten und als Widerspiegelung sozialer Konfliktlagen, wogegen seinerzeit – vielfach zu Recht, manchmal auch zu unrecht gescholten – eine werkimmanente Literaturkritik und beispielsweise auch Wellek und Warren 19 entschieden Stellung bezogen, so gilt nunmehr offensichtlich ein durchgängig kulturalistisch deutbares Werkverständnis, das allerdings vielleicht nicht nur den Potentialen und Formen »schöner Literatur« im Allgemeinen zu wenig Beachtung schenkt, sondern auch die Möglichkeiten der Arbeit mit Literatur als Zeichensystemen eigener Ordnung in interkulturellen und anderen Lern- und Arbeitszusammenhängen unterschätzt beziehungsweise einengt.

[48] 

Während der knappe Beitrag von Ulrich Müller (S. 457–461) in sehr überzeugender Weise auf die Möglichkeiten hinweist, die auch die Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten und Literaturen für einen Deutschunterricht in interkulturellen Feldern bietet, stellt der voranstehende Beitrag zu einer »Kulturthematischen Literaturwissenschaft« (U. Hudson-Wiedenmann) nicht nur ein schönes Beispiel für ein Ableitungsschema dar, das auch dem Dia-Mat alle Ehre gemacht hätte, 20 es bleibt auch zu fragen, ob die hier angesprochene »Kulturraum-Hermeneutik« (ebd., S. 453) nicht geradewegs in jene metaphysischen Setzungen und Fallen zurückführt, aus denen die Völker- und Kulturen-Psychologie der Jahrhundertwende sich auch nicht befreien konnte. Erst das Desaster dieser ontologischen beziehungsweise holistischen Kulturvorstellungen in den historischen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre, die epistemologisch an diese anschlossen, führte dann ja in der Welt nach 1945 zumindest im Westen und wenigsten bis zu den 1980er Jahren auch zu einer analytisch-kritischen, also rationalen Selbstbegrenzung scheinbar wissenschaftlich legitimierter Aussagen über Gruppen und erst recht Großgruppen und deren »Lebens-Räume«; nunmehr scheint diese Selbstbegrenzung angesichts der Kultur als eines »neuen« Paradigmas in diversen Ableitungen, Etikettierungen und Ermunterungen wieder unterzugehen.

[49] 

Dem damit angesprochenen Zusammenhang von Fremdheitserfahrungen und kulturellen Codes ist innerhalb des vorliegenden Handbuchs schließlich ein eigenes Kapitel (4.4) gewidmet, in dessen Zentrum sich zwei Versuche finden lassen, im Anschluss an das weltläufige Selbstverständnis, das literaturkomparatistisches Arbeiten zumindest seit dem Ende der 1940er Jahre auch in Deutschland gewonnen hat, 21 so etwas wie eine kulturwissenschaftliche Ausrichtung beziehungsweise Grundlegung zu entwickeln (P. V. Zima, E. Scheiffele). Tatsächlich dürften sowohl die Annäherung zwischen Komparatistik und Germanistik, im Sinne einer Erweiterung der Perspektiven und des Lektürekanons, für die weitere Entwicklung und auch Legitimierung literaturwissenschaftlichen Arbeitens als auch eine kulturhistorische oder kultursoziologische Fundierung beziehungsweise Orientierung einer Komparatistik, die neben dem Buch auch andere Medien sowie die Wechselbeziehungen zu anderen sozialen Handlungsfeldern, Wissensreservoiren und (!) Künsten kennt und bearbeitet, ausgesprochen sinnvoll und aussichtsreich sein und könnten – wie vorgeschlagen – ebenso zur Stärkung der Komparatistik wie zur Profilierung der Germanistik beitragen.

[50] 

Ob Komparatistik freilich als Kern eines eigenen Arbeitsfeldes Xenologie taugt, dem im Anschluss an Munasu Duala-M’bedys gleichnamige, kritische Studie von 1977 22 gerade im Werdegang der deutschen Interkulturellen Germanistik einige Aufmerksamkeit zugekommen ist, muss weiter diskutiert werden, zumal im vorliegenden Buch mit dem Hinweis auf interkulturelle Philosophie (22. Abschnitt im 2. Kapitel) und Religion (2. Abschnitt in Kapitel 4.4), auf Wissenskulturen (verschiedene Abschnitte im 2. Kapitel), aber auch auf Wirtschaftsverfassungen, Politik und Rechtskulturen (4.3 und 4.4) noch andere paradigmatische Felder angesprochen werden, von denen aus sich Prozesse der Zuwendung, der Interaktion, der Reflexion und auch des Abbruchs interkultureller Lern- und Arbeitsprozesse diskutieren lassen.

[51] 

Auch sind die beiden Unterkapitel »Kulturwissenschaftliche Landeskunde« (4.3) und »Kulturwissenschaftliche Xenologie« (4.4.), so zeigt es eine vergleichende Lektüre des anregenden Textes »Deutschlandstudien als vergleichende Wirtschaftsstudien« (N. Reeves, S. 576 ff.), der im Kapitel »Xenologie« steht, mit Beiträgen aus dem Feld der Landeskunde (etwa »Politische«, »Geographische« oder »juristische Landeskunde«, S. 513 ff.) weniger deutlich zu differenzieren als es die Zuordnung der beiden Unterkapitel zunächst nahe legen möchte. Tatsächlich sind Reflexionen und Akzente, die sich – immer wieder völlig zu Recht im Anschluss an Georg Simmel 23 – mit den besonderen Konstruktionen des Fremden 24 beschäftigen, in interkulturellen Lebens- und Lernprozessen unabdingbar und angesichts der realen Mobilitätsverhältnisse in den Gesellschaften der Moderne überall sowohl von Nöten als auch an der Tagesordnung (des Alltags). In dieser Hinsicht ist es, soll das Handbuch eben in seiner Funktion als Repräsentation eines Arbeitsfeldes ernst genommen werden und entsprechend anleitend und strukturierend auf eine bestimmte Praxis wirken, zu begrüßen, dass dem Thema ein eigenes Unterkapitel gewidmet wurde. Andererseits ist eben fraglich, ob die damit gegebene Absetzung des »Fremden« von anderen Interaktionszusammenhängen und Arbeitsansätzen dieser Besonderheit der Beziehung zu anderen Menschen und Gruppen nicht zuviel Aufmerksamkeit widmet, in der Konsequenz stärker Scheindifferenzen und -evidenzen setzt sowie Phänomene der Unterscheidung totalisiert oder verabsolutiert. Hier würde eine an den Vorstellungen von Bernhard Waldenfels 25 zur gemischten Gemengelage des Verhältnisses von Alter und Ego orientierte Reflexion, die seine Warnungen vor einem Verschlingen des Fremden durch Verstehen zum Ausgangspunkt nimmt, auch die Handlungs- und Selbstverstehensmöglichkeiten Interkultureller Germanistik erweitern und vertiefen können; hierauf wird aber, anders als in den Beiträgen des Handbuchs der Kulturwissenschaften 26 nur auf der Oberfläche Bezug genommen. Vorschnell werden Lösungen und Rezepte postuliert, statt die produktiven Spannungen des Widersprüchlichen und Paradoxen, eben zentrale Eigenschaften kultureller Codierungen, der künstlerischer Praxis und literarischer Texte, als Muster im Umgang mit dem Fremden in die jeweiligen Arbeitszusammenhänge aufzunehmen. »Es ist … im Grunde«, so das alte Paradox der Fremdwahrnehmung, »ganz einfach: Die Niederländer sind genau wie wir, nur eben völlig anders.« 27

[52] 

Von der Notwendigkeit, den Grenzen
und einer möglichen Selbstüberforderung
der Interkulturellen Germanistik
am Beispiel dieses Handbuchs

[53] 

Im Falle des Arbeitsbereichs Deutsch als Fremdsprache, aus dem sich in den letzten drei Jahrzehnten das Arbeitsfeld »Interkulturelle Germanistik« heraus entwickelt hat, ist unter institutionellen Gesichtspunkten sicher zunächst von einer Erfolgsgeschichte auszugehen; hierüber gibt insbesondere das erste Kapitel des vorliegenden Buches ausführlich und nicht ohne Eitelkeit Auskunft. Freilich war diese Geschichte wohl tatsächlich auch an objektive Entwicklungen gebunden, die ihr eine gewisse Notwendigkeit zuschreiben konnten: Eine in den 1960er Jahren beginnende Globalität des Denkens, die mit der Exportorientierung der Bundesrepublik ebenso verknüpft war wie mit den Ansätzen Deutschlands, im Rahmen der Westintegration auch als Motor von Entwicklungshilfe und Kulturaustausch eine wichtigere Rolle einzunehmen, Vorboten der heute viel diskutierten, wenn auch de facto überschätzten Globalisierung.

[54] 

Die damit verbundenen Prozesse, ebenso aber auch Kriege und andere Katastrophen führten dann seit den 1970er Jahren dazu, dass die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Hochschulen und deren Bedarf an Deutschkursen, Lehrern und Dozenten stieg; zugleich wuchs, nach dem Ende der Anwerbe- und Austauschphase von Arbeitsmigranten (Anwerbestopp 1973), die ausländische und nicht Deutsch sprechende Wohnbevölkerung, die seit den 1970er Jahren auch im Bereich der Elementar- und weiterführenden Schulen einen gewissen Bedarf an Deutschkursen weckte und eine entsprechende Zahl von »Deutsch als Fremdsprache«-Dozentinnen und -Dozenten bei Volkshochschulen, sozialen Einrichtungen und freien Trägern erforderte. Als Muster freilich galten nicht interkulturelle oder an einer Reziprozität der Perspektiven orientierte Austauschprozesse, sondern noch immer (und heute am deutschnationalen Stammtisch wieder) einseitige Anpassungs-, Adaptions-, gegebenenfalls auch Integrationserwartungen.

[55] 

In dieser Hinsicht stellte das im Handbuch zitierte Gründungsdokument der »Gesellschaft für interkulturelle Germanistik« von 1985, in dem von einem »produktiven Wechselverhältnis von Fremden und Eigenem«, von der »Besinnung … auf die kulturelle Vielfalt« und der Überwindung »ethnozentrischer Isolierung« (ebd., S. 7) die Rede ist und dessen Intention und Form sicher im Wesentlichen zu den Leistungen Alois Wierlachers zu zählen sind, tatsächlich das Dokument einer Epochenzäsur dar: Der Wechsel der Perspektiven wurde ebenso ernst genommen wie sich das Themenfeld erweiterte und methodologische Innovation und Reflexion an Bedeutung gewannen. Wer wie der Verfasser in den 1980er Jahren an unterschiedlichen Stellen auch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet beziehungsweise an Fort- und Weiterbildungen teilgenommen hat (und dann auch selbst solche organisiert hat), kann sich gut daran erinnern, wie wichtig diese Veränderungen waren, und natürlich auch, wie hilfreich und anregend die von Wierlacher und anderen in diesen Jahren und in diesem Kontext veröffentlichten Beiträge, mitunter auch Vorträge und personale Interventionen gewirkt haben.

[56] 

Auf dieser Linie liegt auch das Handbuch im Ganzen; es stellt eine weitere Markierung im Feld wissenschaftlicher Innovation und interdisziplinärer Orientierungen dar und es bietet zugleich eine Fülle von Anregungen und Informationen zu den in den Arbeitsbereichen Interkultureller Germanistik zentralen Themen und Handlungsbereichen, auch wenn angesichts des Fortbestehens, des Wiedererstarkens, ja der gegenwärtigen Umcodierung sozialer Konfliktlagen und ideologischer Debatten in Richtung einer Kulturalisierung sozialer Ausschließungsvorgänge und einer Restitution nationalkultureller Muster nicht nur die Grenzen des hier in Erscheinung tretenden Musters einer kommunikativen Verbesserung der Interaktions- und Verstehensprozesse als Ausdruck einer historischen Situation erkennbar werden, sondern nicht zuletzt auch angesichts der innerhalb der vorgestellten Ansätze und Konzeptionen vorhandenen Widersprüche, Selbstüberforderungen und Unbestimmtheiten auch noch einmal grundsätzliche Fragen zur Begründung und Entwicklung interkultureller Germanistik aufkommen und weiter bearbeitet werden müssen.

[57] 

Hierfür freilich stellt das vorliegende Handbuch eine unverzichtbare Basis dar; es bietet einen Ausgangspunkt für weiteres Arbeiten, aber auch für kritische Reflexion; es fordert mitunter auch Distanz und Revision, eben auch im Blick auf die Grundlagen und inzwischen gewachsenen Selbstverständlichkeiten, auf denen es selbst aufbaut; insoweit auch unverzichtbar als Stachel weiterer Entwicklungen.



Anmerkungen

Vgl. Werner Schiffauer: Verhandelbare Diskursfelder. Beschwörungen eines Phantoms: die Angst vor kultureller Desintegration. In: Frankfurter Rundschau 97 vom 27. April 1999, S. 18.   zurück
Zitiert nach Slavoj Žižek: Zynismus als Form postmoderner Ideologie. In: Frankfurter Rundschau vom 17. August 1995, S. 7.   zurück
Klaus Eder: Das Paradox der »Kultur«. Jenseits einer Konsensustheorie der Kultur. In: Paragrana 3 (1995),1, S. 148–173, hier S. 157; S. 161.   zurück
Ebd., S. 164.   zurück
Vgl. etwa die Beiträge von Wolfgang Kaschuba und Ulf Hannerz in: Wolfgang Kaschuba (Hg.): Kulturen – Identitäten – Diskurse. Perspektiven Europäischer Ethnologie. Berlin 1995.   zurück
Vgl. etwa Micha Brumlik: Die Entwicklung der Begriffe »Rasse«, »Kultur« und Ethnizität im sozialwissenschaftlichen Diskurs. In: Eckard J. Dittrich / Frank-Olaf Radtke (Hg.): Ethnizität – Wissenschaft und Minderheiten. Opladen 1990, S. 179–190.   zurück
Vgl. Geert Hofstede: Cultures and Oganizations. Software of the Mind. New York: McGraw-Hill 1997, beispielsweise S. 67 ff. die Gegenüberstellung kollektivistischer und individualistisch orientierter Gesellschaften.    zurück
Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des Neuen Kapitalismus. Berlin 1998, S. 147 u. p.   zurück
Vgl. Wolfgang Kaschuba: Kulturalismus: Vom Verschwinden des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. In: Berliner Journal für Soziologie Heft 2 (1994), S. 179–192.   zurück
10 
Vgl. Hermann Bausinger: Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? München 2000.   zurück
11 
Vgl. Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim, Basel 1997.   zurück
12 
Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe. 3 Bde. Stuttgart, Weimar 2004.   zurück
13 
In der Inhaltsübersicht S. V falsch H. R.(!) Reich.   zurück
14 
Vgl. Bernhard Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt / Main 1994 (vor allem Kapitel 11 im 2. Teil).   zurück
15 
Vgl. Oswald Schwemmer: Kulturelle Identität und moralische Verpflichtung. Zum Problem des ethischen Universalismus. In: Information Philosophie 3. Juli 1992, S. 5–21.   zurück
16 
Ein Beispiel, wie schnell und unreflektiert Interkulturalität des Reisenden in die bornierte Verachtung der anderen umschlagen kann, und zwar gerade in »Anerkennung« ihres als feindselig und bedrohlich erkannten Blicks beziehungsweise ihrer Leiblichkeit, bietet der gerade erschienene Text Matthias Polityckis: »Weißer Mann – was nun?«. In: Die Zeit Nr. 36 vom 1. September 2005, S. 39 f.   zurück
17 
Vgl. z. B. Teun A. van Dijk: Elite Discourse and the Reproduction of Racism. University of Amsterdam Papers. Amsterdam 1990.   zurück
18 
Vgl. etwa S. 6 u. p. Kritische Reflexion an diesem durchaus fragwürdigen Universal-Anspruch wurde schon am Ende der 1980er Jahre laut, fand allerdings in die Reflexion der eigenen Ansprüche im vorliegenden Handbuch keinen Eingang; wohl weil deren Vertreter nicht zum engeren Kreis der wirklich »wichtigen« Leute gehören; vgl. Peter Zimmermann (Hg.): Interkulturelle Germanistik. Dialog der Kulturen auf Deutsch? Frankfurt / Main, Bern, New York, Paris 1989.    zurück
19 
Vgl. René Wellek / Austin Warren: Theorie der Literatur. Frankfurt / Main 1971 (amerikanische Erstausgabe 1949).   zurück
20 
Vgl. ebd., S. 452: »Die kulturelle Repräsentativität von Themen erweist sich demnach am Grad ihrer Teilhabe an und der Strukturierung von gesellschaftlichen Reproduktionsprozessen.«   zurück
21 
Auch in Deutschland, das sich in seiner westlichen Hälfte immerhin bereits 1949 einen ersten Lehrstuhl für AVL leistete, der freilich in Mainz nicht ohne größere Einflussnahme der französischen Militäradministration eingerichtet werden konnte; in Frankreich konnte Joseph Texte bereits 1897 den ersten Lehrstuhl für Vergleichende Literaturgeschichte besetzen.   zurück
22 
Vgl. Munasu Duale-M’bedy: Xenologie. Die Wissenschaft vom Fremden und die Verdrängung der Humanität in der Anthropologie. Freiburg, München 1977.   zurück
23 
Vgl. Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: G. S.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Berlin 51968, S. 509–512.   zurück
24 
Grundlegend hierzu Alois Hahn: Die soziale Konstruktion des Fremden. In: Walter M. Sprondel (Hg.): Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Funktion. Für Thomas Luckmann. Frankfurt / Main 1994, S. 140–163; Rudolf Stichweh: Der Fremde – Zur Soziologie der Indifferenz. In: Herfried Münkler (Hg.): Furcht und Faszination der Fremdheit. Berlin 1997, S. 45–64.   zurück
25 
Vgl. u. a. Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden. Frankfurt / Main 1990.   zurück
26 
Vgl. Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Anm. 12).   zurück
27 
Bernd Müller: »In Holland ohne Not«. In: Jacobus Delwaide / Georg Michels / Bernd Müller (Hg.): Die Rheingesellschaft. Mentalitäten, Kulturen und Traditionen im Herzen Europas. Baden-Baden 2003, S. 17–31, hier S. 30.   zurück