Werner Nell

Eine Kulturanalyse in vielen Facetten




  • Mieke Bal: Kulturanalyse. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002. 371 S. zahlreiche Abb. Gebunden. EUR 35,90.
    ISBN: 3-518-58354-9.


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Mieke Bal, international bekannte und viel diskutierte niederländische Literaturwissenschaftlerin, Kunst- und Kulturhistorikerin, tritt mit der vorliegenden Sammlung von Aufsätzen und Buchauszügen das erste Mal in Buchform in deutscher Sprache in Erscheinung; sporadisch sind zuvor schon Beiträge, zumal in Sammelwerken, erschienen. Auch wenn die Themen der hier vorliegenden Studien von der Literatur- und Kulturtheorie über das Metropolitan Museum of Modern Art und das American Museum of Natural History in New York, den Vorgang des Sammelns, Marcel Prousts Erinnerungs- und Geschlechterkonstruktionen, Bill Violas zeitgenössische Video-Installationen, private Fotographien, die bildenden Künstler(innen) Kathleen Gilje, Gianlorenzo Bernini, Caravaggio und Louise Bourgeois bis hin zu verschiedenen Beispielen zeitgenössischer Installationskunst reichen und damit an die Essay-Sammlungen Georg Simmels erinnern, handelt es sich um nichts weniger als um eine Blütenlese oder eine Obstschale unterschiedlichster Formen und Inhalte, die nicht durch ihren Reichtum oder ihre Farbenpracht allein überzeugen will.

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Vielmehr stellt das Buch, so noch einmal besonders hervorgehoben in einer für die deutsche Publikation verfassten theoretischen Besinnung, die das erste Kapitel »Wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien« bildet (S. 7–27), den Anspruch, eine theoretisch konsistente Begründung, Zentrierung, ja Neuausrichtung des inzwischen auch in Deutschland vieldiskutierten Ansatzes der Kulturwissenschaften zu bieten.

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Der Grundriss

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Bals zentraler Ansatz ist das Konzept der »Kulturanalyse«, das der vorliegenden Sammlung nicht nur den Titel gibt, sondern immer wieder aufgenommen wird, teils um den einlässlichen Studien eine Perspektive zu bieten, teils um der Vielfalt von Erfahrungen und Formen einen gemeinsamen Nenner zu unterlegen. Jedes Mal geht es dabei darum, anhand einer »nahen«, eindringlichen Analyse kultureller Objekte, oft auch in einer vergleichenden Perspektive, die in ihnen enthaltene und gestaltete Subjektivität in ihren zeitlich-gesellschaflich-kulturellen Rahmenbedingungen und darin in ihrer Besonderheit zu erkunden. Zugleich aber geht das Interesse der Verfasserin auch darauf, in der Lesart des Objekts die darin mit erscheinende Subjektivität des / der Analysierenden zu thematisieren und im Modus der Analyse »auszusagen«, um darüber Reflexion und Kommunikation anzustoßen. Visualität tritt gleichermaßen beachtet neben Literarizität.

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Eine Gemeinsamkeit der diversen Akte des Lesens, die im vorliegenden Buch vorgestellt werden, ist eine Kohabitation der theoretischen Reflexion und des Lesens, bei der das thematisierte ›Objekt‹ zum Subjekt wird und an der Konstruktion theoretischer Anschauungen mitwirkt. (S. 43)
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Von Verobjektivieren zu sprechen, würde dabei den Intentionen der Verfasserin, die sich im übrigen auch gegen die Orientierung von Werk-Analysen an einer supponierten Intention der diese schaffenden Künstlerinnen und Künstler ausspricht (vgl. Kapitel 10 »Plädoyer gegen den Begriff der Intention«), deutlich widersprechen. Tatsächlich lässt sich aber in den Dimensionen einer ins Allgemeine gestellten Aussage nicht so genau zwischen Subjekt und Objekt trennen; hierzu müssen dann schon die Kontexte und die Lesarten, Möglichkeiten und Pluralität von Sinn-Strukturen jeweils im Konkreten herangezogen und dargestellt werden, was dann auch den besonderen Reiz der hier vorliegenden, nahe an den Objekten, nahe an den Texten, nahe an den Subjekten ausgeführten Analysen ausmacht.

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Themen und
theoretische Hintergründe

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Für diejenigen, die sich über die hier versammelten Studien das erste Mal mit Mieke Bal und mit den in ihrem kritischen Werk verknüpften Theoriesträngen (Semiotik, Psychoanalyse, Dekonstruktivismus, Feminismus, Postcolonial Studies) bekannt machen wollen, enthält das Buch zusätzlich zu den in ihrer Themenvielfalt weit schweifenden, zugleich doch immer auch methodisch und analytisch konzentrierten zehn Untersuchungen Bals ein Nachwort der beiden Herausgeber, das über die zeit- und theoriegeschichtlichen Hintergründe sowie über die Entwicklungen des Arbeitsansatzes und der Interessenschwerpunkte von Bal informiert; hinzu kommt schließlich ein umfangreicheres Literaturverzeichnis (S. 357–371), das neben dem Beleg der verwendeten Literatur auch über die Forschungsdiskussionen informiert, innerhalb derer sich Bal bewegt und mit ihren Arbeiten rezipiert wird.

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In der Verknüpfung theoretischer, vor allem auch begrifflicher Anstrengung mit vielgestaltigen Einzelanalysen, die tatsächlich in ihrer Breite und Tiefe jeweils auch für sich stehen können beziehungsweise auch in anderen durch den Forschungsgegenstand angestoßenen Zusammenhängen und Disziplinen von Wert sind, sind die Arbeitweise, die theoretische Reflexion und die kaleidoskopartige Darbietung der Ergebnisse am ehesten vielleicht mit Walter Benjamins Arbeiten zu vergleichen, dessen Sich-Einlassen auf die unterschiedlichsten Gegenstände, vom Kinderspielzeug bis zum barocken Trauerspiel, ebenfalls neben der Erschließung des Gegenstands selbst den Anspruch theoretischer, grundlegender epistemologischer Reflexion stellt und an und in den Gegenständen vorführt. Nicht zuletzt finden sich – ebenfalls wie bei Benjamin – auch subjektive Erfahrungen und Perspektiven der Autorin, der Beobachterin entfaltet, zumal etwa im Kapitel 9 »Erinnerungsakte. Performance der Subjektivität« (S. 263 ff.), in dem das Thema der Erinnerungsarbeit gegen eine schnelle, in unterschiedlichen Rhythmen beschleunigte Zeit am Beispiel einer Videoinstallation des irischen Künstlers James Coleman von 1998 / 1999 aufgearbeitet wird und das zugleich die beobachtende Analytikerin bei der Anfertigung von Notaten zeigt, die ihrerseits gegen den und unter dem Eindruck der in der Videoinstallation angebotenen Bilder und Stimmen hergestellt und reflexiv erschlossen werden wollen (vgl. vor allem S. 278 ff.).

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In der Regel wird die theoretische Reflexion in einer subjektiven, zum Teil, wenn es wie in Kapitel 6 um Proust einerseits, um private Familienbilder andererseits geht, auch persönlichen Tönung angeboten und, so auch – im Hinblick auf Prousts Erinnerungskonzeption und Geschlechterkonstruktion – weitergeführt. Fast überall findet sich neben historisch biographischen Reminiszenzen (z. B. S. 72, S. 268), die uns mit den Umständen, Interessen, vor allem auch den biographischen Sedimenten und Gefühlslagen vertraut machen, in deren Rahmen die Verfasserin ihre Wahrnehmungen beobachtet und reflektiert, ein explizites und sich explizierendes Ich als Ausgangspunkt, ebenso aber auch als Objekt der theoretischen Reflexion. Die Entfaltung der Theorie zeigt sich so selbst wiederum eingebunden in eine narrative Struktur – was freilich in der hier angebotenen gedanklichen Anstrengung und auch in den unterschiedlichen Überlegungen und Bezugsebenen der Reflexion die Lektüre des Buches nicht einfach macht. Der Bezug zu Benjamin stellt denn neben semiotischen (C. S. Peirce, E. Benveniste, U. Eco) und poststrukturalistischen Diskussionspartnern wie J. Lacan, R. Barthes und J. Derrida, Vertreterinnen der Gender-Forschung wie Julia Kristeva und Judith Butler und »postkolonial« ausgerichteten Kulturtheoretikern wie G. Spivak, H. Bhabha und A. Appadurai die wichtigste und durchgängig wieder aufgenommene Orientierungslinie in den theoretischen Reflexionen und in der Erörterung des »Materials« der kulturwissenschaftlichen Analyse seitens der Autorin dar.

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Arbeitsgebiete
und Erfahrungsräume

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Bal hat seit den 1980er Jahren auf den Gebieten der französischen Literatur, der Komparatistik, der Frauenforschung, der Kunstgeschichte, der Anthropologie, der Wissenschaftsgeschichte und der historischen Bibelforschung gearbeitet; ihr Œuvre umfasst Bücher zur Erzählforschung, zu einer feministischen Lesart der biblischen Liebesgeschichten, zur Darstellung und Diskussion des Patriarchats im Alten Testament (auf Deutsch bereits 1988 erschienen), zum Buch der Richter, zu Proust, Rembrand und Caravaggio sowie zur zeitgenössischen Kunstszene, zur Semiotik, schließlich zur Literatur- und Kulturtheorie. Von 1993 bis 1998 leitete sie als Gründungsrektorin das von ihr gegründete Amsterdamer Institut für Kulturwissenschaften (Amsterdam School for Cultural Analysis; ASCA); neben ihrer Lehrtätigkeit dort nimmt sie aktuell eine Professur an der (Nabokov lässt grüßen) Cornell-University in den USA wahr.

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In dieser Bandbreite, zumal in der Möglichkeit gleichsam Archaisches und unmittelbar Zeitgenössisches in künstlerischer Darstellung und theoretischer Reflexion zu verknüpfen, liegen schließlich auch der Reiz und der Ertrag der vorliegenden Sammlung von Einzelstudien, die allerdings zugleich auch den Anspruch stellen, ein Konzept der Kulturwissenschaft zu entfalten beziehungsweise angesichts ihrer modischen und medialen Aufsplitterung und Verflachung erneut zu begründen (vgl. vor allem Kapitel 1 und 2). Schon die hier vorliegenden einzelnen Studien lassen zunächst staunen über die Reichweite des Bal zur Verfügung stehenden kulturgeschichtlichen Materials und vermitteln auch einen Eindruck von der Aufgeschlossenheit, der Beharrlichkeit und der analytischen Kraft der Verfasserin; zugleich wird freilich auch von den Lesern eine Weltläufigkeit im Umgang mit den – gerade in der Moderne doch auch global zwischen zumindest New York, Paris und Amsterdam verstreuten – Kunststandorten und Lebenszusammenhängen erwartet, die wohl nur von einer sehr kleinen Gruppe von Intellektuellen und Studierenden der Kulturwissenschaften eingelöst werden kann.

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In dieser Beziehung – und ein entsprechender Effekt spielt auch dann eine Rolle, wenn über die Möglichkeiten des Arbeitens mit diesem Buch im akademischen Unterricht nachgedacht werden sollte – stellt das Buch die Ansprüche eines avantgardistischen Modells, es ist der Versuch Modellanalysen vorzulegen, wobei die Grundlagen für die Einschätzung und Angemessenheit der Modelle selbst erst in der Durchführung der Analysen gewonnen werden können; in dieser Hinsicht nimmt das Buch Bezug auf die großen Textanalysen in der Tradition des »New Criticism«, des »close reading« (S. 312), der »explication de textes« und auch der werkimmanenten Methode, zumal da, wo sie – wie von Wolfgang Kayser oder René Wellek und Austin Warren – durchaus in komparatistischer Perspektive entfaltet wurden. Freilich besteht ein zentraler Unterschied zwischen Bal und den genannten älteren Ansätzen – und dieses wäre dann der hier vertretene kulturwissenschaftliche Ansatz – darin, dass eben nicht nur das Material der Sprache, sondern die kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen, zu denen nicht zuletzt Formen der kulturellen Codierung von Geschlecht (Gender, Geschlechterordnung) und Identität gehören, für die diskursive Verfasstheit der Werke und ihre diesbezügliche Analyse zugrunde gelegt werden.

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Grenzen

[16] 

Die Besonderheit des Zugangs, gerade auch da, wo dieser sehr überzeugend dargestellt wird (Kapitel 2, 3, 10), was sich nicht für alle Kapitel (z. B. Kapitel 6–9) gleichermaßen sagen lässt, kann wohl nur auf einer sehr elaborierten Ebene wahrgenommen und weitergeführt werden. Wer freilich Kulturwissenschaften lehren möchte, gegebenenfalls in deren Verflachung zu einem wie auch immer bestimmten »berufsqualifizierenden« BA-Studium nicht die alleinige Zukunft der universitären Arbeit sehen kann (Bal selbst spricht S. 8 von »verheerenden Auswirkungen«), kann hier kennen lernen, welchen Ertrag kulturwissenschaftliche Reflexion, geduldige Arbeit im Feld und eine gründlich gelehrte, reiche Bildung erbringen können; wie freilich die Lektüre des Buches in die Maßeinheiten einer »Workload« gefasst werden könnte, wäre noch zu diskutieren, setzt das Buch doch in seinem Horizont eine lebenslange und klug geleitete Bildungsbiographie voraus, die sich vielleicht nicht ganz im Halbstundentakt abarbeiten lässt.

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Eine narratologische
Subjekt- und Kunsttheorie

[18] 

Bereits in ihrem (auf Deutsch noch nicht vorliegenden) Standardwerk Narratology, einer Einführung in die Theorie des Narrativen (1985 / 1997), geht es ihr, so schreibt Bal in der hier vorliegenden Einleitung zu ihren Studien für die deutschen Leser, darum, eine Sprache, eine Begrifflichkeit, zu finden, in der die Formen des Objektiven sowohl von ihrer Eigenwertigkeit, von ihrem Eigensinn aus erkennbar und zur Sprache gebracht werden können als auch so in Erscheinung treten, dass sich darin die Subjektivität des Analysierenden subjektiv fassen und objektiv (intersubjektiv verallgemeinerbar) zeigen (lassen) kann.

[19] 
Ist es möglich, den starren Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden? Sollte man politische Fragestellungen – etwa bezüglich der Klassenzugehörigkeit – in eine formale und strukturale Analyse einbeziehen…? Und vielleicht besonders wichtig: Wie steht es mit der Möglichkeit einen Text nicht nur zu paraphrasieren und grobmaschig zu rubrizieren, sondern auch zu analysieren? Diese Einsicht hing völlig davon ab, dass man die performative Auffassung der Sinnstiftung in der Subjektivität und durch die Subjektivität bejahte…« (S. 16)
[20] 

Zugleich – und dies wird an zahlreichen Beispielen und künstlerischen Objekten innerhalb des Buches immer wieder aufgenommen – erscheinen die Formen künstlerischer Gestaltung in ihrem Vollzug durch eine wahrnehmende, teilnehmende und reflektierende Beobachterin 1 selbst als Narrationen, und zwar in einer doppelten Hinsicht: zum einen als die im Kunstwerk beziehungsweise der damit verbundenen künstlerischen Praxis / Performanz enthaltene und gestaltete Erzählung, zum anderen – und darin sich überscheidend, auch konterkarierend und steigernd – in der als Geschichte und Kritik sich entfaltenden wahrnehmenden Subjektivität.

[21] 

Die Beobachtung von Kunst wird zur Selbstwahrnehmung, diese selbst als Vollzug der Kunstkritik Erzählung (und also auch Kunst?) beziehungsweise in der Nacherzählung der Reflexionsschritte Theorie. Sehen und Sprechen, Erzählen und Gestalten, Lesen, Betrachten und Hören erscheinen so als die einfachen, alltäglichen, vertrauten und zugleich komplexen, fremden, erst einem theoretischen Zugang sich öffnenden Formen und Handlungen, in denen Menschen sich äußern, ihre Welt und sich selbst erkennen können. Erläutert wird dies beispielsweise an den möglichen Differenzen im Phänomen des Blicks und deren sprachlicher Repräsentation (englisch glance, gaze, look), anhand derer sich nicht nur ein Ineinander-Verwobensein (und damit einer reflektierenden Analyse zugängliches Muster) von Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Rahmen und Handlung, sondern auch verschiedene disziplinäre Zugänge (und deren Überscheidungen und Besonderheiten) erkennen und bestimmen lassen (vgl. S.14 f.), die ihrerseits dann auf die Singularität des Kunstwerks, die Singularität der Betrachterin zurückverweisen.

[22] 

Wahrnehmen, Erscheinen,
Verschwinden lassen

[23] 

Indem jeweils historisch und auch sonst noch zu konkretisierende Akteure im Akt des Bezugnehmens auf »etwas«, im Wahrnehmungs- und Schöpfungsakt Intentionalität und Objekt(-konstitution) mit einander verknüpfen, vollzieht sich (und zeigt sich) für Bal ein Akt kultureller Codierung. Das Kunstwerk, aber auch jedes andere Objekt der Kultur, erscheint damit als jeweils spezifisch gestaltete Erzählung einer Geschichte, die sowohl die Eigenwilligkeit, das Subjektive im Objekt (also in den Formen) zeigt als auch in der Äußerung des Subjektiven (also im Erzählvorgang) und im Wahrnehmungsakt (also beispielsweise des Zuhörens und Verstehens einer Erzählung, dem Schauen eines Films, dem Sehen einer Plastik oder Installation) die Repräsentation einer Kunst- und Selbsterfahrung sieht, und die dann jeweils im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommenden kulturellen Codes (und deren mögliche Bedeutungen) untersucht werden kann. Die Subjektivität in der Rezeption wird so als Objektives – und wiederum intersubjektiv Fassbares – erkennbar und lässt sich damit zunächst als leibliche Erfahrung, dann im Rahmen sozialen Handelns und in der kulturwissenschaftlichen Analyse als Muster, als Aktionsfeld der Kultur, als Kultur-Objekt, als »Kultur« mithin erkennen und bestimmen.

[24] 
Über die Unterscheidung zwischen sprachlichen und visuellen oder akustischen Artefakten hinausgehend, möchte ich einen wichtigeren Platz für die räumlichen Koordinaten schaffen, von denen die Kultur nicht als Ansammlung von Dingen, sondern als Prozess bestimmt wird. [...] Wie fühlt das Subjekt seine Position im Raum? Was wir ›Gefühl‹ nennen, ist die Schwelle zwischen Körper und Subjektivität sowie zwischen Körper und Außenwelt. Die äußeren Bilder sind an die als körperlich erfahrende Existenz des Subjekts ›gefesselt‹. Sie werden zusammengesperrt; das Subjekt ist in die Außenwelt ›eingesperrt‹; und außerdem sind sie, wenn man an die musikalische Bedeutung des Wortes ›Schlüssel‹ denkt, auf einander abgestimmt, miteinander in Einklang gebracht: das eine ist in die Tonart der anderen ›transportiert‹ worden. Aber das Wort ›Schlüssel‹ lässt sich auch mit Hilfe des Begriffs ›Code‹ verstehen, also im Sinne des Schlüssels zum Verstehen, Begreifen, Kommunizieren zwischen Einzelsubjekten und einer Kultur… (S. 40 f.)
[25] 

Objekte, aber auch Subjekte, sind damit gleichsam historisch und kulturell, zugleich aber auch biographisch und lebensgeschichtlich »geladen«, wobei das jeweils sich einem Verstehensprozess Öffnende, Verstehbare sich immer nur in der Form einer durch Subjektivität vermittelten Anordnung, als narrative Ordnung zeigen kann, die allerdings ihrerseits auch das Verschwinden, das Ungeschehen machen und Tabuisieren von Erfahrungen (und Menschen) bewirken beziehungsweise bezwecken kann. Im Zeigen von Bildern und in ihrer geordneten Anordnung, so das Ergebnis ihrer Analyse der Aufstellung von Schaustücken im New Yorker Museum of Natural History (Kapitel 4) können Menschen – eben wenn sie im ethnologischen Kolonialismus als »Naturvölker« porträtiert (gemacht) werden – zum Verschwinden gebracht, ihrer Würde und Singularität beraubt werden. Kulturanalyse geht hier in Gesellschafts-, genauer: Ideologiekritik über (vgl. S. 60 u. p.). Eine ähnliche Studie widmet sie einem Begriff wie »Vergewaltigung«, der – namentlich in einer kulturkritischen Verwendung – die zunächst alltagspraktische Gewaltsamkeit des Vorgangs, insbesondere auch den Personenbezug, zugunsten einer eher metaphorischen, unpersönlichen Verwendung aus den Augen verliert; die Subjektbezogenheit der Metapher, ja ihren Sinn, zum Verschwinden bringt (vgl. S. 55 ff.).

[26] 

Hundeopfer, Gottesopfer,
Menschenopfer

[27] 

Um dies zu erkennen, reicht mitunter eine einzige Drehung des Gedankens, der Perspektive, damit so beispielsweise das problematische Potential der naturgeschichtlichen Präsentation außereuropäischer Menschen erkennbar wird: Das Foto eines in Asien verorteten Hundeopfers (S. 90) wird zunächst natürlich als befremdlich und skandalös empfunden, wird im Museum als charakteristisch und typisch für die entsprechende Ethnie angeboten und bewirkt die zugehörige Befremdung, Distanz, ja Empörung.

[28] 
Das im Artefakt symbolisch dargestellte Hundeopfer wird als ›Symbol‹ für das von ihm aufgezeigte ›wirkliche Leben‹ verstanden. (Daher die Angemessenheit des kindlichen Ausrufs ›Das ist gemein.‹) Im Rahmen der … gesteuerten narrativen Darstellung kommt das realistische Modell jedoch vor dem von ihm nachgeahmten historischen Objekt und steigert so den Glauben an die anthropologische Wahrheit des modernen Ausstellungsstücks wie des alten Bildes. (S. 100)
[29] 

Erst die Rückbesinnung auf die vertraute abendländisch-europäische symbolische Ordnung durch Aufzeigen einer Analogie lässt den Vorgang in seiner Typisierung und »unsere Lesart« als Ideologie erkennbar werden. »Diese visuelle Argumentation«, so führt Bal ihre Kritik aus, »lässt sich mit der Vorstellung vergleichen, jemand versuche eine anthropologische Darstellung der abendländischen Kultur, indem er auf die Kreuzigung von mit Dornenkronen geschmückten Menschen, auf von Pfeilen durchbohrte gefesselte Leiber oder sonstige Spielarten des Martyriums zurückgreift. Da würden Fremde ausrufen: ›Das ist gemein!‹ Unsere Kinder tun das nicht. Sie sind zivilisiert und erkennen ein Symbol, sobald sie seiner ansichtig werden.« (S. 100) Wer schon einmal mit Kindern Märtyrerbilder angeschaut hat, wird vielleicht auch die Erfahrung bestätigt finden, dass es diesen über Anteilnahme an der gezeigten Grausamkeit verfremdeten Blick auf die gewalthaltigen Grundlagen abendländisch-europäischer Kulturen tatsächlich gibt und dass er – eben über Narration, Traditionsbildung und Akkulturation – immer wieder erst hergestellt werden muss. »Der Diskurs des Zeigens ist praktisch unwiderstehlich.« (S. 101)

[30] 

Tieropfer und Märtyrerkrone, die ja ihrerseits auf den geopferten Gott verweist, erscheinen dann als Ikonen einer kulturellen Praxis, die in ihrer Asymmetrie zugleich die ungleichen Anerkennungsstrukturen und Lebenschancen in der Welt globalisierter Moderne vor Augen stellen.

[31] 

Tiere und Menschen,
Kunst und Kultur

[32] 

Der hier angesprochene kritische Befund wird dann noch einmal gesteigert, wenn die Darbietung der »Stücke« im Naturhistorischen Museum mit derjenigen eines Kunstmuseums der abendländischen (»westlichen«) Moderne, des symmetrisch dazu in Opposition liegenden Metropolitan Museum of Modern Art, gelesen wird. Während dort das Singuläre als Werk des (europäischen) Menschen in seiner Besonderheit, auch in seiner damit verbundenen Unfassbarkeit, herausgestellt wird, sind – vor allem in den bildlichen Inszenierungen – die Besonderheiten außereuropäischer Völker, auch beispielsweise das Abstoßende einer Opferhandlung, darauf angelegt als ein »Typisches« verstanden zu werden. Ein Grundsatz, der dem abendländisch-westlichen Menschen als eine Selbstverständlichkeit erscheint: »Individuum est ineffabile«, wird hinsichtlich außereuropäischer Menschen außer Kraft gesetzt; die von ihnen angebotenen Bilder sollen als verstehbare Aussagen zu ihrer »Natur« und dies auch noch im Hinblick auf ein Kollektiv gelesen werden. Lebt die Würde der »Weißen« von ihrer Unerzählbarkeit, so kann die übrige »Natur« der Naturgeschichte, namentlich eben auch Tiere und Völker, in ihrem Wesen »klar« erfasst werden.

[33] 
Nach wie vor gilt, dass eine Darstellung, bei der die afrikanischen Völker als etwas visuell Erfassbares gezeigt werden, diese Völker in einer Weise, die keineswegs radikal mit dem kolonialen Zwang der ›fremden Einflüsse‹ bricht, aktiv ihrer Geschichte beraubt. Die Darstellung außerhalb der Geschichte geht Hand in Hand mit der Darstellung des Typischen. Und beim Typischen bleibt eben jene Individualität außer Betracht, die dem Begriff der Hochkunst, der dem Met zugrunde liegt, als Basis dient. (S. 113)
[34] 

Bals ideologiekritischer Befund wird dabei auf der Basis einer narratologischen Analyse des Ausstellungsaufbaus gewonnen (vgl. S. 101) und auch die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine Unschuld visueller Darbietung in kulturell, durch Machtdiskurse codierten Gestaltungs- und Wahrnehmungsformen geben kann (vgl. S. 113), wird hier entlang der Differenz und des Wechselbezugs von Praxis und Reflexion, Kultur und Kunst einer analytisch, auch psychoanalytisch gefärbten Form der Bearbeitung zugeführt.

[35] 

Rekonstruktion
der Kulturwissenschaften

[36] 

Auf die eben genannten Zusammenhänge, die hier am Beispiel des Kapitels 4 »Sagen, Zeigen, Prahlen« (S. 72 ff.), der längsten der in diesem Band vereinigten Studien, etwas genauer vorgestellt wurden, baut die von Bal vertretene kulturwissenschaftliche Arbeit; diese Ebenen zu differenzieren und reflexiv aufeinander zu beziehen ist der Akt der von ihr so bezeichneten Kulturanalyse. Kulturanalyse versteht sich damit auch als Machtanalyse und als Arbeit an der Geschichte von Wissensformen und -vorräten, als »die Geschichte von Macht / Wissen« (S. 113), die ihrerseits wieder in die Geschichte der Subjekte, in ihre zeitliche Auslegung und in die Selbstinterpretationen der Subjekte als Medien der Kunstwahrnehmung, der Kunstgestaltung und erneut der Kunstkritik hineinragen.

[37] 

Selbstverständlich werden diese Fragen hier nicht zum ersten Mal gestellt, und wer nach einem Kontext für die hier in Anschlag gebrachten Fragestellungen und Analysemuster sucht, wird im Philosophischen natürlich in den Horizont der Phänomenologie, also zu Husserl, Alfred Schütz und Bernhard Waldenfels, zurückgeführt; im Bereich der Literaturwissenschaften wäre auf Roman Ingarden, natürlich auf Benjamin und Adorno hinzuweisen und im sozialwissenschaftlichen und kulturtheoretischen Rahmen ist an die Arbeiten von Pierre Bourdieu (vor allem Le sens pratique, 1980; deutsch Sozialer Sinn, 1987), an Anthony Giddens’ Theorie der Strukturierung, namentlich aber an Erving Goffmans Rahmen-Analyse (1974; deutsch 1980) und überhaupt an die Forschungsrichtung der Ethnomethodologie zu erinnern; gerade Goffmans Arbeit verdanken die Studien von Bal denn auch wichtige, im Text entsprechend ausgewiesene Anregungen (vgl. S. 10 ff.). Hinzu kommen mit Gayatri Spivak, Judith Butler, Barbara Johnson, Evelyn Fox Keller, Kaja Silverman und anderen eine ganze Gruppe teils semiotisch, teils postkolonialistisch ausgerichteter feministischer Ansätze, die sich alle dahin gehend auswirken, dass sich die Konturen der Subjektivität, zumal historisch verletzter, diskursiv ge- und verformter, dadurch deutlicher in den Wahrnehmungen der Werke herausarbeiten lassen.

[38] 

Das bereits der Narratologie zugrunde gelegte Modell wird nun von Bal in den hier vorliegenden Studien dahingehend weiter geführt, dass auf der Basis einer solcherart auf die wechselseitige Setzung von Intention und Objektivierung ausgerichteten Untersuchung von Kulturgütern (Texten, Malereien, Photographien, Gesten, performances) die Reformulierung eines nah an den Objekten, Begriffen und Vorgängen entwickelten, präzisen kulturwissenschaftlichen Forschungsansatzes gegründet werden soll.

[39] 

Mängel und Kritik
der Kulturwissenschaften

[40] 

Bei aller Wertschätzung gegenüber den bislang durch die Cultural Studies vor allem im angloamerikanischen Raum ermöglichten wissenschaftlichen, kulturellen und auch politischen Fortschritten:

[41] 
Durch die Infragestellung methodologischer Dogmen sowie elitärer Vor- und Werturteile haben die cultural studies zwar nicht überall Veränderungen erzwungen, aber sie haben in einzigartiger Weise dazu beigetragen, der akademischen Gemeinschaft das Konservative ihrer Bemühungen – ihr einverständliches Mitwirken an einer elitären, weiß-männlichen Politik der Ausschließung und der darauf folgenden intellektuellen Abschottung – zum Bewusstsein zu bringen. (S. 7),
[42] 

sind es vor allem die Mängel gegenwärtiger kulturwissenschaftlicher Forschungen, die für Bal den Anlass bieten, auf der Basis ihrer Studien und Reflexionen für eine Reformulierung der Kulturwissenschaften als Kulturananalyse einzutreten. Auf die Differenzen in Begriff, Programm und wissenskultureller Rahmung, die zwischen den Cultural Studies im angloamerikanischen Raum und den »deutschen«, denkt man an Paul Ricœur, auch »französischen«, europäischen Kulturwissenschaften bestehen, geht Bal zwar am Rande ein (S. 11 f.), sie werden aber im Folgenden, gerade in Hinblick auf die möglichen Anschlüsse, die sich von Bal aus in Richtung Helmuth Plessner, Ernst Cassirer, aber auch beispielsweise Sigrid Weigel ergeben, nicht weiter aufgenommen; gerade hier aber gäbe es einen Resonanzraum, was die Funktion und die Bedeutung des vorliegenden Buches im deutschsprachigen Raum anginge.

[43] 

Bal nennt dabei vor allem drei Defizite: das Fehlen einer eigenständigen Methodologie, die nicht gelungene Verknüpfung aktueller Fragestellungen und gegenwartsbezogener Analysen mit den Vorgaben der Kulturgeschichte und der Tradition (etwas undeutlich ist im Text von der »destruktiven Kluft zwischen les anciens und les modernes«, S. 8, die Rede), schließlich die – auch für die deutsche Forschungs- und Universitätslandschaft aktuelle und bislang ungeklärte – Frage, ob nicht unter dem Stichwort »Interdisziplinarität« einfach dem Sparen und dem Abbau von Disziplinen und Abteilungen Vorschub geleistet wird. Anders – und mit Bal noch einmal auch für die gläubigen Bologna-Pilger – gesagt, ohne breite Fundierung und disziplinäre Identität gibt es weder Kulturwissenschaften noch überhaupt akademische, universitäre Qualifikationen, Ansprüche auf Innovation und Kritik allein können auch keine kulturwissenschaftliche Innovation legitimieren beziehungsweise tragen (vgl. S. 8).

[44] 

Perspektiven

[45] 

Für die Situation der Forschung, der Lehre – auf sie nimmt Bal vielfach Bezug – und die Innovation der Hochschullandschaft in der Bundesrepublik Deutschland ergeben sich im Hinblick auf die von Bal entworfene kulturwissenschaftliche Orientierung der literatur- und kunstwissenschaftlichen Arbeit noch weitere Schwierigkeiten, die von Bal so nicht angesprochen werden, die für die Rezeption ihres Buches, erst recht der hier formulierten wissenschaftsmethodologischen Vorstellungen, und mithin für die Weiterführung dieser Kulturanalyse erhebliche Bedeutung haben dürften. Anders als im angloamerikanischen Wissenschaftsraum – und auch anders als in Frankreich und Italien – ist nämlich die kulturwissenschaftliche Diskussion in Deutschland bisher aus so unterschiedlichen Quellen bestritten und mit so unterschiedlichen Zielsetzungen befrachtet worden, dass der Rezeption, der Diskussion und auch der Fortschreibung der in diesem Buch vorgestellten epistemologischen Grundsatzdiskussionen, der historischen Tiefe und materialen Breite der ausgearbeiteten Beispiele und auch der forschungsleitenden Überlegungen wohl nur ein kleiner Kreis selbst kulturwissenschaftlich oder sonst wie an Grundlagenorientierung ausgerichteter Forscher sich öffnen und zuwenden kann. Gerade da, wo in ihrer Mehrheit in der deutschen Hochschullandschaft derzeit kulturwissenschaftlich ausgerichtete Ergänzungs-, Aufbau-, BA- und MA-Studiengänge sich entfalten, dürfte es wohl einfach an materialer Bildung, an Zeit und auch an Reflexionskraft fehlen, um die hier angezogenen Materialien und Vorschläge aufzunehmen, zu gewichten, gar weiterzuführen.

[46] 

Für die Konstituierung einer Fachdiskussion Kulturwissenschaft, erst recht da, wo Menschen sich für deren Innovation und deren bildende, auch bildnerische Praxis interessieren, stellt das vorliegende Buch freilich eine Herausforderung und einen Gewinn dar. Nicht nur, dass es eben in den genannten Mangelbereichen zur Aufarbeitung disziplinärer Defizite motivieren kann und – namentlich im Konzept der Kulturanalyse – zu deren Überwindung beiträgt, es vermag auch die Diskussion über die disziplinäre Identität einer kulturwissenschaftlichen Orientierung in den Humanwissenschaften (Cultural Studies) anzustoßen, freilich um den Preis, dass es dazu reflexiver (und begrifflicher) Anstrengung bedarf. Kulturwissenschaftliche Reflexion und Analyse werden damit – ganz zu Recht und ganz im Gegensatz zu den vielen derzeit sich in Deutschland konzipierenden beziehungsweise tummelnden Kurzzeitstudiengängen – auf einer zwar anwendungsbezogen entwickelten, aber im Bereich der Grundlagenforschung angesiedelten Arbeitsebene eingerichtet.

[47] 

Schließlich bietet – gerade für den deutschen Sprach- und Kulturraum aufschlussreich – das Buch selbst die Möglichkeit, eine Kluft zwischen den Alten und den Zeitgenossen zu überbrücken, knüpft es doch – eher im Gedankengang als in den ausgewiesenen Bezügen – an jene in Deutschland mit Goethe und der romantischen Philosophie und Kritik einsetzende, von Hegel, dann Benjamin und Adorno, Husserl und den Nachfolgern seiner Phänomenologie fortgeführte Tradition an, im Sich-Entfalten des Gedankens und im Medium der Wahrnehmung die Konstitution des Objektes mit zu vollziehen, in der Arbeit des Begriffes an den Objekten den Mitvollzug der Subjektivität und deren Reflexion – wie bei Kant – erkennen zu können, nicht zuletzt im Medium der Kunstwerke dieses Sich-Aussagen und Sich-Reflektieren der Subjektivität thematisieren und anerkennen zu können.

[48] 

Lokal und global,
aber nicht national

[49] 

Bals zentrale Themenfelder, mit deren Hilfe sie ihre Fundierung der Kulturwissenschaft zustande bringen will, lesen sich denn auch wie ein Inventar der älteren deutschen philosophischen Tradition; dies soll hier nur eine Spur legen (namentlich für die deutschen Leserinnen und Gesprächsteilnehmer); es geht nicht um nationale Vereinnahmung, denn freilich sind Bals Themenfelder eben dadurch genießbar, dass sie statt des dumpfdeutschen »Wesens« internationale Analytik vor Augen stellen. Es sind in angelsächsischer und westeuropäisch-sozialwissenschaftlicher Tradition keine Wesenheiten, sondern »analytische« Begriffe, Diskurselemente, Sprechakt bezogene Konzepte, die in ihrer Leichtigkeit die Genauigkeit und Übertragbarkeit bieten, die »wandernde Begriffe« in »sich kreuzenden Theorietraditionen« haben müssen. In der Kulturanalyse geht es nach Bal um die Arbeit an Begriffen, um die Herstellung und Reflexion von Intersubjektivität, und es sind die Vorstellungen, Muster beziehungsweise Konzepte »kultureller Prozesse«, die im Mittelpunkt einer kulturwissenschaftlich orientierten Forschungs- und Wissenschaftsperspektive stehen.

[50] 

Gegen eine derzeit aus den unterschiedlichsten Interessen beförderte Generalisierung der Kulturwissenschaften, die sich in allem Möglichen verliert und als Dienerin vieler Herren ihr (mitunter doch auch knappes) Brot verdient, werden hier die – durchaus altertümlich anmutende – Genauigkeit der Reflexion und eine umfassende Materialkenntnis gesetzt, die zum einen die ältere europäische Bildungs- und Kulturdimension weiterführt, allerdings deutlich mit aktuellen, politischen und eben auch emanzipatorischen Akzenten, so dass die hier vorgestellte Kulturwissenschaft als Kulturanalyse sich vielleicht am ehesten an die von Shaftesbury, Kant und anderen beförderte Idee einer welthaltigen und selbstreflexiven Bildung als »sensus communis« anschließen ließe.

[51] 

Für eine in dieser Richtung entwickelte kulturwissenschaftliche Arbeit hat Bal dann auch noch ein schönes Motto parat: »Risiko: die Bereitschaft Verlusten ins Gesicht zu blicken und das Gesicht zu verlieren, ist bei jedem akademischen Unterfangen unentbehrlich« (S. 71).


Prof. Dr. Werner Nell
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Germanistisches Institut
Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
Herweghstraße 96
DE - 06099 Halle

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Ins Netz gestellt am 21.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Werner Nell: Eine Kulturanalyse in vielen Facetten. (Rezension über: Mieke Bal: Kulturanalyse. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002.)
In: IASLonline [21.12.2004]
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Anmerkungen

Bei geschlechtspezifischen Zuordnungen schließt die gewählte Form immer die andere Geschlechtszuordnung ein.   zurück