Tim Lörke

Sagenhaftes Geschenk
Goethe nimmt und gibt den Faust




  • Peter Brandes: Goethes »Faust«. Poetik der Gabe und Selbstreflexion der Dichtung. München: Wilhelm Fink 2003. 298 S. Kartoniert. EUR 32,90.
    ISBN: 3-7705-3809-9.


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»Faust ist Metatheater universalen Stils, Theater auf dem Theater«, also »Reflexion des Theaters in seinem eigenen Medium« – so kennzeichnet Dieter Borchmeyer den selbstreflexiven Zug von Goethes Faust. 1 Diesen Befund bestätigt Peter Brandes in seiner hier anzuzeigenden Hamburger Dissertation über die Poetik der Gabe und Selbstreflexion der Dichtung, die er in seiner Interpretation des Faust herauspräparieren und darstellen möchte. Nun ist die Selbstreflexivität gerade dieses Textes ein Topos der Germanistik, der in den Kommentaren, auch in denen bürgerlicher Leseausgaben, stets bedient wird. Doch erweitert Brandes diesen Gedanken um eine kulturwissenschaftlich, mitunter anthropologisch fundierte Theorie der Gabe, die er in Goethes Dichtung entwickelt sehen will.

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Entfaltung eines Konzepts der Gabe

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Der Faust wird einleitend als Geschenk an die Nachwelt, aber auch als das Geschenk charakterisiert, das Goethe selbst von der Weltliteratur empfangen hat: als Mythos vom Alchemisten und Magier, vom Allzu-Wißbegierigen in der Moderne. Für Goethe ist der Faust ein gegebener Stoff; die Aufgabe des Dichters sieht er einzig in der »Belebung des Ganzen«, wie Eckermann unter dem Datum des 18. September 1823 berichtet. Brandes’ Studie läßt sich jedoch nicht auf eine Rekonstruktion der Gabe an Goethe ein; die Sagenüberlieferung, der Weg des Faust-Stoffs vom Volksbuch zu Marlowe, vom Puppenspiel hin zu Goethe wird nicht verfolgt. Brandes konzentriert sich vielmehr auf das »schlichte Gegebensein der Faust-Dichtung« Goethes und geht davon aus, »daß die Gabe der Poesie sich wesentlich als sprachliche Reflexion auf ihre poetische Verfaßtheit artikuliert« (S. 11).

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Die Gabe der Poesie, wie sie im Faust bedacht wird, bedeutet also zweierlei: Sie ist das Geschenk, das man empfängt – sei es als Dichter, der wie Goethe mit einem Stoff beschenkt, sei es als Leser, dem ein Werk zur Lektüre gegeben wird. Zugleich ist Gabe aber auch der aktive Vorgang des Weggebens, in dem sich die Poesie »ereignet«, wie Brandes allerdings nur für die Gabe einer Dichtung an die Leser pointiert (S. 13). Im Sinne seiner Ausführungen müßte jedoch die Empfängnis des poetischen Stoffes ebenfalls als ein solches Ereignis beschrieben werden. Diese Dichotomie von (dichterischer) Gabe: das Geben wie das Empfangen bzw. Nehmen sieht Brandes im Faust gestaltet und zugleich diskutiert.

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Erste Fingerzeige, wie die Dichtung sich selbst als Gabe reflektiert, gibt Brandes mit vier Zitaten, die im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen. Heißt es in der Zueignung »Was ich besitze seh’ ich wie im weiten« (Faust, Vs. 31), fordert der Theaterdirektor des Vorspiels auf dem Theater: »Gebt ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!« (Vs. 99); wenn Mephisto Faust in der Paktszene verspricht: »Ich gebe dir was noch kein Mensch gesehn« (Vs. 1674), antwortet darauf die Poesie selbst als der Knabe Lenker der Mummenschanz: »Bin die Verschwendung, bin die Poesie« (Vs. 5573). 2 Damit sind die Leitbegriffe der vorliegenden Studie exponiert: Besitz, Gabe / Nahme und Verschwendung. Zudem legt Brandes mit den zitierten Versen bereits ein subtiles Beziehungsgeflecht frei, das den Faust als Poetik der Gabe strukturiert.

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Anspruch der Methode
und Wirklichkeit der Durchführung

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Brandes beschreibt einen weiten theoretischen Horizont, vor dem seine Analyse sich entfalten soll. Angeleitet von Jacques Derridas verschiedenen Arbeiten zur Gabe, die teilweise auf anthropologische Studien von Marcel Mauss zurückgehen, findet Brandes auch in Walter Benjamin, Julia Kristeva oder Friedrich Kittler so verschiedene wie bedeutende Gewährsleute für seine leitende Fragestellung. Brandes referiert all diese Ansätze zügig und kenntnisreich, allein bleibt oft dunkel, welche Erkenntnis sich damit für den Faust gewinnen läßt. Wenn Brandes zu seinem methodischen Vorgehen anmerkt, er halte es »durchaus für legitim und wichtig, Literaturwissenschaft auch als Geistes- oder eben Kulturwissenschaft zu betreiben« (S. 25), findet sich nur wenig davon in seinem Buch, weil er seine theoretischen Vorgaben nicht in Interpretation umsetzt. Brandes bevorzugt die detailliert-versgenaue Lektüre, ja er liest die schon oft interpretierten Szenen Wort für Wort. Derrida oder Benjamin bleiben mit ihren Kulturanalysen, die er als »Übersetzungen, als späte Früchte des Faust-Textes« (S. 26) markiert, zwar stets präsent, werden aber nicht fruchtbar gemacht für eine Interpretation, die über die Werkimmanenz hinausginge.

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Hier liegt denn auch das Hauptproblem von Brandes’ Studie: Er stellt sich selbst den Anspruch, »Poesie und Poetik zu versöhnen« (S. 22) und so den Text »in seinem rätselhaften Charakter herauszustellen« (S. 24). Einerseits sollen kulturwissenschaftliche Einsichten gewonnen werden, anderseits soll die Aura des Geheimnisses, die das dichterische Wort umgibt und von Brandes nur zu oft beschworen wird, gerade in einer analytischen Lektüre gefeiert werden. Diese problematischen Gegensätze vermittelt Brandes zu wenig miteinander; er führt kulturwissenschaftliche Ansätze vor, die dann in seinem close reading keinen Platz haben.

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Spannung zwischen Dichter und Publikum

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Die der eigentlichen Handlung vorangestellte Zueignung sowie das Vorspiel auf dem Theater präsentieren das Geben und Nehmen im Rahmen der Dichtung auf die sinnfälligste Weise. Gerade die Zueignung spricht schon in ihrer Überschrift davon, daß jemandem etwas zu eigen gegeben wird. Brandes führt die Mehrdeutigkeit des Gedichtes vor, indem er zum einen entgegen allen Anmutungen eines Genie-Kults, welche die Goethe-Rezeption oft verzerren, das dichterische Ich als passiven Empfänger, nicht aktiven Schöpfer zeichnet. Zum andern verrät das Gedicht den Gestus einer Nahme: der Wiederaufnahme der Arbeit am Faust, die Goethe lange unterbrochen hatte.

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Überraschend ist Brandes’ Befund, daß sich in der Zueignung eine »Erfahrung vom Enden der Kunst« (S. 42) artikuliert: Der »Zauberhauch« (Vs. 8) der Erinnerung, der das dichterische Schaffen animiert, sehnt sich nach den Verstorbenen, die die Anfänge der Faust-Dichtung von Goethe vorgetragen hörten. Mit Benjamins Essay vom Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit erweitert Brandes die Trauer um die ersten Hörer um die kulturkritische Klage vom Verlust einer intimen Dichtkunst, die nun der breiten, unbekannten Masse zur Verfügung gestellt wird. Diese pessimistische Einschätzung, in der Moderne mit ihren technischen Distributionsmöglichkeiten schwinde die »auratische Kunst« (S. 43), wie die Zueignung in Brandes’ Deutung lamentiert, bestätigt der Dichter des Vorspiels auf dem Theater.

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Die innere Verwandtschaft zwischen dem Dichter und dem lyrischen Ich der Zueignung erkennt Brandes in den Stanzen, in denen der Dichter seinen Wunsch formuliert, ungestört von der anonymen Masse des Publikums ein tiefes Werk zu vollbringen, das erst der Nachwelt vollends aufgehen wird. Demgegenüber entwirft der Theaterdirektor eine pragmatische Poetik, nach der dem Publikum gegeben werden soll, wonach es verlangt. Die eigentümliche Metaphorik des Essens, welche die Rede des Direktors über das zu gebende Stück illustriert, liest Brandes anhand seiner Leitbegriffe als höchste Steigerung des Zu-eigen-Machens: als Einverleibung.

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Doch vor der Einverleibung möchte Brandes den Faust bewahren, indem er Goethes Wort von der Inkommensurabilität seiner Dichtung mit Blick auf Zueignung und Vorspiel als »Inkonsumierbarkeit« begreift: Der Faust läßt sich »nicht in seinem eigensten Sein aneignen« (S. 73). Ist das Konzept selbstreflexiver Poesie bislang abstrakt geblieben, suggeriert Brandes hier eine Selbstvergewisserung Goethes über die eigene Dichtung. Für die Literaturwissenschaft bedeutet das: »Die Aufgabe, den Faust als Gabe zu nehmen, geht nur auf dem Weg einer Gegengabe, eines Ausgleiches, einer Übersetzung, die an die Stelle des unmöglichen Originals tritt.« (S. 74) Daß selbstverständlich die Gegengabe der Philologie: die wissenschaftliche Verständigung über den Faust, unzureichend ist, muß nicht eigens betont werden. Die angestrebte Versöhnung der Poesie mit der Poetik geht einher mit der demütigen Unterwerfungsgeste der Philologie, die sich selbst als hinfällig in der Begegnung mit dem sakral empfundenen Kunstwerk erfährt.

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Philologische Sakralisierung
der Kunst als Problem

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Mit solchen Überlegungen verdunkelt Brandes seine Arbeit zu oft; seine gelungenen, oftmals überraschenden Lektüren der Faust-Verse werden, da sie nicht in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden, in ihrem Erkenntniswert relativiert. Brandes’ Untersuchung gerät zu oft zum Versöhnungsfest im Dienste der geheimnisvollen Aura der Dichtung; der Faust als »die heilige Schrift Goethes« (S. 73) entzieht sich zwangsläufig einer stringenten Deutung und dementiert für Brandes jegliche Möglichkeit philologischer Verständigung über den Text. Es ist Brandes nicht um eine Diskussion verschiedener Perspektiven auf einzelne Faust-Verse zu tun, die sich je nach Erkenntnisinteresse zu einer These verdichten lassen – die jeweiligen exegetischen Reste inbegriffen. Vielmehr orientiert er sich letztlich an der beschworenen Inkommensurabilität – mit dem Vokabular der Gabe gesprochen: Nicht-Konsumierbarkeit – der Faust-Dichtung. Brandes pointiert die Aporie seiner Studie selbst:

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Die Poetik der Gabe in der Literatur lesbar machen, das heißt, das Ereignis des offenbaren Geheimnisses der Dichtung weiter zu geben, es zu deuten, aber gleichzeitig sich seinem Reiz, seiner Undeutbarkeit, auszusetzen. (S. 282)
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Die Anklänge an die religiöse Rede, die diese Studie durchziehen, erschweren die Lektüre unnötig, an deren Ende die faustische Feststellung steht, »daß wir nichts wissen können« (Vs. 364). Trotzdem gelingen Brandes mitunter überraschende Einsichten in oft gelesene Goethe-Verse.

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Übernahme der Tradition

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Goethe modifiziert den Pakt zwischen Faust und Mephisto; in seinem Faust bildet eine Wette die Geschäftsgrundlage. Brandes betont den Unterschied zur Volksbuchtradition, in der der Teufel Fausts Seele im Moment des Vertragsabschlusses schon besitze (vgl. S. 173). An dieser Stelle ließe sich, etwas beckmesserisch, präzisieren, daß insbesondere in der Historia von D. Johann Fausten (1587) Fausts Seele lange vor dem Pakt dem Teufel schon gehört, weil sein geschwinder, hoffärtiger Kopf ihn dazu disponiert. Aber Brandes ist sicherlich zuzustimmen, wenn er im Kontrast zur Überlieferung den Pakt als Wagnis gerade auch für den Teufel beschreibt – eine Wette hat einen offenen Ausgang.

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Und doch sind die Volksbücher versteckt präsent in Goethes Faust. Mephisto verspricht Faust eine unmögliche Gabe: »Ich gebe dir was noch kein Mensch gesehn.« (Vs. 1674). Brandes kann in seiner Deutung plausibel machen, daß Mephistos Gabe Zeit ist. Somit steckt der Teufel der Volksbücher in Mephisto; dessen Leistung bestand in den 24 Jahren, in denen Faust eine gute Zeit haben solle, bis ihn der Teufel hole. Zu den paradoxen Geheimnissen der Gabe gehört jedoch, daß sie sich im Entzug ereignet: »In dem Verlust des präsentischen Gabenereignisses kann es Gabe geben.« (S. 280)

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Fazit

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Brandes schärft in seiner materialreichen Studie den Blick für viele Details, die von Kommentaren und Interpretationen überwuchert scheinen, neu; seine Deutungen reizen freilich oft zum Widerspruch – der allerdings ein erneutes Nach-Lesen und -Denken voraussetzt. Insofern ist Brandes’ Buch willkommen als Anleitung zu einer Auseinandersetzung mit dem Faust, die nicht von Sekundär- und Tertiärliteratur vorgeprägt ist. Doch gelingt es ihm nicht, seine Fragestellung nach einer Poetik der Gabe stringent zu verfolgen, vielmehr scheint gerade in dem gegebenen Geheimnis der Dichtung die Unmöglichkeit einer solchen Philologie auf.


Dr. Tim Lörke
Freie Universität Berlin
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie
Habelschwerdter Allee 45
DE - 14195 Berlin

Ins Netz gestellt am 01.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Tim Lörke: Sagenhaftes Geschenk Goethe nimmt und gibt den Faust. (Rezension über: Peter Brandes: Goethes »Faust«. Poetik der Gabe und Selbstreflexion der Dichtung. München: Wilhelm Fink 2003.)
In: IASLonline [01.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=773>
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Anmerkungen

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Sämtliche Dichtungen. Mit einem Nachwort von Dieter Borchmeyer. Anmerkungen von Peter Huber. Düsseldorf und Zürich: Artemis & Winkler 2003, S. 761 f.   zurück
Alle Versangaben nach der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe: Faust. In: J.W.G.: Sämtliche Werke. Hg. von Friedmar Apel u.a. 40 Bde. Frankfurt / M. 1985–1999. I. Abt., Bd. 7.1: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne. Frankfurt / M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994.   zurück