Jörg Dünne

Die Ordnung des Kalküls

Mediengeschichte als Diskursgeschichte der Mathematik




  • Bernhard Siegert: Passagen des Digitalen. Zeichenpraktiken der Neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900. Berlin: Brinkmann & Bose 2003. 624 S. 77 Abb. Gebunden. EUR 48,00.
    ISBN: 3-922660-80-0.


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Bernhard Siegerts Studie ist keine Geschichte technischer bzw. elektronischer Medien, sondern eine ihres Anfangs, oder besser: ihres allmählichen »Anfangens« (S. 11). 1 Allerdings ist dieses Anfangen von vornherein mit einem Ende, genauer: mit einem »Riss« verknüpft: »Es ist der Riss einer im Denken der Repräsentation verwurzelten Ordnung der Schrift, der die Passage des Digitalen freisetzt und den Raum der technischen Medien eröffnet.« (S. 16) Historisch reicht der Raum technischer Medien nach Siegert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück und löst damit das Denken der Repräsentation im 17. und 18. Jahrhundert ab. Siegerts Periodisierung gibt einen ersten Hinweis darauf, dass er auf der Grundlage von Michel Foucaults Diskursanalyse argumentiert, verbunden mit dem, was er eine »historische Grammatologie der neuzeitlichen Wissenschaften« (S. 13) nennt.

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Als Paradigma für den Umbruch zur Moderne bestimmt er allerdings eine zumindest auf den ersten Blick überraschende Wissenschaft, nämlich die Mathematik, genauer die Analysis: »Wenn es also überhaupt eine Geschichte gibt, auf deren Feld das doppelte Unternehmen dieses Buchs operiert, dann ist es die Geschichte der Analysis.« (S. 15) Wie genau Siegert von der Mathematik zu den Medien kommt und was dies alles mit Schrift zu tun hat, bedarf der Erläuterung. Die kühne Verbindung der drei Bereiche macht die enorme, bereits im Feuilleton angemessen gewürdigte 2 Originalität von Siegerts groß angelegtem Projekt aus, wirft aber auch selbst wiederum eine Reihe von Fragen auf, die in dieser Rezension diskutiert werden sollen.

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Zunächst geht es dabei um die historische Gliederung von Siegert im Verhältnis zu Foucaults Epistemenmodell (1.); vor diesem Hintergrund wird der besondere Status der Mathematik diskutiert (2.). Schließlich sollen der Schriftbegriff Siegerts sowie die damit verbundenen Implikationen für eine Raumorientierung der Kulturwissenschaften (3.) untersucht werden.

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Allgemein sei vorausgeschickt, dass Siegert dem ›geisteswissenschaftlich‹ vorgebildeten Leser aufgrund der mathematischen Voraussetzungen, die er macht, einiges abverlangt. Ob es an den nur durchschnittlichen mathematischen Kenntnissen des Rezensenten liegt, wenn er das name dropping großer Mathematiker oder die komplexen Formeln, die Siegert genüsslich auf seinen Buchseiten ausbreitet, ein wenig als Koketterie eines Wissenden empfindet? Immerhin kann man sich damit trösten, dass Siegert sich nicht nur der Mathematik zugewandt hat, sondern als Medienwissenschaftler auch die Typographie nicht vernachlässigt hat: Seine über 600 Seiten starke Studie ist im Verlag Brinkmann & Bose zu einem äußerst ansprechend gestalteten Buch mit einem umfangreichem, für Siegerts Argumentation nicht unwesentlichen Abbildungsteil (S. 519–576) geworden.

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Archäologie der Medien

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Foucaults Die Ordnung der Dinge 3 scheint auch fast 40 Jahre nach ihrem Erscheinen noch nicht die Fähigkeit verloren zu haben, wichtige wissens- und mediengeschichtliche Untersuchungen anzuregen. Wenn Siegerts Passage des Digitalen historisch weit ausholt, dann mit einem durchaus Foucault ebenbürtigen Ehrgeiz: Sein erster Teil (S. 21–190) zur »Großen Bürokratie« in Spanien, England und Preußen liefert ein Gegenstück zu Foucaults Analyse der klassischen Episteme (setzt aber dabei bereits im Mittelalter an), der dritte Teil (S. 305–417) zu »elektrischen Schaltungen« bis hin zur unmittelbaren Vorgeschichte der Mikroelektronik zu Beginn des 20 Jahrhunderts bildet das Pendant zu Foucaults Analyse des Zeitalters der Geschichte.

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Der viel diskutierte epistemologische Bruch Foucaults zwischen diesen beiden Diskursformationen wird in Siegerts zweitem Teil (S. 191–303) taktisch geschickt zu einem »Riss«, der die Repräsentation aushöhlt. Die epistemologischen Umbrüche der Moderne gehen somit aus einer permanenten Repräsentationskrise hervor, die den Wissenschaften seit dem 19. Jahrhundert und allen voran der Mathematik stets immanent ist.

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Siegerts Wetteifern mit Foucault geht sogar so weit, dass er versucht, der berühmten Analyse von Velázquez’ Meninas als mise en abyme der klassischen Repräsentation 4 ein auf seine Zwecke gemünztes modernes Pendant an die Seite zu stellen, das er aber bezeichnenderweise nicht aus der Kunstgeschichte, sondern aus einer wissenschaftlichen Illustration bezieht (S. 225–233 und Abb. XXIX, S. 544): Die Darstellung eines Blitzes in Form eines nicht stetigen Funktionsgraphen, der 1753 den Physikprofessor Georg Wilhelm Richmann bei einem Experiment tötet, verweist auf die Unmöglichkeit der symbolischen Repräsentation zentraler Ereignisse moderner Wissenschaft und deutet so die Krise der Repräsentation an, an der sich die Moderne abarbeiten wird.

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Was die von Siegert untersuchten diskursiven Felder betrifft, fällt auf, dass sie nicht wie bei Foucault die Bereiche der Sprache, des Wirtschaftens und der Naturgeschichte relativ gleichberechtigt nebeneinander, sondern in einer gewissen Hierarchie mit der Mathematik an ihrer Spitze stehen, was in der Untersuchung der Moderne besonders deutlich hervortritt: Während Siegert für den ersten Teil seiner Studie eine heuristisch fruchtbare Konzentration auf die Verbindung von Algebra und Bürokratie walten lässt, wird die Krise der Analysis im zweiten und dritten Teil zum Quellpunkt eines gelehrten, wenn auch überbordenden Défilés von Theorien und Gestalten der modernen Technik- und Mediengeschichte, bei dem sich rein intuitiv zunächst die Frage stellt, ob der Sonderstatus des Mathematischen damit nicht ein wenig überstrapaziert wird. Wie sich dieser Status systematisch bestimmt, soll nun untersucht werden.

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Mathematikgeschichte und
Diskursgeschichte

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Siegert bezeichnet die Mathematik in seiner Studie ausdrücklich als kulturelle Praxis (vgl. S. 415–417) bzw. sogar mit Foucaults Begriff des Diskurses (S. 333); damit richtet er den Diskursbegriff allerdings gegen Foucaults eigene Situierung der Mathematik, was Siegert jedoch überraschenderweise an keiner Stelle erwähnt. Foucault behauptet nämlich in seiner Archäologie des Wissens, dass die Mathematik als einzige aller Wissenschaften von Anfang an schon einen Grad der Formalisierung erreicht habe, der eine diskursive Bewegung im eigentlichen Sinn nicht mehr zulasse:

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Zweifellos gibt es nur eine Wissenschaft, bei der man diese verschiedenen Schwellen nicht unterscheiden noch eine solche Gesamtheit von Verschiebungen zwischen ihnen beschreiben kann: die Mathematik, die einzige diskursive Praxis, die mit einem Mal die Schwelle der Epistemologisierung, die der Wissenschaftlichkeit und die der Formalisierung überschritten hat. Die Möglichkeit ihrer Existenz implizierte, daß von Anfang an das gegeben war, was überall sonst während der ganzen Geschichte verstreut bleibt: ihre ursprüngliche Positivität mußte eine schon formalisierte diskursive Praxis konstituieren (selbst wenn andere Formalisierungen in der Folgezeit vorgenommen werden sollten). [...] Modell ist die Mathematik ganz sicher für die meisten wissenschaftlichen Diskurse in ihrem Bemühen um formale Strenge und Beweisfähigkeit gewesen; aber für den Historiker, der das wirkliche Werden der Wissenschaften hinterfragt, ist sie ein schlechtes Beispiel – ein Beispiel, das man auf keinen Fall verallgemeinern könnte. 5
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Aufgrund ihrer strengen Formalisierung ist die Mathematik nach Foucault für den Archäologen also ein »schlechtes Beispiel«. Siegert argumentiert genau umgekehrt, und hier liegt die vielleicht provokanteste These seiner gesamten Untersuchung: Für ihn wird die Mathematik zum Paradigma der Diskurs- bzw. Medienarchäologie schlechthin.

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Auch in der Mathematik treten, so Siegert, Krisen und Kämpfe um Wahrheit auf, die diskursiv und institutionell geregelt werden (vgl. S. 309). Wegweisend für die gesamte Entwicklung der modernen Technik sowie der Medien ist nach Siegert, dass die Mathematik nach Jospeh Fourier, d.h. nach der Krise der Infinitesimalrechnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, den Anspruch aufgeben muss, als ›perfekte‹ Repräsentation der Natur zu gelten, sondern dass das Punkt für Punkt abtastenden Verfahren der Fourier-Reihen den Zugang zur Natur ›atomisiert‹ und somit letztlich der Digitalisierung des Computerzeitalters Vorschub leistet. 6

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Eine kritische immanente Würdigung dieses plausibel klingenden mathematikgeschichtlichen Arguments ist – zumindest für den Verfasser dieser Rezension – schwierig. Argumentationsstrategisch jedenfalls erlaubt die Begründung der modernen Elektrotechnik und später der Elektronik aus einer diskursiv gefassten Mathematik heraus eine wichtige Verschiebung gegenüber den medientheoretischen ›Erben‹ Foucaults, d.h. den (für Siegerts eigenen Werdegang prägenden) Medientheoretikern der Kittler-Schule, die nicht auf Diskursformationen, sondern auf die Materialität technischer Dispositive als historisches Apriori epistemologischer Transformationen setzen. 7 Siegert versucht über die Mathematik, das technische Apriori Kittlers und das diskursive Apriori Foucaults miteinander zu vermitteln.

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Dabei zeichnen sich allerdings, was den Status mathematischer Zeichen betrifft, zwei miteinander in Spannung stehende Argumentationswege ab: Zum einen nimmt Siegert in auffälliger Weise eine ›sekundäre‹ diskursive Besetzung mathematischer Operationen vor, wenn er bekannte kulturwissenschaftliche Schlagworte der Moderne-Diskussion metaphorisch auf mathematische Operationen projiziert: Insbesondere zieht er dafür die teratologischen und psychopathologischen Diskurse des 19. Jahrhunderts heran. Im Bestreben, die Krisenhaftigkeit moderner Analysis ins rechte Licht zu stellen, scheut Siegert beispielsweise nicht davor zurück, die ›oszillierende‹ Reihe: 1–1+1–1... als »das Böse« schlechthin zu qualifizieren (vgl. S. 305–313).

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Theoretisch wesentlich perspektivenreicher scheint der parallel dazu entwickelte Weg Siegerts, mathematische Operationen nicht einfach um den Preis metaphorischer Analysen mit dem Foucaultschen Diskursbegriff zusammenfallen zu lassen, sondern ihnen einen besonderen Status als Aufzeichnungssystem zuzuweisen, das sich andererseits auch nicht im technischen Materialismus Kittlers erschöpft. 8 Dies geschieht, indem Mathematik »grammatologisch« d.h. schriftgeschichtlich untersucht wird, worauf ich nun näher eingehen möchte.

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Aufzeichnungstechniken
und mediale Räume

[19] 

Siegert betrachtet mathematische Operationen (sofern er sie nicht, wie oben kritisiert, mit ihrer Einbettung in einen diskursiven Kontext kurzschließt) als Aufzeichnungstechnik, die sich – in Anschluss an Peter Kochs schriftgeschichtliche Analysen 9 – als zweidimensionale, ›diagrammatische‹ Schrift von der Symbolizität der Buchstabenschrift unterscheidet. Fruchtbar wird dieser Ansatz vor allem im ersten Teil seines Buches, wenn Siegert, aufbauend auf Sibylle Krämers Gedanken einer »kalkulierbaren Vernunft« 10 , die Bedeutung der ›Null‹ für die bürokratische Datenerfassung der frühen Neuzeit herausstellt (S. 49–65): Als Grundlage des Stellenwertsystems von Zahlen, das sich an Stelle der calculi auf dem Abakus durchsetzt, macht die ›Null‹ Zahlen – und ausgehend davon auch andere Daten – eindeutig auf der Seite adressierbar.

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Erst dadurch wird nach Siegert das Modell einer eineindeutigen Korrelation von Repäsentierendem und Repräsentiertem gestiftet. Aufgrund dieses Modells gelingt es der Repräsentation im klassischen Zeitalter, typographisch-symbolische und perspektivisch-bildhafte Zeichen zu einem einzigen Dispositiv zusammenzuzwingen: Das Subjekt, so Siegert in seiner brillanten Interpretation von Leibniz’ »Palais des destinées« am Ende der Theodicee als Experimentieranordnung möglicher Welten (S. 156 ff.), sei der ausdehnungslose Beobachterpunkt, von dem aus die unendlichen Folgen aller nur möglichen Welten überblickt werden könnten. Voraussetzung dafür sei aber die Kontinuität des Realen und auch des Denkmöglichen in der Repräsentation – eine Kontinuität, die in der Moderne verloren geht.

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Die moderne Mathematik beruht, so Siegert weiter, gerade nicht mehr auf der Repräsentierbarkeitsprämisse, sondern macht das zugänglich, was der symbolischen Repräsentation entgeht, indem es nämlich eine indexikalische und signalhafte, d.h. sich selbst aufzeichnende Graphie der physikalischen Welt hervorbringt (vgl. S. 255–267). Das, was dabei aufgezeichnet wird, ist das ›Reale‹ nicht als empirisch erfahrbaren Wirklichkeit, sondern im Sinn von Lacan, das anders nicht zum Ausdruck kommen kann, weswegen die mediale Aufzeichnung auch eine besondere Beziehung zum Unbewussten habe, das jeder Form von Subjektivität vorausgehe (vgl. »Medien des Unbewussten«, S. 225 ff.). 11 Allerdings wird in Zusammenhang mit der Signalschrift auch die emprische Materialität des klassischen mathematischen Graphismus problematisch: Die Krise der Repräsentation, die von der Mathematik ausgeht, atomisiert, so Siegert, Wahrnehmung überhaupt (vgl. S. 317).

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Dies kündigt sich in gebrochenen, d.h. nicht stetigen Funktionsgraphen seit Fourier an und findet seine Fortsetzung in den zahlreichen technischen Apparaten, die, wie Siegert mit einer von Wilhelm Worringer übernommenen Formulierung behauptet, Wahrnehmungen in »Anschauungsqualia« zerlegen (vgl. S. 323). Letztlich läuft die moderne Episteme auf ein Dispositiv zu, in dem die zuvor gesichert scheinende Realität überhaupt nur noch in ihrer medialen Erscheinung sichtbar wird, in dem Repräsentiertes und Repräsentation zusammenfallen. Siegert formuliert dies am Ende seines Buchs in einer räumlichen Begrifflichkeit: »Wer kann seitdem noch den Raum der Passage vom Raum des Zählens unterscheiden?« (S. 417).

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Raum ist dabei für Siegert in einem durchaus unmetaphorischen Sinn zu verstehen als Aufzeichnungs-Raum, der durch eine Zeichenpraxis ermöglicht wird. Während die Zeichenpraxis der klassischen Episteme in ihrem Repräsentationsdenken die korrelierende Ausfaltung eines repräsentierenden Raums und eines repräsentierten Raums, etwa in der kartographischen Erfassung der spanischen Kolonien in einem »padrón general«, der Generalkarte, erlaubt (vgl. dazu S. 74), so tilgt nach Siegert die Signalschrift der elektronischen Medien diese Differenz wieder. Das Meer ist nach Siegert das, was schon in der klassischen Episteme die Ordnung der Reptäsentation bedroht – es ist das Paradigma nicht des gekerbten, symbolisch strukturierten Raums der Repräsentation, sondern des glatten, dynamischen Raums medialer Selbstaufzeichnung, der in der Moderne schließlich in den »oszillierenden« elektromagnetischen Räumen aufgeht (vgl. S. 17). 12

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Die raumtheoretischen Überlegungen Siegerts gehören sicherlich zu den originellsten und perspektivenreichsten Gedanken des gesamten Buches. 13 Allerdings beschneidet er selbst das raumtheoretische Potenzial seiner Argumentation, indem er den empirischen Raum in der Moderne im medialen Raum der Aufzeichnung kollabieren lässt und sich so letztlich in das verbreitete teleologische Denkschema elektronischer Simulakren einschreibt. 14 Verschärft wird diese Sichtweise zusätzlich noch durch die unhinterfragte Annahme, dass Räume nicht nur durch mediale Dispositive hervorgebracht, sondern auch restlos durch sie bestimmt werden. Dies hat auch Folgen für die Ästhetik: Ihre Funktion beschränkt sich darauf – und hier steht Siegert ganz in Kittlerscher Tradition – einfach nur medientechnische bzw. hier sogar mathematische Vorgaben ausbuchstabieren, was als Befund nicht nur für Literaturwissenschaftler recht unbefriedigend bleibt.

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Alternativen zu diesem letztlich auch in seiner Umstellung von technischer Materialität auf mathematische Aufzeichnung noch ›technizistischen‹ medienhistorischen Gestus Siegerts ergäben sich vielleicht allein schon aus der Gleichzeitigkeit des für Siegert Ungleichzeitigen, nämlich aus der Kopräsenz von medientechnischer Aufzeichnung des Realen und dessen symbolischer Verarbeitung, mit anderen Worten: aus der spannungsreichen Beziehung von Diagramm bzw. Signal auf der einen und Diskurs auf der anderen Seite. Damit kämen, sowohl in der klassischen Episteme als auch in der Moderne, die Reibungen, die epistemologischen Formationen inhärent sind, stärker in den Blick.

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Vielleicht müsste dann auch die Möglichkeit, dass Technik in der Praxis anders genutzt werden kann als zur Entfaltung eines reinen Machtkalküls, nicht völlig ausgeklammert werden. Der Riss, den nach Siegert die moderne Mathematik in der Repräsentation aufgetan hat, würde auf diese Art nicht im Solipsismus der elektronischen Medien geschlossen, sondern könnte aufrecht erhalten, ja vielleicht sogar über die Moderne hinaus ausgedehnt werden. 15

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Doch wie immer man sich jedoch zu seinen einzelnen Thesen auch verhalten mag, Siegerts bedeutende Untersuchung liefert auf jeden Fall starke Argumente dafür, die bisher weitgehend vernachlässigte Rolle der angewandten Mathematik für die Schrift- und Mediengeschichte in Zukunft stärker in den Blickpunkt zu rücken.


Dr. Jörg Dünne
Ludwig-Maximilians-Universitat München
Institut für Romanische Philologie
Ludwigstr. 25
DE - 80539 München

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Ins Netz gestellt am 12.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Jörg Dünne: Die Ordnung des Kalküls. Mediengeschichte als Diskursgeschichte der Mathematik. (Rezension über: Bernhard Siegert: Passagen des Digitalen. Zeichenpraktiken der Neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900. Berlin: Brinkmann & Bose 2003.)
In: IASLonline [12.05.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=785>
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Anmerkungen

Zitate aus dem rezensierten Buch werden im laufenden Text in runden Klammern nachgewiesen.   zurück
Christoph Albrecht: So macht Medientheorie Laune. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. 9. 2003; Manfred Schneider: Tanz auf dem Flip-Flop-Kippschalter. Süddeutsche Zeitung vom 29. 10. 2003.   zurück
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen (stw 96) 9. Auflage. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1990 [Französisches Original: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1966.].   zurück
Vgl. ebd. (dt. Fassung), S. 31–45.   zurück
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Aus dem Französischen übers. von Ulrich Köppen (stw 356) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1973, S. 268 f. [Französisches Original: L’archéologie du savoir. Paris: Gallimard 1969.].   zurück
Siegerts Beispiel, das auch gleichzeitig den theoretischen Kern seines Moderne-Kapitels enthält, ist die Auseinandersetzung über die Grundlagen der Analysis seit Fouriers Entdeckung, dass sich Wärme nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich in Wellen ausbreitet. Dies führt mathematisch zu der Notwendigkeit, unstetige Grenzfunktionen bei gleichzeitiger stetiger Annäherung daran anzunehmen, was sich durch »Sprünge« in den entsprechenden Funktionsgraphen äußert (vgl. dazu S. 240–252). Fouriers Bruch mit der klassischen metaphysischen Kontinuitätsannahme jeder natürlichen Erscheinung, die die mathesis universalis der Repräsentation möglich gemacht hatte, wird jedoch 1821 durch Augustin Cauchys Beweis des Gegenteils unterlaufen, nämlich dass die »Grenzfunktion einer jeden konvergenten Reihe stetiger Funktionen selber stetig sei« (S. 309). Diese scheinbare Rückkehr zu Leibniz und der klassischen Episteme ist für Siegert in Wirklichkeit ein disziplinierender und insofern der Ordnung des Foucaultschen Diskurses gehorchender Ausschluss der modernen, seit Fourier virulenten ›krisenhaften‹ Probleme der Analysis aus dem Feld der Mathematik. (vgl. explizit S. 309, FN 10)   zurück
Allerdings findet man, speziell wenn es um die Kapitel zu Medien- und Technikgeschichte des 19. Jahrhunderts geht, noch genügend »Kittlerianismen« bei Siegert, v.a. in Zusammenhang mit subjektkritischen Äußerungen, wenn z. B. die Dekonstruktion des romantischen Subjekts durch Elektroschockexperimente mit Fröschen konstatiert wird: »Im tetanisierten Froch erscheint das romantische Subjekt auf seine physiologische Wahrheit reduziert.« (S. 348).   zurück
Teilweise erweckt die Mathematik bei Siegert den Anschein, als wäre sie nicht ein einfacher Diskurs, sondern – mit Foucault gesprochen – selbst eine Art historischer Möglichkeitsbedingung empirischer Diskurse und technischer Dispositive. Somit hat die Mathematik für Siegert zwar nicht idealen, aber dennoch begründenden Charakter – eine pointierte, aber sicherlich diskutierbare These, die am deutlichsten in der Einleitung formuliert wird (vgl. S. 15).   zurück
Peter Koch: Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste. In: P. K. / Sybille Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition: Über die Exteriorität des Geistes. Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 43–81.   zurück
10 
Sybille Krämer: Berechenbare Vernunft. Kalkül und Rationalismus im 17. Jahrhundert (Quellen und Studien zur Philosophie 28) Berlin / New York: de Gruyter 1991, v. a. S. 93–97.   zurück
11 
Hier stützt sich Siegert offensichtlich auf Kittlers Annahme, dass technische Medien die psychoanalytische Triade von Realem, Imaginärem und Symoblischem bedingen. (vgl. Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, v. a. S. 27 f.)   zurück
12 
Vgl. zu den Begriffen ›glatter‹ bzw. ›gekerbter Raum‹ Gilles Deleuze / Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2. Aus dem Französischen übers. von Gabriele Ricke / Ronald Voullié. Berlin: Merve 1992, v. a. S. 657–693 [Französisches Original: Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2. Paris: Minuit 1980.].   zurück
13 
Siegerts Studie steht damit ganz im Zeichen des »topographical turn« der Kulturwissenschaften in den letzten Jahren. Vgl. dazu u. a. Sigrid Weigel: Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2 / 2 (2002), S. 151–165.   zurück
14 
Vehementer Widerspruch gegen eine solche teleologische Sicht auf elektronische Medien stammt von Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. München: Boer 1997.   zurück
15 
Man könnte sogar so weit gehen, eine Art von Riss als konstitutiv für das menschliche Verhältnis zu Medien überhaupt anzunehmen – vgl. dazu Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen (stw 1552) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2002. Damit ließe sich eine (von Siegert jedoch sicher nicht intendierte) Brücke von der Technikgeschichte zur Medienanthropologie schlagen.   zurück