Carmen Cardelle de Hartmann

Die Allgegenwart des Dialogs




  • Nikolaus Henkel / Martin H. Jones / Nigel F. Palmer (Hg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. (Hamburger Colloquium 1999) Tübingen: Max Niemeyer 2003. IX, 391 Seiten. 11 Abbildungen S. Kartoniert. EUR 66,00.
    ISBN: 3-484-64023-5.


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Wie soll man Literatur von Sprache trennen? Wie von Kommunikation? Der Untertitel der besprochenen Aufsatzsammlung liefert die Erklärung, warum ›Dialog‹ ein so beliebter, ja fast allgegenwärtiger Begriff in der Literaturwissenschaft ist. Dialog ist sprachliche Kommunikation, also das einzelne Gespräch innerhalb eines Werkes, das mündliche Gespräch außerhalb des Werkes, das Werk – gar die Gattung – in Gesprächsform, die – reale oder angestrebte – Kommunikation zwischen Dichter und Publikum. Wenn der Dialog zu Dialogizität wird, erweitert sich noch das Feld, so dass bereits vor zwanzig Jahren Fritz Nies vor einer zu allgemeinen Verwendung dieses Begriffs warnte:

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Versuche einer Übertragung des Terminus ›Dialogizität‹ auf die unterschiedlichsten Phänomene in den Diskussionen der vergangenen Tage haben mich allerdings mißtrauisch gemacht gegen meine eigene Inanspruchnahme dieses Begriffs. Durch solch ständiges Metaphorisieren erscheint er mir inzwischen [...] wie ein ausgelatschter Schuh, in dem jedweder kommunikationstheoretische Fuß nun überreichlich Platz findet. Damit aber droht er als wissenschaftliche Kategorie unbrauchbar zu werden. 1
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Was heißt denn hier ›Dialog‹?

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Nun ist ein ohnehin polysemisches Wort ideal als Tagungsthema, erweckt aber im Leser die Befürchtung, der von Nies beschriebene Zustand könnte eintreten: eine allgemeine Metaphorisierung, die alles zu Dialog werden lässt und allzu disparates, schwer vereinbares deckt. Sagen wir es gleich: das ist hier nicht der Fall.

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Diese Aufsatzsammlung bietet eine repräsentative Bandbreite der verschiedenen Bedeutungen von ›Dialog‹, liefert in – fast – jedem Aufsatz präzise Bestimmungen der jeweils anvisierten Verwendung und bringt sogar manche willkommene Einschränkung. Gelegentlich (wenn auch nur in wenigen Fällen) zeigt sich allerdings auch eine zu starke Dehnung des Begriffs in ansonsten durchaus anregenden Arbeiten: die Variationen eines Erzählstoffes je nach Überlieferungs- oder Werkkontext als Dialog zwischen Text und Kontext bei Franz-Josef Holznagel: »Von diabolischen Rechtsbrechern und gesetzestreuen Teufeln. Drei Ausgestaltungen eines Erzählstoffes und ihre Kontextualisierungen bei Caesarius von Heisterbach, Chaucer und dem Stricker« (S. 159–173); die Anweisungen zu Gebet und Meditation in Einblattdrucken als Dialog des Drucks mit seinem Betrachter, Dialog von Bild und Text und Anleitung zum Dialog zwischen Betrachter und Gottheit bei Sabine Griese: »Bild – Text – Betrachter. Kommunikationsmöglichkeiten von Einblatt-Druckgraphik im 15. Jahrhundert« (S. 315–335).

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Richtig irritiert ist man eigentlich nur bei der Lektüre von Fiona M. K. Campbell: »Dialog und Dialogizität in den Flugschriften der frühen Reformation« (S. 337–347). Der Aufsatz beschreibt nämlich zwei Dialoge aus dem frühen 16. Jh. und die Lesenotizen eines zeitgenössischen Lesers, Johannes Dorn, in einem Exemplar des zweiten Textes, setzt sie aber nicht in Bezug zu den restlichen Flugschriften oder Dialogen der Zeit, und erklärt nie, was hier unter dem ständig bemühten Begriff ›Dialogizität‹ verstanden werden soll.

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Nachdem diese Vorbehalte genannt wurden, können wir nun die thematischen Felder, die verschiedenen Bedeutungen von ›Dialog‹, durchgehen.

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Texte in Dialogform ...

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In den Literaturen des Mittelalters finden sich zahlreiche Texte in Dialogform, die uns vor eine Reihe von Fragen stellen: Warum wird diese Form für dieses konkrete Werk eingesetzt? Erfüllt sie eine konkrete Funktion in dem einzelnen Werk? Oder soll sie es in eine bestimmte Tradition stellen? Gibt es Textsorten, die sich der Dialogform bedienen?

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In seinem Beitrag über zwei Texte von Hans Sachs, »Minerva und das Podagra« (S. 349–369), geht John L. Flood sowohl auf die Frage nach der Tradition als auch auf die nach der Funktion ein. Flood interpretiert das Gesprech der götter ob der edlen und bürgerlichen kranckheit des podagram oder zipperllein und Der Zipperlein und die Spinne im Kontext der medizinischen Kenntnisse der Zeit über die Gicht und in Rückblick auf eine Tradition der Spottliteratur über diese Krankheit. Der Autor stellt sich ferner die Frage, warum Sachs sich für die Dialogform entschied: »Die Dialogform dient zur Dynamisierung der Lehre« (S. 358), argumentiert Flood, was ihn zu einer Reflexion über die Funktion von Literatur für Hans Sachs und seine Zeit bringt.

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Der Aufsatz von John M. Clifton-Everett über einen der ansprechendsten Texte in Dialogform, »Zum Gottesurteil und Schlußgebet im Ackermann aus Böhmen. Das Ende des Gesprächs« (S. 279–298) diskutiert hingegen die mögliche Rezeption des Werkes und ihren Einfluss auf die Textgestalt. Anhand der Überlieferungszeugen, vor allem der Drucke, argumentiert er, das Werk sei vom Klerus als Trostschrift bei Todesfällen benutzt worden. Aus diesem Blickpunkt interpretiert er die Schlußszene.

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... und eine Dialoggattung

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Eine Frage, die in dieser Aufsatzsammlung zu kurz kommt, ist die nach den Dialoggattungen, nach Textsorten also, die sich immer der Dialogform bedienen. Immerhin eine kommt zur Sprache, eine klar umrissene Untergattung, das ›Werbegespräch‹, das von Silvia Ranawake (»hübscher klaffe vil: Das Werbegespräch Ulrichs von Winterstetten (KLD Nr. 11) und das deutsche Dialoglied«, S. 175–188) umfassend beschrieben und analysiert wird.

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Silvia Ranawake zeigt zuerst die gemeinsamen Merkmale der Texte, Konstanten, die eine Gattungszugehörigkeit begründen. Dann zeichnet sie die geschichtliche Entwicklung nach. Das Werbegespräch wurde wohl von der okzitanischen Tenzone angeregt, unterscheidet sich von ihr aber dadurch, dass es rein höfische Gespräche zeigt, ohne rauhe Töne oder parodistische Brechungen. Dies legt einen Einfluss der ›Minnereden‹ nahe. Ulrich von Winterstetten führt eine Wendung herbei: »Erst Winterstetten macht das Spiel mit unterschiedlichen Stilebenen zum eigentlichen Anliegen des Typs« (S. 187). Und warum dieses Spiel? Dazu hat die Autorin eine plausible Antwort:

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[man wird] das Interesse an der dialogischen Form und die Freude am witzigen Spiel mit Gattungs- und Stilelementen seiner lateinisch-klerikalen Schulung und der seines geistlichen Publikums in Rechnung stellen dürfen, ein Interesse, das, wie Eberhards Lieder zeigen, das Dialoglied bis zum Anfang des 15. Jhs. fortleben läßt. (S. 188)
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In der Tat setzt die Mischung von Gattungs- und Stiltraditionen, um geschätzt und genossen werden zu können, eine Kenntnis dieser Traditionen voraus, die in einem klerikalen Milieu anzutreffen wäre, allerdings nicht unbedingt nur dort, denn sie ist auch in Texten erkennbar, die ein anderes Publikum haben konnten. Dass die Stilvielfalt zur Unterhaltung des Publikums eingesetzt wurde, ist ebenfalls wahrscheinlich, und gerade hierin liegt, wie ein anderer Aufsatz des Bandes, von Nicola McLelland, ausarbeitet, ein entscheidender Unterschied zum Dialogizitätsbegriff Bachtins.

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Stilvielfalt und Dialogizität

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Nicola McLelland zeigt in ihrem Aufsatz »Stil und Dialog: Stilistische Variation im Lanzelet« (S. 41–60) die Stilvielfalt in einem höfischen Roman, der Elemente anderer Gattungen wie Schwank und Heldendichtung aufnimmt, und fragt nach ihrer Funktion. Dazu bedarf es einer Interpretation des Werkes. Die Verfasserin stellt anhand einer Analyse mehrerer Gespräche im Werk die Hypothese auf, der Lanzelet intendiere im Gegensatz zu anderen arturischen Romanen keinen moralischen Sinn. Der Held bleibt unverändert, seine Abenteuer führen nicht zu einem Wandel seiner Persönlichkeit. Also könnten sie nur einen Zweck haben: das Publikum zu unterhalten. Diesem Zweck folgt auch die stilistische Variation und die Aufnahme von fremden Gattungselementen. Diese sind allerdings auf keinem Fall ›dialogisch‹ im Sinne Bachtins, denn weder wird eine Spannung erzeugt, noch werden sie innerhalb einer Episode in Beziehung zu einander gesetzt. Sprachvielfalt also als Mittel zur Unterhaltung des Publikums.

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Dialoge in den Texten:
sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation

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Auch die Gestaltung der Gespräche innerhalb eines Werkes unterliegt Gattungskonventionen, und auch hier ist die Möglichkeit gegeben, Konventionen verschiedener Gattungen zu vermengen. Dem geht der Aufsatz von Uta Störmer-Caysa, »Heldendialoge in Biterolf und Dietleib« (S. 21–39) nach. Die Verfasserin analysiert die Kontaktaufnahme und ersten Gespräche des Dietleib mit den Gesandten der Städte Tronie und Metz einerseits und mit Hagen, Gernot und Gunther andererseits, und berücksichtigt dabei nicht nur die gesprochenen Worte, sondern auch die symbolischen Gesten und die Begrüßungs- und Unterwerfungsrituale.

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Sie vergleicht diese Begegnungen mit tatsächlichen Gewohnheiten in der Entstehungszeit, wie sie rekonstruiert werden können, und mit den Konventionen der höfischen Romane. Während die Gespräche mit den Gesandten der Städte den Erwartungen entsprechen, verletzt Dietleib im zweiten Fall alle Normen. Parallelen zu seiner Handlungsweise findet Uta Störmer-Caysa in einer anderen Gattung, in der frühen Heldenepik. Dietleibs Ablehnung der Konventionen entspringt nicht seiner Unreife, denn sie wird von seinem weiteren Handeln bestätigt, sondern soll ihn als Held früherer Zeiten charakterisieren.

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Wie ist diese Charakterisierung zu interpretieren? Da Dietleib erfolgreich ist, liegt im Text eine gewisse Bejahung dieses »heroischen« Benehmens, sein Verhalten wirkt aber im Kontext eines höfischen Romans grob und inakzeptabel. Die Verfasserin vermutet eine ambivalente Haltung des Autors gegenüber seinem Helden, die sich so ausdrücken könnte: »Was ich erzähle, ist heroisch und großartig, es stammt aus ferner Zeit und ist von dem Stoff, aus dem das Große in der Geschichte gemacht wird. Aber es ist zugleich grauenvoll und plump und unästhetisch.« (S. 38–39).

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Mit der Bedeutung von Gesten und Ritualen in literarischen Gesprächen beschäftigt sich ebenfalls der Aufsatz von Burkhard Hasebrink, »Aporie, Dialog, Destruktion. Eine textanalytische Studie zur 37. Aventiure des Nibelungenliedes« (S. 7–20). Alun Tiplady, »Dialog im Parzival: Zu Form und Funktion des Modalverbgebrauchs« (S. 61–74), untersucht die Spielformen der Modalverbkonstruktionen und ihre stilistische Wirkung.

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Der Autor im Gespräch mit seinem Publikum

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Ein Autor gestaltet nicht nur Personengespräche, in einigen Fällen tritt er auch mit seinem Publikum ins Gespräch und weist ihm dabei eine bestimmte Rolle zu. Wie diese Publikumsrolle sprachlich und stilistisch gestaltet wird, untersucht Nine Miedema, »Ein Sangspruchdichter im Dialog. Zu den Sänger- und Publikumsrollen in den Konrad von Würzburg zugeschriebenen Sangsprüchen« (S. 189–212). In den Sangsprüchen wird manchmal ein höfisches, manchmal ein allgemeines Publikum angesprochen, zum Teil scheint der Dichter eine Bestätigung, zum Teil eine Antwort zu erwarten. Wie die Beziehung zum Publikum in der konkreten Aufführungssituation sich gestaltet hat, ist hingegen viel schwerer zu eruieren, und da äußert sich die Verfasserin zurecht nur vorsichtig.

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Anne Simon, »guote sússe rede und antwurt: Dialog im Ritter von Turm« (S. 299–314), präsentiert einen Text, der für die literarische Verwendung von Dialog und für die Kulturgeschichte des Redeverhaltens gleichermaßen aufschlussreich ist. Im Ritter von Turm wendet sich ein Vater an seine Töchter und vermittelt ihnen anhand von exemplarischen Erzählungen ein Gesprächsverhalten, das sich für Frauen geziemt: schweigen, zuhören, dem Mann zustimmen. Wie der Vater im Werk, will der Autor auch das Redeverhalten seiner Leserinnen beeinflussen, und dazu bestärkt er die Lehre des Vaters durch die Gestaltung des Dialogs der Figuren: die Töchter des Ritters kommen gar nicht zur Sprache, die Mutter zeigt im anschließenden Dialog mit dem Vater, dass sie die von den Männern vermittelten und verlangten Werte verinnerlicht hat.

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Dieser Beitrag und der bereits besprochene von Uta Störmer-Caysa zeigen verschiedene Möglichkeiten, den immer schwierigen Beziehungen zwischen literarischem und realem Gespräch nachzugehen. Bei Störmer-Caysa sehen wir, wie vorsichtig man bewerten muss, ob der Autor sich realer Interaktionsrituale oder literarischer Gattungskonventionen bedient, und wie er damit spielen kann, um seine Personen zu charakterisieren. Anne Simon zeigt ihrerseits einen Autor, der das Gesprächverhalten seines Publikums nicht widerspiegeln sondern vielmehr lenken will.

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Besondere Dialoge einer besonderen Autorin:
Mechthild von Magdeburg

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Ein Werk, das besonders viele Fragen aufwirft, auch und gerade in Bezug auf seine Verwendung der Dialogform, ist das Fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Es findet in diesem Band besondere Beachtung: vier Aufsätze diskutieren verschiedene Aspekte.

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Almut Suerbaum, »Dialogische Identitätskonzeptionen bei Mechthild von Magdeburg«, (S. 239–255) zentriert ihre Analyse auf die ›Lehrgespräche‹ innerhalb des Werkes. Diese wollen nicht einfach nur Inhalte vermitteln, in ihnen konstituiert sich vielmehr in der Spannung zwischen besonderer Auserwähltheit und einer »kollektiven Wir-Identität« (S. 254) eine besondere Identität.

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Annette Volfing, »Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg« (S. 257–266), analysiert Mechthilds Verwendung des Hoheliedes und weist nach, wie sie verschiedene allegorische Auslegungen einsetzt, die nicht nur nebeneinander stehen, sondern auch manchmal ineinander aufgehen, changieren und verschmelzen. Die Autorin zeigt die Pluralität und Beweglichkeit der Sinndimensionen sehr überzeugend, wenn auch der argumentative Ausgang ihrer Überlegungen nicht treffend erscheint: kein mittelalterlicher Autor würde die Ehe-Allegorie soweit ausführen, dass er sich gezwungen fühlte, nur ein Denotat jeweils für die Braut und für den Bräutigam einzusetzen, schon gar nicht aus dem Grund, ein vorgebliches »Bild der geistigen Orgie« (S. 260) zu vermeiden.

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Besonders anregend ist der Beitrag von Gerd Dicke, »Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg«. Der Autor geht vom enigmatischen ersten Satz aus, in dem er den Ausdruck der Einheit findet: man weiß nicht, ob die Gottheit oder Mechthild spricht, denn ihre Identität ist in die Erfahrung der Unio aufgegangen. Dies sei jedoch der einzige Satz, in dem die Verschmelzung der Seele mit der Gottheit widergespiegelt werde. Die Dialoge hingegen (argumentiert Dicke gegen Haugs Position 2 ) können und wollen nicht das Erlebnis der Unio nachbilden, denn in ihnen sind die Partner geschieden und bedürfen eines Mittels für die Kommunikation, nämlich der Sprache. Was sie zeigen, ist die ›heimelichkeit‹, die Intimität zwischen Gott und Seele. Dass Mechthild diesen Zustand nicht narrativ beschreibt, geschieht mit Bedacht:

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Indem Mechthild anstelle eines Berichts, einer Beschreibung oder Erzählung die Dialogform wählt, um dieser Erfahrung der Allgegenwärtigkeit Gottes Ausdruck zu geben, beansprucht sie das Gespräch nicht nur – wie von Haug betont – als ein Darstellungsinstrument, sondern sie behauptet es zugleich als das Medium der gemachten Gotteserfahrung. (S. 274)
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Im Gespräch gibt es eine Bewegung der Partner zueinander, die vor allem eine Bewegung der Seele auf Gott zu ist, denn sie bewältigt eine Krisensituation, indem sie sich dem göttlichen Willen fügt. Die für Mechthild typische Multiperspektivität der Dialoge, der Wechsel der Sprecher, der Zeiten, der allegorischen Denotate erlaubt ihr, die seelische Krise besonders plastisch nachzubilden und auszudrücken. Die sehr freie Verwendung der Dialogform wird von Dicke anhand des Gleichnisses in Kap. VII 11 gezeigt, ein Exempel, das in einen Dialog übergeht. Diese Freiheit in der Gestaltung der Gespräche und im Umgang mit tradierten Formen (Exempel, Dialog) ist Dicke zufolge nur in der Volkssprache möglich. Diese Behauptung muss man allerdings etwas einschränken. Im Spätmittelalter ist generell ein freierer Umgang mit Gattungselementen und -traditionen zu beobachten, in Latein wie in der Volksprache, auch und gerade in den lateinischen Dialogen. Bei all ihrer Radikalität steht Mechthild in einer Tradition.

[35] 

Dies zeigt gerade ein anderer Beitrag im Band, Elizabeth A. Andersen: »Das fließende Licht der Gottheit und der Psalter: Dialogische Beziehungen« (S. 225–238). Für die Vielstimmigkeit ihres Werkes und die Gestaltung einer ›fluid personality‹ 3 hatte Mechthild ein Vorbild, das sie gut kannte: nämlich den Psalter, der im Mittelalter als Werk eines einzigen Autors angesehen wurde.

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Und nicht zu vergessen: die Intertextualität

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›Dialog der Texte‹ ist eine metaphorische Ausweitung des Dialogbegriffs, die einen festen Stand in der heutigen Literaturwissenschaft hat. Wie die Bachtinsche Dialogizität und von ihr ausgehend, wurde der Intertextualitätsbegriff für die Literatur späterer Epochen entwickelt, und deshalb muss eine Übertragung auf mittelalterliche Texte mit Bedacht geschehen. Eine differenzierte Untersuchung des Umgangs mit anderen Texten durch mittelalterliche Autoren, eine Abgrenzung und vorsichtige Begriffsbestimmung sind notwendig. Und noch mehr: gerade in einem Band wie diesem soll man sich fragen, inwieweit der Verweis auf andere Texte dialogisch ist. Dies leisten auf gelungene Weise zwei Aufsätze des Bandes.

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Markus Stock reflektiert in seinem Aufsatz »Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbachs Montagewerk« (S. 113–134) die interpretatorischen Möglichkeiten, die sich durch die Untersuchung von intertextuellen Bezügen für die Mediävistik eröffnen. Als Beispiel dafür analysiert er einen Roman, der als geschlossenes System, als einzelner Text schwer interpretierbar ist. Dem Verfasser gelingt es sehr überzeugend, Ulrichs Roman als ›Montagewerk‹ zu präsentieren, als Sammlung von Elementen anderer Texte, die weder in Frage gestellt noch mit einem neuen Sinn gefüllt werden. Ganz im Gegenteil: »Die Rückversicherung beim Autorisierten, die Wiederholung des Bekannten ist ein Grundzug des Erzählens im Alexander« (S. 125), Widersprüche unter den Prätexten werden nicht aufgelöst, sondern gerade dadurch bestätigt, dass sie aneinandergereiht werden. Die zitierten Texte treten also nicht in eine dialogische Beziehung zueinander, sondern verweisen »auf ein kanonisiertes Literaturideal; die Prätexte werden verwischt zu einer universalen, idealen Handlungswelt der ›höfischen Kultur‹« (S. 118).

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Die Übernahme der autoritativen Sprache einer Gattung, das Zusammenfügen von Elementen aus verschiedenen Prätexten als einfache Aneinanderreihung ohne dialogische Spannung beobachtet ebenfalls Beate Kellner: »Literarische Kontexte und pragmatische Bezugsfelder im spätmittelalterlichen Roman Friedrich von Schwaben« (135–158). Sie unterstreicht ebenfalls, dass keine kritische Auseinandersetzung mit den Prätexten stattfindet, ganz im Gegenteil: »Indem der Text zumindest partiell aus Texten anerkannter, vielleicht im 14. Jahrhundert schon kanonischer Texte gemacht ist, versichert sich der Verfasser geradezu der literarischen Qualität.« (147). Die Verfasserin unterstreicht eine weitere Dimension, die bei mittelalterlichen Texten unbedingt berücksichtigt werden muss: die Referenz auf außerliterarische Diskurse, die pragmatischen Bezüge. Sie führt dies beispielhaft am Friedrich von Schwaben vor. In diesem Roman garantiert das Thema der Mahrtenehe nicht nur die Beziehung zu höfischen Prätexten, sondern ermöglicht eine Reflexion über Probleme der dynastischen Legitimation, die im Schwaben nach dem Erloschen der Staufer besonders brisant waren.

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Ein Schlusswort

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Die Aufsatzsammlung bringt keine zusammenhängende, stringente Reflexion über das Problemfeld ›Dialog‹, das wäre in dieser Form auch nicht zu leisten. Aber sie bietet ein vielfältiges Panorama, das ihre Lektüre fruchtbar und anregend macht, und durch sie ziehen sich durchaus einige rote Fäden, die sie zusammenhalten.

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Abschließend seien noch drei Beiträge angeführt, die im Rahmen dieser Rezension nicht individuell gewürdigt werden konnten:

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• Neil Thomas: »Text gegen Texte. Zum Thema Intertextualität in der Crône Heinrichs von dem Türlin«, S. 75–94.

[44] 

• Hartmut Bleumer: »Klassische Korrelation im Guten Gerhart. Zur Dialektik von Geschichte und Narration im Frühwerk Rudolfs von Ems«, S. 95–112.

[45] 

• Maria Sherwood-Smith: »Selbstgespräch zu dritt: Innertrinitarische Gespräche im Anegenge und in der Erlösung«, S. 213–224.


Dr. Carmen Cardelle de Hartmann
Universität Zürich
Mittellateinisches Seminar
Karl Schmid-Strasse 4
CH - 8006 Zürich

Ins Netz gestellt am 27.03.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.

Empfohlene Zitierweise:

Carmen Cardelle de Hartmann: Die Allgegenwart des Dialogs. (Rezension über: Nikolaus Henkel / Martin H. Jones / Nigel F. Palmer (Hg.): Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Tübingen: Max Niemeyer 2003.)
In: IASLonline [27.03.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=835>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Fritz Nies: Frage und Antwort als dialogische Struktur im Verhältnis von Autor zu Autor (Werk zu Werk). In: Renate Lachmann (Hg.): Dialogizität. München: Fink 1982, S. 185–189, hier S. 189.   zurück
Walter Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Karlheinz Stierle / Rainer Warning (Hg.): Das Gespräch. München: Fink 1984 (neue, unveränderte Auflage 1996), S. 251–279.   zurück
Für diesen Begriff verweist die Verfasserin auf Robert Gordis: The Song of Songs and Lamentations. A Study, Modern Translation and Commentary. New York: Ktav 1974, S. 172.   zurück