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Die Geschichte der Unbegrifflichkeit

  • Almut Todorow / Ulrike Landfester / Christian Sinn (Hg.): Unbegrifflichkeit. Ein Paradigma der Moderne. (Literatur und Anthropologie 21) Tübingen: Gunter Narr 2004. 259 S. 12 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 3-8233-6035-3.
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Was die (natur-)wissenschaftlichen Objektivationen überhaupt wert seien, fragt Husserl, wenn sie offenbar die Lebenswelt als »Horizont aller sinnvollen Induktionen« 1 verlassen und damit unversehens den Sinn jener Wissensbestände zur Disposition gestellt haben. Blumenberg greift dieses grundsätzliche Problem auf, gibt ihm jedoch eine sprachphilosophische Wendung, indem er konstatiert, daß wir zwar nicht mehr wissen, »weshalb wir das ganze gewaltige Unternehmen der Wissenschaft [...] unternommen haben«, 2 daß aber die Wahrheit, auf die hin jenes Unternehmen einst entworfen wurde, in der Sprache der Wissenschaft selbst »nicht mehr ausgesagt werden kann und wohl auch niemals ausgesagt worden ist«. 3 Im Anschluß an Husserl teilt Blumenberg jedoch auch die Einsicht, daß die Lebenswelt den eigentlichen »Motivierungsrückhalt aller Theorie« bilden muß. 4 Sprachlicher Ort dieses Rückhalts und damit zugleich Ort jenes nicht mehr präsenten Wissens ist nach Blumenberg bekanntlich die Metapher, allgemeiner noch: die Unbegrifflichkeit, weil sie Lebenswelt und Erkenntnisprozeß in sich vermittelt.

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»Unbegrifflichkeit«
zwischen Heuristik und Historik

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Unter Anerkennung dieser Ausgangslage setzt sich der von Almut Todorow, Ulrike Landfester und Christian Sinn herausgegebene Band Unbegrifflichkeit im wesentlichen drei Ziele. Erstens soll die von Blumenberg angeregte Theorie der Unbegrifflichkeit näher bestimmt, zweitens aber sogleich »konsequent zum forschungslogischen Programm der Kulturwissenschaften« weiterentwickelt werden (S. 7), denn hierdurch biete sich die Möglichkeit, den ursprünglichen Grund aller theoretischen Neugier zu rekonstruieren. Neben diese heuristische Dimension des paradoxen Begriffs der Unbegrifflichkeit rücken die Autoren schließlich drittens seine Qualität als historische Beschreibungskategorie der Moderne, da sich, zumindest ab Mitte des 18. Jahrhunderts, »die Forschungslogik der Kulturwissenschaften als Suche nach einer Theorie der Unbegrifflichkeit analysieren« lasse (S. 8). Nach Ideengeschichte, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte und Metapherngeschichte scheint es nun die Geschichte der Unbegrifflichkeit zu sein, mit der ein modernes, gleichermaßen jedoch ein spezifisch wissenschaftliches Selbstverständnis zu sich selbst kommen könnte.

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Der Terminus »Unbegrifflichkeit« wird dabei in vier Varianten aufgefaßt: als »Überbegrifflichkeit«, die das Vermögen des Menschen zur Begriffsbildung überhaupt ins Auge faßt, als »Unterbegrifflichkeit«, wie sie sich vornehmlich in der Darstellung von Ideen realisiert, als »Übersetzungsbegrifflichkeit«, sofern sie auf die Lesbarkeit von Kultur ausgerichtet ist, und als »Bildung von Orientierungswissen« (S. 8 ff.).

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Literarizität aller Theorie

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In diesem theoretischen Rahmen bewegen sich die folgenden 13 Beiträge, deren historische Spannweite vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht, wobei es klar erkennbare thematische Schwerpunkte gibt. Das Zentrum der ersten fünf Aufsätze bildet Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens aus dem Jahr 1799, der hauptsächlich mal in Verbindung mit Simmels Geselligkeitsentwürfen, mal in Verbindung mit der Soziologie Luhmanns, mal in Verbindung mit beidem untersucht wird. Diese Zusammenstellung erscheint jeweils nicht nur durch den thematischen Nexus der Geselligkeit legitimiert, sondern auch durch das Bemühen der drei untersuchten Autoren, Soziabilität und Ästhetik kontinuierlich aufeinander zu beziehen. Nicht zuletzt aus solcher Verknüpfung resultiert als Effekt der wesentlich ästhetische Charakter dieser Schriften, der sich zum Beispiel als durchgängige Metaphorizität (S. 47 f.), als »Erzählzwang« (S. 60), als »literarisch-rhetorische Selbstkonditionierung« (S. 65) oder eben generell als unhintergehbare Unbegrifflichkeit äußern kann. Auf diese Weise wird das Phänomen der literarischen Verfaßtheit philosophischer Texte, das meist im Hinblick auf Platons, Kierkegaards oder Nietzsches Werke erörtert worden ist, für bestimmte Theorieformen insgesamt verallgemeinert, wie es letztlich in der Konsequenz von Blumenbergs metaphorologischem Projekt liegt.

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Nach diesem ersten Teil beleuchten zwei Beiträge die in Siegfried Kracauers Essay Das Ornament der Masse entwickelten Darstellungsverfahren. Die hier vorab formulierte These, »Unbegrifflichkeit« werde im Essay der klassischen Moderne »zum Darstellungsprinzip des theoretisch konzipierten Realen« (S. 107), führt beispielsweise Almut Todorow dahingehend aus, daß Kracauer im Rahmen seiner »essayistischen Poetik« (S. 109) Unbegrifflichkeit zur Grundlage für »in Bewegung versetzte metaphorische Schreibweisen« mache (S. 123).

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Spezialfälle der Unbegrifflichkeit:
Übersetzung, Malerei, Musik

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Der dritte Teil des Bandes steht ganz im Zeichen von Walter Benjamins Text Die Aufgabe des Übersetzers, der einerseits ins Verhältnis zu Blumenbergs Sprachtheorie gesetzt, andererseits neuerlich einem dekonstruktivistisch inspirierten close reading unterworfen und schließlich mit Blick auf konkrete Übersetzungsprobleme hin analysiert wird, wie sie Celans Gaunerlied aufgibt. Dabei ist aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der Aufsatz von Jürgen Brokoff über das Verhältnis von philosophischer und literarischer Sprache bei Benjamin und Blumenberg besonders lehrreich. Denn nicht im altbekannten Nachweis der notwendigen Literarizität philosophischer Texte besteht Brokoffs Argumentationsziel, sondern umgekehrt im Versuch, das genuin literarische Sprechen vom philosophischen wieder abzugrenzen.

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Die ebenso einfache wie einleuchtende These lautet, daß der Status der Metaphorik in beiden Gattungen ein grundverschiedener ist:

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Die Metaphorologie macht folglich nur Sinn als ein Projekt, das eine Metaphorik untersucht, die wider Willen vorhanden ist und die dem Bemühen um Begrifflichkeit zuwiderläuft. Die literarische Sprache kann gar kein Gegenstand der Metaphorologie sein, weil sie nicht wie die philosophische Sprache durch das Widerspiel von Begrifflichkeit einerseits sowie Metaphorik und Unbegrifflichkeit andererseits gekennzeichnet ist. (S. 156)
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Zur indirekten Illustration dieser Einsicht zieht Brokoff den Sonderfall der Übersetzung poetischer Werke heran, wie er sich für Benjamin im genannten Aufsatz darstellt. Nicht daß philosophische Texte literarisch, sondern daß der poetische Text der Übersetzung im Kern philosophisch organisiert ist, erfordert das Beharren auf der Gattungsdifferenz. Die Sprache der Übersetzung muß der Form nach poetisch, aber der Haltung nach philosophisch beziehungsweise theoretisch verfaßt sein, weil sie andernfalls ihren Wahrheitsbezug als Übersetzung preisgibt. Zudem bleibt die Übersetzung abhängig vom Original, doch nur im Verein mit der Übersetzung vermag das Original an jener Wahrheit teilzuhaben, die die Sprache als Totalität selbst bereithält.

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Darüber hinaus werden zwei vermeintliche Sonderfälle von Unbegrifflichkeit präsentiert, nämlich Malerei und Musik. In Analogie zu Blumenbergs Frage, wie das Unbegriffene und das Unsagbare zur Sprache kommen, fragt etwa Gonsalv Mainberger, wie das Unsichtbare »figurativ-bildnerisch dargestellt werden kann« (S. 211), und verweist hierbei auf eine Entsprechung von Maltechnik und Sprachtechnik – als Rhetorik.

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Resümee

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Am Schluß des Bandes zeichnet Anselm Haverkamp in einem kurzen Kommentar noch einmal Blumenbergs Weg von den Paradigmen zu einer Metaphorologie zum Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit nach und resümiert den erkenntnistheoretischen Nutzen, der in der Transformation der Metaphorologie zur Theorie der Unbegrifflichkeit zu erblicken sei:

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Unbegrifflichkeit ist folglich die der anthropologischen, anthropomorph semantisierenden Verblendung ›ausweichende‹, den obstinat verblendeten Realismus der ›Wirklichkeitsbegriffe‹ verlassende Bewegung dessen, was die postmoderne Mythenwelt an Remythisierungen auszeichnet. (S. 255)
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Ob das hier vorgetragene Lob der Unbegrifflichkeit in dieser sprachlichen Gestalt daherkommen muß, wäre freilich zu klären.

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Überblickt man nun den theoretischen Anspruch des Bandes mit den zugehörigen Exempla, bleibt ein zwiespältiger Eindruck zurück. Dies gilt auch mit Blick auf den nicht immer transparenten Wert des Buches für die Literaturwissenschaft, selbst wenn sie sich kulturwissenschaftlich orientiert. Denn der skizzierte Spagat zwischen Unbegrifflichkeit als Heuristik und historischem Beschreibungsmodell wird durch die Beiträge klar zugunsten des Beschreibungsmodells entschieden. Insofern muß an diesem Punkt noch offen bleiben, ob sich Unbegrifflichkeit tatsächlich als Fundament »einer interdisziplinären Wissenschaftstheorie« (S. 7) eignet.



Anmerkungen

Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hg. von Elisabeth Ströker. Hamburg: Felix Meiner 1982, S. 54.   zurück
Hans Blumenberg: Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit. In: H. B.: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1979, S. 75–93, hier S. 82.   zurück
Ebd., S. 77.   zurück