Franka Marquardt

'Wohl-' und 'Misswollen'.

Goethe-Kritiken von Georg Christoph Lichtenberg bis W. Daniel Wilson




  • Karl Eibl / Bernd Scheffer (Hg.): Goethes Kritiker. Paderborn: mentis 2001. 217 S. Kartoniert. EUR 36,00.
    ISBN: 3-89785-143-1.


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Was Goethe selbst nach Erhalt eines ähnlichen Sammelbandes vorschlägt, haben sich Karl Eibl und Bernd Scheffer nun offensichtlich zu Herzen genommen: »Man hat einen Octavband herausgegeben ›Goethe in den wohlwollenden Zeugnissen der Mitlebenden‹«, so schreibt er 1823 im Entwurf zu einer Stellungnahme, »[n]un würde ich rathen ein Gegenstück zu besorgen: ›Goethe in den mißwollenden Zeugnissen der Mitlebenden‹« (S. 7). Im expliziten Rückgriff auf diesen Vorläuferband und Goethes Vorschlag erweitern Eibl und Scheffer nun das Unternehmen in zwei Richtungen: In ihren Sammelband finden nicht nur die ›mitlebenden‹ und erst recht nicht nur die ›wohlwollenden‹ unter Goethes Kritikern Eingang.

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Zwölf Positionen im ›Streit um Goethe‹

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Als Dokumentation einer germanistischen Ringvorlesung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München versammelt der Band zwölf Untersuchungen einschlägiger Goethe-Kritiken nach der Reihenfolge ihres Entstehens; am Anfang steht Gerhard Neumanns Darstellung der Werther-Lektüre Georg Christoph Lichtenbergs, am Ende die spürbar verärgerte Auseinandersetzung Hartmut Reinhardts mit den Arbeiten des Zeitgenossen W. Daniel Wilson. Dazwischen sammeln Eibl und Scheffer nach eigenen Aussagen eine Reihe von ›Schlaglichtern‹, die weder Anspruch auf »Systematik noch gar Vollständigkeit« erheben sollen (S. 10).

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Bei allen zwölf Beiträgen handelt es sich natürlich um doppelte ›Goethe-Kritiken‹, denn durch die Darstellung des jeweiligen ›Kritikers‹ – bis auf eine halbe Ausnahme sind es tatsächlich ausschließlich Männer – scheinen immer auch die Goethe-Lektüren des Kritikers des Kritikers hindurch. Daher liegen nicht nur die skizzierten Positionen im ›Streit um Goethe‹ zeitlich und inhaltlich zum Teil sehr weit auseinander, auch die methodischen Zugriffe bei ihrer Darstellung variieren teils so stark, dass der Sammelband nebenbei auch eine ganze Palette zeitgenössischer Frageperspektiven und Vorgehensweisen der Literaturwissenschaft vorstellt.

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Methodenpluralismus

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Im Eröffnungsbeitrag »Ein Herz mit Testikeln« (S. 11–26) nimmt Gerhard Neumann eine diskursgeschichtliche Einordnung der scharfen, eher ›misswollenden‹ Kritik Georg Christoph Lichtenbergs an Goethes Werther vor. Was den radikalen Aufklärer wohl so erbost hat, liegt weniger in der gerade ihm durchaus bewussten »Ausprägung eines neuen Paradigmas, eines neuen Regelprinzips in der wechselvollen europäischen Wahrnehmungsgeschichte« (S. 12), und mehr in der angebotenen ›Lösung‹ des neu fokussierten Konflikts zwischen ›Kopf‹ und ›Herz‹. Nicht die ›Empfindsamkeit‹ an sich ist es, an der Lichtenberg nach Neumann Anstoß nimmt, sie allein wäre im Sinne von Selbsterkenntnis und -reflexion auch für die Aufklärung anschließbar gewesen. Ärgerlich erscheint ihm eher die Verbindung von ›Liebe als Passion‹ und einem unmittelbar daran geknüpften, neu sich ausrichtenden Sexualitätsdispositiv zu eben jenem »Herz mit Testikeln«. Dass diese augenscheinlich fatale Kombination noch eine religiös-mythologische Überhöhung erfährt, verärgert Lichtenberg vollends. In dem »kleine[n] erfolgreiche[n] Werkchen« sieht er »das unerträgliche Feindbild zu seinem eigenen Konzept vom aufgeklärten Menschen«; daher baut Lichtenberg Werther nach Neumann »gleich einem Popanz« auf, »dessen er sich bei passender Gelegenheit immer wieder bediente« (S. 17). In genau dieser Konstellation, also in Lichtenbergs Empörung über Goethes Werther sieht Neumann »wie in einem Brennspiegel verdichtet den kulturellen Konflikt, welcher der Geburt unserer Moderne und ihrer Konstruktion von Individualität zugrunde liegt« (S. 26).

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Im Vergleich zu diesem methodisch reflektierten und avancierten Einstieg erscheinen manche der folgenden Beiträge in ihrem Zugang zwar philologisch sauber, in ihren Ergebnissen aber eher konventionell und ein wenig blass. So zeichnen zum Beispiel Hendrik Birus, Günter Häntzschel und Walter Hettche die Goethe-Kritiken, -Reminiszenzen und -Wiederaufnahmen in ihren verschiedenen Entstehungsstufen, Wortlauten, Publikationsgeschichten und Widersprüchlichkeiten bei Friedrich Schlegel und Novalis, bei Heinrich Heine und bei Theodor Fontane nach (vgl. S. 27–43, S. 57–70, S. 87–100), indem sie einen guten Überblick zum Thema, inhaltlich und methodisch aber eben wenig Neues bringen. Man erfährt etwa, wie widersprüchlich die Wilhelm Meister-Kritiken Schlegels und Novalis’ waren oder dass Heine Goethe gegenüber im Vergleich mit anderen ›Jungdeutschen‹ noch recht differenziert und milde war. Die Auswertung der vielen öffentlichen, privaten und halb-privaten Äußerungen Fontanes zu Goethe wiederum bestätigt vorwiegend Vermutbares: Je nachdem, ob man Fontane als Romancier, als Theaterkritiker oder als Brief- und Tagebuchschreiber in den Blick nimmt, fallen seine Urteile sehr unterschiedlich aus.

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Interessant ist Hettches Fazit am Ende seines Überblicks über Goethe und Fontane im Sinne einer Tendenz, die der Sammelband insgesamt zunehmend deutlich werden lässt: Als »Goethe-Kritiker im eigentlichen Sinne« könne man Fontane nicht mehr ohne Weiteres bezeichnen; »Kritik am Dichter und seinem Werk [...] hat Fontane zwar auch geübt, aber weit mehr ist er doch ein Kritiker der Goethe-Rezeption seiner Zeit gewesen.« (S. 99 – Hervorhebung im Original)

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Iphigenie und Penthesilea

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Einer der zwölf Beiträge fällt insofern aus dem Rahmen, als darin nicht eigentlich ein bestimmter Goethe-Kritiker, sondern vielmehr eine bestimmte Goethe-Lektüre vorgestellt wird. Denn bei Erich Meuthens Untersuchung zum »Entsetzen der schönen Seele. Über die rhetorische Dimension des ästhetischen Scheins bei Goethe und Kleist« (S. 45–56) handelt es sich um eine dekonstruktiv inspirierte, wenn auch nicht streng durchgeführte Auslegung der Konfliktkonstellationen in Goethes Iphigenie auf Tauris und Kleists Penthesilea (mit einem knappen Seitenblick auf Das Käthchen von Heilbronn) als Konstellationen sprachlicher Mehrdeutigkeit. Nach Meuthen ist die ›schöne Seele‹ nicht, wie man meinen könnte, Iphigenie, »sondern Penthesilea. Penthesilea geht zugrunde, weil sie das metaphorische Wesen der Sprache verkennt« (S. 51). Iphigenie lässt sich dagegen ein »auf den Abgrund des metaphorischen Tauschs, in dem Bedeutung entsteht, der selbst aber ohne Bedeutung ist« (S. 49). Beide Konflikte sind sprachlicher Art: Für Iphigenie wirkt die Sprache »wie der ihr im Stück entgegengesetzte Dolch: sie spaltet die Körperwelt und bringt ihr eine tödliche Wunde bei« (S. 49); für Penthesilea stiftet die Metapher keineswegs den »schönen Schein der Einheit«, sondern treibt »einen Spalt, der nicht zu kitten ist. [...] Penthesilea tötet sich [...] mit einer Metapher, mit dem ›Dolch‹ eines ›vernichtenden Gefühls›, das sie aus dem ›Schacht ihres Busens hervorgräbt‹« (S. 54).

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Obwohl kaum ins Konzept der Reihe passend, trägt gerade Meuthens Beitrag zur methodischen Vielfalt der Sammlung bei; vielleicht war das ein Grund für seine Aufnahme. Dem Rätselraten, das die Studie in diesem Kontext auslöst, hätte man elegant entgegentreten können: Durch einen Hinweis im Vor- oder im – leider gänzlich fehlenden – Schlusswort auf die Entscheidungskriterien für die Planung der Vorlesung sowie für die Aufnahme der Vorträge in die Druckfassung, vielleicht sogar auf die dabei möglicherweise beabsichtigte Methodenpluralität, hätte der Band an Transparenz gewonnen und wäre dadurch insgesamt etwas benutzer- und benutzerinnenfreundlicher ausgefallen.

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Varnhagen und ›Rahel‹,
Goethe und die Frauen

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Dass ›Goethe und die Frauen‹ trotz steter Beliebtheit 1 in diesem Band keine nennenswerte Rolle spielen, lässt nicht zuletzt das einzige Kapitel erkennen, in dem zumindest eine Goethe-Kritikerin prominent vorkommt. Unter der erklärtermaßen ›anachronistischen‹ (vgl. S. 71) Überschrift »Die ›Kunst der Interpretation‹« geht Konrad Feilchenfeldt immerhin dem »Goethe-Kult des Ehepaars Varnhagen« nach (S. 71–86), indem er dessen persönlich-schwärmerische und zugleich dessen zeittypisch-paradigmatische Seite ausleuchtet. Sehr persönlich ist dieser ›Kult‹ insofern, als Goethe zum »Mittelsmann und Medium« (S. 80) zwischen Rahel und Karl August Varnhagen von Ense avanciert, deren Eheschließung wohl nicht zuletzt dieser virtuellen ménage à trois zu verdanken ist. Paradigmatisch erscheint ihre Goethe-Verehrung aber insofern, als sie Teil jener Begeisterung für deutsche Klassiker gerade in jüdischen Kreisen ist, die als Assimilationsbemühung und als Assimilationserscheinung zugleich verstanden werden kann; die fundamentale Asymmetrie zwischen Assimilation und Antisemitismus prägt schließlich auch die Geschichte der beiden Salons der Rahel Varnhagen, in denen die Fluktuation und schließlich das gänzliche Ausbleiben mancher Gäste zum Seismographen eines zunehmenden oder zunehmend ›aktiven‹ Antisemitismus wird. 2

[14] 

Während Feilchenfeldts Überblick über diese im doppelten Sinne gemeinschaftsstiftende Goethe-Rezeption durchaus noch einmal verdienstvoll ist, stellen sich gerade im Anschluss an den Beitrag dieses ausgewiesenen Varnhagen- und Salonkulturkenners gleich mehrere kritische Fragen; allerdings ist der Autor damit in zwar nicht bester, aber ziemlich großer Gesellschaft.

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Es ist zum einen ein bemerkenswertes Phänomen der ›Salon-‹ und ›Frauen-in-der-Romantik‹-Forschung 3 insgesamt, dass Frageperspektive und Gegenstand zwar oft einem diffus feministischen Impetus entspringen, dass dieser aber fast ebenso oft durch denkbar konventionelle und klischierte Geschlechterzuordnungen gleichsam torpediert wird. Vermeintliche Kleinigkeiten sind verräterisch: Während bei Feilchenfeldt und anderen Rahel Varnhagens Ehemann mit vollem Vor- und Nachnamen, oft samt Adelsprädikat, genannt oder wenigstens auf ›Varnhagen‹ verkürzt wird, bedient man sich im Blick auf den weiblichen – und gerade für Feilchenfeldts Kontext wohl auch wichtigeren – Teil des Kritiker-Paares vertraulich-intim gerne nur ihres Vornamens. Die Verkind- und Verniedlichung, die damit der immerhin 14 Jahre älteren Frau angetan wird, stellt nicht nur einen patriarchalisch-herablassenden Gestus dar, er insinuiert zudem gerade im hier gegebenen Kontext eine gewisse, wenn nicht Unselbständigkeit, so doch besondere Unmittelbarkeit des (weiblichen) Urteils; die Vorstellung einer Frau als einer besonders unverbildeten, ›intuitiven‹ Kritikerin schließt nahtlos an Verknüpfungen von Weiblichkeit mit ›Natürlichkeit‹, ›Kindlichkeit‹, ›Emotionalität‹ und schließlich ›Irrationalismus‹ an – und findet in der ›Rahel‹-Forschung ihr Pendant im Mythos von der ›Dachstube‹, 4 also in der Suggestion eines privaten, familiär-intimen und kuschelig-heimeligen Raumes, in dem für Goethe höchstens geschwärmt, in dem er aber wohl kaum ernsthaft ›kritisiert‹ worden ist.

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Auf andere Weise und zumindest auf den zweiten Blick erscheint auch Feilchenfeldts Überschrift nicht ganz unproblematisch. Denn gerade im Umfeld ›jüdischer‹ Goethe-Rezeption wäre ein etwas kritischerer Umgang mit Schlagwort und Methode Emil Staigers wünschenswert gewesen, dessen Kunst der Interpretation eben nicht nur »aus dem zeitlichen Umfeld des Dritten Reichs« stammt (S. 71), sondern mit diesem ›Umfeld‹ wissenschafts- und diskursgeschichtlich durchaus verbunden ist. Seltsamerweise zitiert Feilchenfeldt sogar die Arbeit, die den Zusammenhang von Germanistik und Politik und darin auch von Nationalsozialismus und Werkimmanenz am Beispiel der Schweiz besonders gründlich untersucht hat (vgl. S. 71, Anm. 1), 5 integriert die Ergebnisse dieser Studie in seine Überlegungen aber nicht. Denn mit Blick auf die dort nachzulesende, noch weit in die Nachkriegszeit hineinragende Verquickung und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach einer Art ›Enthistorisierung‹ der ›Klassiker‹ dürfte man nicht mehr ganz so leichtfertig ausgerechnet von Staigers Methode als »Erbgut [!] der jüdischen Goetheverehrung« (S. 86) sprechen; abgesehen von der irritierenden Wortwahl ist diese Parallelisierung wissenschaftshistorisch fraglich und spätestens nach Schütts Arbeit in gewisser Weise auch geschmacklos.

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Irritierendes

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Von den gesammelten Beiträgen lässt Wolfgang Frühwalds Auseinandersetzung mit den Ereignissen des Goethejahres 1932 (S. 101–116) noch am deutlichsten die mündliche Vortragsfassung erkennen, worauf gleich in der ersten Anmerkung redlicherweise eigens hingewiesen wird. Obwohl der Aufsatz damit etwas aus dem sonst gut redigierten Band heraussticht, wäre dagegen im Prinzip nichts einzuwenden, wenn so nicht gewisse, teils ausgesprochen problematische Ungenauigkeiten stehen geblieben wären. Vor allem durch manche zumindest missverständliche Formulierungen hinterlässt die Darstellung einen schalen Nachgeschmack.

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Während man großzügig darüber hinwegsehen könnte, dass Frühwald »Die Buddenbrooks« als Romantitel angibt (S. 108), fällt es schon etwas schwerer ins Gewicht, dass der Beitrag den Eindruck erweckt, Thomas Mann habe 1929 »kurz nach Abschluss [...] des Romans ›Der Zauberberg‹« (S. 103) den Nobelpreis für eben diesen oder aber sein Gesamtwerk erhalten. Interessanterweise ist dies ja gerade nicht der Fall: Thomas Mann wurde der Preis ausdrücklich nur für seinen 28 Jahre zurückliegenden Erstlingsroman verliehen; außerdem war Der Zauberberg bereits 1924 erschienen, also nur in einem sehr weiten Sinne »kurz« zuvor. Etwas gar zu nahe aneinander gerückt werden auch Hitlers Regierungsantritt und Thomas Manns Gang ins Exil (vgl. S. 108); die Qualen und Querelen, die seinem erst gut drei Jahre später erfolgten öffentlichen Bekenntnis zum Exil vorausgingen, sind hinlänglich bekannt und wohl nicht ganz so einlinig zu erklären.

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Ernsthaft problematisch sind allerdings andere Formulierungen, die auf seltsam suggestive Weise bemüht zu sein scheinen, ›die Nationalsozialisten‹ und ›die Deutschen‹ gründlich zu dissoziieren. Frühwalds Bezeichnung der Feierlichkeiten zum Goethe-Jubiläum 1932 als »eine welthistorische Minute, eine kurze Atempause der Geschichte, in der [...] das Bürgertum in Deutschland Hoffnung schöpfen konnte, dem Radikalismus zu entgehen« (S. 104), ist nicht nur der a‑historischen Diktion nach, sondern auch in ihren Implikationen ausgesprochen zweifelhaft. Denn nach dieser Logik wird das »Bürgertum in Deutschland« zum Opfer eines ihm vermeintlich ›wesensfernen‹ »Radikalismus«, den es nicht selbst gewählt und gestützt, sondern nur erlitten und ertragen haben soll. Wenn im unmittelbar folgenden Absatz »die Nationalsozialisten« auch noch »im Juli 1932 [...] mit neuer Gewalt über das wehrlose Land« herfallen (ebd.), verstärkt sich der irritierende Zungenschlag des Beitrags noch mehr. Im Schlussabsatz stehen sich schließlich Thomas Manns »Goethe-Gesang« und der »Flöten- und Trommelton der Rattenfänger« (S. 115), also deutsch-›bürgerliche‹ Kultur und Verführungen von außen gegenüber. Solche zwielichtigen Passagen hätten zumindest eine gründliche Endredaktion des Beitrags nicht ohne weiteres überstehen dürfen.

[21] 

Von Goethe zu Hölderlin

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Wesentlich sensibler geht Clemens Pornschlegel auf diesem Gebiet vor, indem er die ideologisch genau anschließbare Beschäftigung bzw. Nicht-Beschäftigung Martin Heideggers mit Goethe analysiert. Auf differenzierte Weise zeichnet er das seltsame Konkurrenzverhältnis nach, in das Goethe und Hölderlin nicht nur bei Heidegger geraten. Beim Übergang vom einen zum anderen und, so zumindest bei Heidegger in den frühen 50er Jahren, wieder zurück handelt es sich nach Pornschlegel um die Druckwellen des Prozesses »einer unerhörten Mythologisierung und Sakralisierung der deutschen ›Kultur‹, die auf die Verabschiedung der säkularen, bürgerlich-liberalen Welt abzielt« (S. 128). Der Beitrag macht plausibel, dass (nicht nur) Heideggers Hinwendung zu Hölderlin einem »anti-wilhelminischen Affekt« entspringt: »Er richtet sich gegen eine Welt sinnlos gewordener kultureller Formen und gegen einen ironisch privatisierenden Bildungs-Individualismus, der sich permanent auf Goethe beruft«. So fungieren »Hölderlin und Goethe [...] als die beiden Embleme eines generationellen Konflikts um die deutsche Identität, in dem die Jungen den Alten Verrat an der religiösen, deutschen Sache vorwerfen, Verflachung, Dekadenz, Uneigentlichkeit« (S. 129).

[23] 

Besonders verdienstvoll ist hier die Breite der Fragestellung und Pornschlegels Furchtlosigkeit im Umgang auch mit heiklen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. So knapp wie überzeugend stellt sich der im- und explizit »antisemitische[ ] ›Übergang von Goethe zu Hölderlin‹« (S. 128) als Verknüpfung mit der »kultisch-religiöse[n] Fassung des Nationalen« dar, durch die »das assimilierte Judentum ausgeschlossen« wird. »Religionsfreiheit und formale, rechtliche Gleichheit, die die ›bürgerliche Verbesserung der Juden‹ tragen [...,] gehören einer obsoleten Aufklärung an, die es zu überwinden gilt – mit Hölderlin und neuen Kulten.« (S. 128)

[24] 

Zwar wäre an dieser Stelle zumindest der Versuch einer Ehrenrettung Hölderlins eine sympathische Geste gewesen, aber auch ohne diesen Schlenker ist der Beitrag besonders verdienstvoll. Hier wird genau die Nähe von ›Weimar‹ und ›Buchenwald‹ zur Sprache gebracht, die im unmittelbar vorangehenden Beitrag, so scheint es, so weit wie möglich auseinander gehalten werden sollten: »Sie sind [...] – genau das zeigt Heideggers Auseinandersetzung mit Goethe – dialektisch aufeinander bezogene Ortschaften derselben Kulturnation« (S. 134).

[25] 

Goethes Kritiker
und die Kritiker der Goethe-Rezeption

[26] 

Je weiter man sich der Gegenwart annähert, desto mehr werden ›Goethes Kritiker‹ zu ›Kritikern der Goethe-Rezeption‹. Als ein dafür ganz besonders anschauliches Beispiel erweist sich Arno Schmidt im Beitrag von Hans-Edwin Friedrich (S. 135–152). Nach einer kurzen Phase ›juveniler‹ Goethe-Verehrung vor 1945 fühlt sich Schmidt nicht zuletzt durch die heuchlerischen Versuche, Goethe als ›Klassiker‹ über die jüngste deutsche Geschichte erhaben erscheinen zu lassen, zu einer »radikalen Distanzierung« (S. 146) veranlasst.

[27] 

Auch Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos ›Goethe‹ wendet sich einem bestimmten Goethe-›Bild‹ zu, nämlich dem des »angreifbaren, [...] verstörbaren und versehrbaren Goethe«, zu dem Blumenberg, so Ethel Matala de Mazza, »seinen eigenen, melancholischen Zugang« am besten zu finden vermochte (S. 170). Von eher Bloomscher Qualität erscheint dabei die ›prometheische‹ Reihe, die de Mazza von der Sagengestalt über Goethe und Napoleon bis zu Blumenberg aufmacht. Während Goethes »Anxiety of Influence« 6 in seinem »prometheische[n] Selbstkonzept« niemandem so sehr galt wie Napoleon (vgl. S. 164), analysiert Blumenberg mit Vorliebe Goethe als den »Titan auf der Flucht« (S. 160), dessen Selbst-Mythisierung er in Ent-Mythisierung zu überführen sucht. Wie plausibel oder genau diese Beschreibung des Verhältnisses von Goethe zu Prometheus, Napoleon und Blumenberg auch immer sein mag, die etablierte Reihe ist eindrucksvoll geschlossen und zeigt, wie produktiv das Schwanken zwischen Anziehung und Ablehnung, Identifikation und Bruch sein kann.

[28] 

Anders als Sven Hanuschek im vorletzten Beitrag behauptet, ist Eckhard Henscheid nicht der »einzige[ ] lebende[ ] Goethe-Leser dieser Reihe« (S. 173), denn auch die nachfolgende Studie behandelt einen noch lebenden und lesenden Kritiker Goethes. Im Unterschied zu W. Daniel Wilson geht Henscheid bei seiner Goethe-Rezeption allerdings erklärtermaßen semi-fiktionale Wege, deren Kennzeichen der Gestus »respektlose[r] Hochverehrung« sei (S. 179). Auch Henscheid gehört weniger zu ›Goethes Kritikern‹ als vielmehr zu den »Kritiker[n] der Goethe-Gemeinde« (S. 189), wobei sich seine ›Respektlosigkeit‹ sympathischerweise auch auf die eigene Verehrung beziehen kann.

[29] 

Reinhardt gegen Wilson

[30] 

An der Oberfläche um ausgleichende Fairness und Anerkennung bemüht, kann sich Hartmut Reinhardt eines bissigen Untertons bei seiner Darstellung der ›detektivischen‹ Forschungsarbeiten W. Daniel Wilsons (S. 191–208) nicht immer enthalten. Bereits die feuilletonistisch-polemische Überschrift »Der Ermittler«, an die auch der Fließtext immer wieder anknüpft (vgl. S. 197, 198, 201, 203), transportiert diesen Eindruck, mag sie auch unmittelbar an Wilsons Selbststilisierung anschließen. Dass dieser als ein »Germanist an der sehr angesehenen University of California in Berkeley« eingeführt wird, der sich »den Nimbus eines Goethe-Kritikers verschafft« haben soll, indem er »unermüdlich und unbeirrbar auf der Suche nach faulen Flecken beim größten deutschen Dichter« sei, unterstützt die polemische Tendenz: Die ›sehr angesehene‹ Universität impliziert einen Kontrast zu diesem ihrem Mitglied, der ›Nimbus‹ erscheint von zweifelhaftem Wert, und die ›unermüdliche, unbeirrbare‹ Suche erscheint vor diesem Hintergrund eher als inquisitorische Obsession. Dass Wilsons Interpretationen seiner Archivfunde teils auf eher tönernen Füßen stehen, wie zum Beispiel seine ›Spitzelthese‹, nach der Goethe und Carl August 1783 dem Illuminatenorden nur beigetreten sein sollen, um ihn von innen auszuspionieren (vgl. S. 193), ist in der Forschung mehrfach bemerkt und bemängelt worden. Auch Reinhardts Darstellungen gewisser ›Kurzschlüsse‹ in Wilsons Argumentation erscheinen ganz und gar berechtigt, so zum Beispiel die Horizontverengung auf Jenaer Lokalgeschichte, die Wilson bei Goethe und Schiller als handlungsleitend identifiziert haben will (vgl. S. 201).

[31] 

Zuweilen wirft Reinhardts Polemik aber ebenso viel Licht auf ihn als Kritiker wie auf den Kritisierten; so zum Beispiel bei seinem grundsätzlichen Angriff auf die gesamte ›Kritische Theorie‹. Für Reinhardt schrumpft ›Ideologiekritik‹ auf eine »methodische[ ] Formation« zusammen, »die mit bestimmten Theorieprämissen (marxistischer Provenienz) eine Position permanenten Besserwissens gegenüber historischen Autoren beansprucht – und mittlerweile gründlich ausgespielt hat« (S. 206). Nach der fruchtbaren Auseinandersetzung mit Wilsons Ergebnissen en détail macht Reinhardt hier Front gegen eine insgesamt keineswegs ehrenrührige Forschungsperspektive, die Wilson zwar unter anderem zu seinen Fragestellungen inspiriert haben mag, bei der aber auch zu fragen wäre, ob sie durch ihn angemessen vertreten (und durch Reinhardt angemessen charakterisiert) wird.

[32] 

Zwar ist der misswollende Kritiker des Kritikers nach eigenen Aussagen »weit entfernt davon«, »Regeln aufzustellen«, »wie mit den – bisherigen und künftigen – Aktivitäten des kalifornischen Anti-Goetheaners füglich umzugehen« sei (S. 206), und er, Reinhardt, selbst sei vielmehr auf der Suche nach einer »Kommunikationsform, die es erlaubt, Kontroversen weniger rechthaberisch auszutragen« (S. 207) – doch diese Suche nach Wegen zu einer Versachlichung dieses speziellen ›Streits um Goethe‹ scheint noch nicht beendet. Dass er mehrfach auf Wilsons Herkunft aus der Auslandsgermanistik anspielt und diese zu guter Letzt auch noch in unmittelbare Konkurrenz zur ›Inlandsgermanistik‹ treten lässt, die durch Wilsons akribische Studien ›beschämt‹ werde (vgl. S. 207), lässt Hintergründe des Streits vermuten, die hier nicht recht zur Sprache kommen.

[33] 

In ohnehin bedauernswerter Ermangelung eines Nachworts, eines Registers, einer Bibliographie oder auch nur eines Überblicks über den Werdegang der beitragenden Autoren erhält Reinhardt hier buchstäblich das letzte Wort. Einem etwaigen neuen Bildersturm auf Goethe wird man jedoch gelassen entgegensehen können, zeigen doch die hier versammelten ›Kritiker‹ von Lichtenberg bis Wilson auf eindrückliche Weise, dass die ›misswollenden‹ unter ihnen oft mindestens so viel zu sagen haben wie ihre ›wohlwollenden‹ Kollegen


Dr. Franka Marquardt
Universität Bern
Institut für Germanistik
Länggassstr. 49
CH - 3000 Bern 9

Ins Netz gestellt am 24.08.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Bernd Hamacher. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Franka Marquardt: 'Wohl-' und 'Misswollen'. Goethe-Kritiken von Georg Christoph Lichtenberg bis W. Daniel Wilson. (Rezension über: Karl Eibl / Bernd Scheffer (Hg.): Goethes Kritiker. Paderborn: mentis 2001.)
In: IASLonline [24.08.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=903>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Vgl. Astrid Seele: Frauen um Goethe. Reinbek: Rowohlt 1997; Paul Kühn: Die Frauen um Goethe. Weimarer Interieurs. 2 Bde. Leipzig: Klinkhardt und Biermann 1911 f.   zurück
Vgl. Deborah Hertz: Die jüdischen Salons im alten Berlin 1780–1806. München: dtv 1995, S. 15–17; Verena von der Heyden-Rynsch: Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 3. Aufl. 1997, S. 147 f.; Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper, 8. Aufl. 1990, S. 186–211.   zurück
Vgl. Katja Behrens (Hg.): Frauen der Romantik. Porträts in Briefen. Frankfurt / M.: Insel 1995; Margarete Susman: Frauen der Romantik. Frankfurt / M.: Insel 1996 [zuerst 1929].   zurück
Vgl. Barbara Hahn: Der Mythos vom Salon. »Rahels Dachstube« als historische Fiktion. In: Hartwig Schultz (Hg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin: de Gruyter 1997, S. 213–234.   zurück
Julian Schütt: Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. Zürich: Chronos 1996, S. 57–71, S. 123–136.   zurück
Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. London, New York: Oxford University Press 1973.   zurück