Britta Herrmann

Handlicher Werkzeugkasten:
Cultural Studies für Einsteiger




  • Chris Barker: Cultural Studies. Theory and Practice. With a Foreword by Paul Willis. London / Thousand Oaks / New Dehli: Sage Publications Ltd. 2000. 464 S. Kartoniert. EUR 24,80.
    ISBN: 0-7619-5775-8.


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Mapping the field

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Was sind ›Cultural Studies‹? Seit den 90er Jahren mangelt es nicht an Versuchen, diese Frage zu beantworten: Zahlreiche Einführungen, Sammelbände und Reader machten sich stets von neuem daran, das weite und unübersichtliche Feld der Cultural Studies möglichst genau zu vermessen und – um weiterhin im semantischen Umkreis des Wortes ›colere‹ zu bleiben – das kulturtheoretische Ackergerät vorzustellen. Eine Vielzahl an Verzeichnissen ist seither entstanden, 1 welche die skeptischen Zuschauer am Feldrain ebenso wie die redlich bemühten Urbarisierer orientieren sollen über all die Pfade, Furchen, Früchte, über Anbaugebiete, Methoden, Verwertung und Schädlingsbekämpfungsmittel, die in den letzten fünfzig Jahren erschlossen und fleißig erprobt worden sind.

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Sieht man einmal davon ab, daß die unterschiedlichen Pächter die jeweils von ihnen kultivierten Parzellen und Produkte meist als besonders rentabel hervorzuheben trachten und daß die erstellten Kartographien dabei stets auch unbeschriebene Flecke sowie unklare Wegführungen aufweisen, so gehört es zum festen Bestandteil dieser Erkundungen, die eigene Vorläufigkeit und Partialität zu betonen. Zu komplex, zu heterogen, zu eklektisch, zu dynamisch erscheinen die Perspektiven und Projekte auf dem beschrittenen Gebiet, als daß es befriedigend und lückenlos repräsentiert werden könnte.

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Dies belegt weniger das Unvermögen der jeweiligen Autor(inn)en als vielmehr die Stärke der Cultural Studies als intellektuell bewegliches und stets an aktuellen Fragestellungen interessiertes Ideenreservoir: Mit ihrer gleichsam flüssigen Topographie suchen sie sich jenen Erschließungsunternehmen zu verweigern, in deren Gefolge sich oftmals nur die Spekulanten das Terrain aufteilen.

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Je stärker diese Topik der Flexibilität für die Cultural Studies entfaltet wird, desto wichtiger werden offenbar narrative Kontinuitäten. Zunehmend erweisen sich die inzwischen bereits fünfzig Jahre zurückliegenden Anfänge als zentraler Ausgangspunkt der verschiedenen Darstellungen: Die stets um Aktualität bemühten Cultural Studies bekommen eine Geschichte, auf die sie in den letzten Jahren immer wieder zurückbuchstabiert wurden: Zumindest der historiographische Zugriff bewegt sich auf sicher erscheinendem Gelände.

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Wie alles begann – die Erzählung hiervon ähnelt meist frühen Siedlergeschichten, und die Namen der Pioniere sind fest eingeschrieben ins Gedächtnis der Cultural Studies: Immer wieder feiern deren historiographische Selbstbeschreibungen das Triumvirat Richard Hoggart, Edward Thompson und Raymond Williams als Eigentümer der ersten claims sowie als Begründer gleichsam der vordersten frontier-town – dem Birmingham Centre for Cultural Studies.

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Zu Recht verweist Chris Barker in dem vorliegenden Buch darauf, daß die Institutionengeschichte der Cultural Studies mit der gebetsmühlenartig wiederholten Ursprungserzählung zu einem mythengleichen Narrativ zu gerinnen droht. Barker richtet den Blick daher vor allem auf die Frage, mithilfe welcher Diskurse die Cultural Studies sich als eigenes Gebiet etabliert haben und wie sie als Sprachspiel (in Anlehnung an Wittgenstein) funktionieren.

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Um die spezifischen sprachlichen Setzungen der Cultural Studies vorzuführen und deren Diskurs gegenüber der Kulturforschung in einzelnen Disziplinen abzugrenzen, beschreibt der Band zunächst die Schlüsselkonzepte und
-methoden der Cultural Studies, erläutert deren intellektuelle und theoretische Grundlagen, umreißt mit ›Globalisierung‹ und ›Postmoderne‹ ihre aktuellen Kontexte, bevor die wichtigsten »sites« der Cultural Studies besichtigt werden: Fragen nach Subjektivität, Identität und Differenz, Repräsentation und Rezeption, Urbanismus und Cyberspace, Subkultur, Cultural Politics.

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Barker begreift die Cultural Studies dabei als eine Art »Tool-Kit« (S. 5), dessen Inhalt dazu dient, über die Perspektiven einzelner Disziplinen hinaus neue Fragestellungen zu entwickeln und zu verfolgen. Indem die verschiedenen Werkzeuge – entliehen etwa aus Marxismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus, Feminismus, Psychoanalyse, Sozialgeschichte, Literatur-, Kommunikations- und Medienwissenschaft – in ihrem Gebrauch knapp, einfach, aber durchaus differenziert vorgestellt werden, legt Barker mit seinem ausdrücklich als »teaching book« konzipierten Band eine solide Basis für das Grundstudium. Und darüber hinaus für alle diejenigen, die etwa seit längerem Schwierigkeiten mit dem epistemologischen und kulturellen Verhältnis von Moderne und Postmoderne haben, die Postmoderne und Poststrukturalismus für austauschbare Synonyme halten oder doch endlich einmal verstehen wollen, was es mit der Derridaschen ›différance‹ auf sich hat.

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Blick in den Werkzeugkasten

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Auf den Gebrauch als Lehr- und Studienbuch angelegt, präsentiert sich der übersichtlich strukturierte Band mit einem detaillierten Inhaltsverzeichnis und mit ausführlichem Index, die beide die Suche nach thematischen Zusammenhängen erleichtern; mit einem Glossar der wichtigsten Begriffe
(S. 381–394), pointierten Resümees am Ende eines jeden Kapitels als Lernhilfen sowie einer umfassenden Bibliographie für weiterführende Studien
(S. 395–413).

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In kurzen Überblicksdarstellungen werden neben den Schlüsselkonzepten und ‑methodologien die intellektuellen Hauptströmungen und die einflußreichsten theoretischen Richtungen vorgeführt. Dabei werden die einzelnen Positionen knapp rekapituliert und zugleich die wichtigsten Kritikpunkte aufgelistet. Indem der Band die jeweiligen Konzepte miteinander vernetzt und den aktuellen Zugriff auf diesen Theorienpool innerhalb der Kontexte von Globalisierung und Postmoderne situiert, bildet er zugleich eine Ideengeschichte der (westlichen) Cultural Studies ab.

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Diese Ideengeschichte stützt sich im ersten Teil des Buches – »Foundations of Cultural Studies« – zunächst auf zentrale Kultur-, Sprach- und Lektürekonzepte: von den frühen, kulturalistisch orientierten Birminghamer Ansätzen über die Frankfurter Schule zu Althusser und Gramsci (»Questions of Culture and Ideology«, S. 35–65), von de Saussure über Barthes, Derrida, Foucault und Lacan zu Wittgenstein und Rorty (»Culture, Meaning, Knowledge. The Linguistic Turn in Cultural Studies«, S. 66–95).

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Während das zweite Großkapitel die genannte Kontextualisierung leistet (»The Changing Contexts of Cultural Studies«), und dabei die epistemologischen wie kulturellen Veränderungen im Übergang von der Moderne zur Postmoderne sowie im Wechsel von nationalen zu postnationalen Strukturen zu skizzieren sucht, rollt der Band in seinem dritten Teil die Ideengeschichte der Cultural Studies von ihren Schlüsselthemen her auf – freilich nicht ohne zahlreiche Quer- und Rückverweise zu den bisherigen Kapiteln: Fokussiert auf die Probleme von Subjektivität, Identität, Differenz und Repräsentation (Geschlecht, Ethnie, Hautfarbe, Alter), Medienrezeption, Raum- und Zeitordnungen werden dabei vor allem psychoanalytische, feministische, postkoloniale und medientheoretische Ansätze sowie deren kulturpolitische Verortungen vorgestellt.

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Wie immer bei solchen umfassenden Darstellungsversuchen ließe sich dennoch auf Lücken verweisen. So wäre etwa zu fragen, warum unter der Überschrift »Sex, Subjectivity and Representation« lediglich auf Feminismus und Frauenbildforschung eingegangen wird – als gäbe es nicht auch men studies, masculinities, gay and lesbian studies, queer studies usw., die in diesem Kontext zu nennen wären. Umgekehrt wäre durchaus zu diskutieren, inwiefern der Feminismus den Cultural Studies überhaupt derart selbstverständlich zu subsumieren ist. Dies stellt insofern eine historische Pointe dar, als der Feminismus einst in das vorgeblich geschlechtsneutrale Forschungsgebiet der ›Kultur‹ eingestiegen ist wie eine »Diebin in der Nacht«. 2 Nun aber scheint es, daß die Einbrecherin ihre rebellische Tat dort auf ewig als Zimmermädchen sühnen soll.

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Schwerer als so manche Absenzen – es fehlt etwa auch der New Historicism, ethnologische und anthropologische Ansätze kommen zu kurz – wiegt der Mangel an selbstreflexiver Kritik gegenüber der eigenen, vorwiegend semiotikbasierten und auf westliche Theorien konzentrierten Konzeption von Cultural Studies. Sicher ist es legitim, Sprache, Wissens- und Bedeutungsproduktion als zentrales Anliegen der Cultural Studies vorzuführen (S. 94) und die empirische Forschung dabei kaum zu betrachten. Und ebenso gut lassen sich die vorgestellten Konzepte und Methoden der Cultural Studies als universale Werkzeuge begreifen, deren Einsatz im Hinblick auf den jeweiligen kulturellen Kontext stets kritisch zu überprüfen und zu modifizieren ist (S. 4–5): Zu Recht wurden längst Bedenken hinsichtlich der globalen Kompatibilität von lokal entwickelten Kulturkonzepten sowie gegenüber bloßen Importen von (westlichen) Theorien formuliert. 3 Doch selbst wenn der Anspruch, ungeachtet dieser Transfer-Probleme, eine zumindest für die westliche Hemisphäre kulturübergreifend brauchbare Einführung vorgelegt zu haben, gerechtfertigt sein mag, so bleibt es doch fragwürdig, daß Barker ganz bewußt nur jene Konzepte vorstellt, die er zu den wichtigsten und geographisch verbreitetsten Errungenschaften der Cultural Studies zählt: Auf diese Weise wird ein bereits etablierter Kanon zitiert und zugleich zirkulär als Argument für dessen fortgesetzte Festschreibung eingesetzt, ohne daß die Ein- und Ausschlußmechanismen analysiert würden, die zu einem solchen Kanon führen.

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So folgt der Autor zwar einerseits der genreüblichen Rhetorik, von vorneherein einen selektiven Blick einzugestehen (S. 3), um so dem Verdacht vorzubeugen, eine subjektive Position universalisieren und damit das Projekt der Cultural Studies unterlaufen zu wollen. Doch fehlen andererseits weitergehende Überlegungen zum Konnex von (Theorie-)Kanon, Wissen und Macht, den eine jede Repräsentation der Cultural Studies notwendigerweise herstellt. Daß hier jenes Maß an Selbstreflexivität fehlt, welches die Cultural Studies für sich beanspruchen, ist im Hinblick auf das Versprechen des Untertitels – Theory and Practice – durchaus zu bedauern.

[18] 

Mit der Konzentration auf den ›linguistic turn‹ der Cutural Studies finden sich vor allem jene Gerätschaften in Barkers ›tool-kit‹, die seit den letzten dreißig Jahren zum gängigen Handwerkszeug auch der Literaturwissenschaft gehören (sollten) – zumal dann (aber keineswegs nur dann), wenn sie an geschlechtertheoretischen oder kulturwissenschaftlichen Problemen interessiert ist: an der Verbindung von Kultur und Ideologie etwa, an der Codierung von Subjekten, an Praktiken der Repräsentation.

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Damit bietet der Band sowohl eine leicht nachvollziehbare Einführung in die semiotischen Konzepte der Cultural Studies, als auch einen umfassenden literaturwissenschaftlichen Grundkurs. Zwar ist dabei so manche notwendige Komplexitätsreduktion in Kauf zu nehmen, aber dies dürfte eine grundsätzliche Schwäche – oder auch Stärke – von grundlagenorientierten Überblicksdarstellungen sein, die ja von ihrem Zielpublikum verstanden (und genutzt) sein wollen.

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Cultural Studies als Sprachspiel

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Was den Band über die Konzeption eines ›teaching books‹ hinaus interessant macht, ist Barkers Ansatz, die Cultural Studies als ›Sprachspiel‹ zu verstehen und so der schwierigen Frage nachzugehen, was die Cultural Studies von anderen Formen der Kulturstudien unterscheidet – läßt sich diese Differenz doch nur schwer mit dem Verweis auf abgegrenzte Forschungsobjekte oder auf spezifische methodische Zugänge bestimmen. Zugleich eröffnet ein solcher Ansatz die Möglichkeit, die unterschiedlichen nationalen und wissenschaftspolitischen Bedingungen für die diskursive Formation der Cultural Studies genauer zu analysieren. Denn was zu (be-)schreiben noch aussteht, sind die jeweiligen konstitutiven Regeln für den Ein- oder Ausschluß in den theoretischen Pool und in die Epistemologie der Cultural Studies – also gleichsam eine Geschichte der Cultural Politics of Cultural Studies.

[22] 

Dies kann sicher nicht die Aufgabe eines Einführungsbandes sein. Immerhin aber lenkt Barkers Buch den Blick darauf, daß Cultural Studies nicht automatisch dort betrieben werden, wo man sich die Erforschung von Kultur zur Aufgabe gemacht hat. Die Hauptdifferenz zwischen Cultural Studies und einem »study of culture« innerhalb einzelner Fächer besteht demnach in dem Cluster an Schlüsselkonzepten, Ideen und Anliegen (S. 5–6), das den Zugriff auf die Gegenstände jeweils anders reguliert als etwa die Soziologie, Anthropologie, Ethnologie oder die Literaturwissenschaft.

[23] 

Beispielsweise treffen sich Soziologie und Cultural Studies in ihrem Interesse an gesellschaftlichen Strukturen und Praktiken, an Ideologie und den ökonomischen Bedingungen kultureller Bedeutungsproduktion. Wie die Soziologie greifen auch die Cultural Studies hierfür auf Marxismus und Strukturalismus als analytische Instrumentarien zurück. Wenn jedoch der Cultural Materialism die Relevanz ökonomischer Aspekte für die Produktion kultureller Bedeutungen untersucht, so entfalten die Cultural Studies – über den Marxismus hinausweisend – auch jene Dynamiken der Zugehörigkeit zu Klasse, Geschlecht, Ethnizität, Nation und Alter, die nicht in den ökonomischen Bedingungen oder in einander aufgehen (S. 8–9). Statt auf metonymische Verschiebungen einer sozialen Formation in die nächste richtet sich der Blick so auf die Differenzen solcher Formationen und auf die Reibungen zwischen ihnen.

[24] 

Mit dem Strukturalismus hingegen teilen die Cultural Studies zwar die Überzeugung, daß Kultur wie eine Sprache funktioniert, verwerfen jedoch in ihrer kulturalistischen Ausrichtung dessen ahistorische und anti-intentionale Implikationen. Demgegenüber betonen die Cultural Studies vielmehr die aktive, kreative menschliche Fähigkeit, bedeutungsstiftende Praktiken über gelebte Erfahrung zu konstituieren (S. 15–18).

[25] 

Somit bedienen sich die Cultural Studies einerseits aus dem bereits erprobten methodischen und theoretischen Inventar unterschiedlicher Richtungen der Kulturforschung. Andererseits wird dieses für die Epistemologie der Cultural Studies stets revidiert und rekombiniert. Dies erfolgt aufgrund eines Sprachspiels, zu dem u.a. die Betonung von Differenz vs. Reduktionismus gehört, von Positionalität vs. Universalismus, von »agency« vs. strukturellem Determinismus, von »signifying practices« vs. Essentialismus. Motor dieses Sprachspiels ist die Analyse des Zusammenhangs von Macht und Wissen in der Produktion kultureller Praktiken und Bedeutungen, während das Ziel in der Revision dieser Produktion – quasi in der Re-Produktion – besteht.

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Theory and Praxis
– auch für deutsche Kulturwissenschaft(en)?

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Indem die Cultural Studies sich als dynamische intellektuelle Praxis verstehen und gegenüber disziplinärer Verortung oder interdisziplinärem Austausch stets das Moment des ›Undisziplinierten‹ ihrer heterogenen Diskurse betonen, zeigt sich die feste Relation zwischen dem Sprachspiel der Cultural Studies und einem Wissenschaftsverständnis, das sich von dem der hiesigen Forschung signifikant unterscheidet. Daher stellt sich die Frage, inwiefern die Cultural Studies, ihre Epistemologie und Schlüsselkonzepte, überhaupt auf eine deutsche kulturwissenschaftliche Praxis übertragbar sind – und welchen Nutzen der vorgestellte Einführungsband in diesem Kontext haben kann.

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Die diskursiven Regeln der deutschen Kulturwissenschaft(en) werden durch spezifische Wissenschaftstraditionen seit dem 19. Jahrhundert sowie durch eine aktuelle Wissenschaftspolitik und -strategie bestimmt. Dazu gehört bereits die semantische Unterscheidung des Begriffs ›Kulturwissenschaft‹ nach Plural- und Singulargebrauch, der sowohl ein je eigenes Verständnis vom wissenschaftssystematischen Stellenwert der Kulturwissenschaft(en) ausdrückt als auch ein jeweils unterschiedliches Kulturkonzept in sich begreift.

[29] 

So dient der Singularbegriff erstens dazu, ein eigenständiges Fach zu benennen, das nicht selten als »Königsweg« für den wachsenden Arbeitsmarkt-»Bedarf an Generalisten mit ausgeprägten Analyse- und Kommunikationsfähigkeiten« 4 verstanden wird. Zweitens wird damit eine Meta- oder Großwissenschaft beschrieben, 5 die alle anderen Disziplinen zu absorbieren droht und zugleich eine eigenständige Disziplin herausbildet – ganz im Sinne des Konzeptes einer (Germanischen) Philologie als allgemeiner Kulturwissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert Hermann Paul in Anlehnung an August Boeckh entwickelt hat. 6 Drittens aber sind die ›Kulturwissenschaften‹ im Plural zum Alternativbegriff für die Geisteswissenschaften avanciert, der das »Ensemble der Fächer der Philosophischen Fakultät« 7 umfaßt und die geistphilosophische Fundierung – wie um 1900, so auch heute – ablösen soll. In diesem Sinn versteht sich – viertens – auch die Literaturwissenschaft zunehmend als eine Kulturwissenschaft.

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Weder die disziplinäre Fixierung noch die wissenschaftssystematische Verortung aber dürfte mit dem Sprachspiel der Cultural Studies vereinbar sein, die sich, folgt man Stuart Hall und damit einem ihrer bekanntesten Vertreter, als transdisziplinäre und transsystemische »diskursive Formation im Foucaultschen Sinne« begreifen. 8 Während die Offenheit der Cultural Studies in diesem Verständnis als Bedingung eines demokratischen, dezentralisierten und polyperspektiven Austauschprozesses über die vielfältigen kulturellen und interkulturellen Phänomene und Probleme gesetzt wird, dient die begriffliche Unschärfe der deutschen Kulturwissenschaft(en) offenbar weniger einer epistemologischen Grenzüberschreitung als einer wissenschaftsstrategischen Bedürfnissynthese.

[31] 

Darüber hinaus unterscheidet sich auch das Kulturkonzept, das dem jeweiligen Sprachspiel zugrunde gelegt wird. So fassen die Cultural Studies ›Kultur‹ einerseits als »Kontrolltechnologie« 9 auf, die das Sozialverhalten der einzelnen ausrichtet, andererseits aber als gigantischen Bedeutungsgenerator, den jedes Individuum zu modifizieren vermag. 10 Das Interesse der Cultural Studies richtet sich dabei jeweils darauf, wie Kultur, Gesellschaft und Individuum interagieren und wie dabei – zwischen Restriktion und Entropie – neue kulturelle Werte und Praktiken ausgehandelt werden können.

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Mit dem ›cultural turn‹ ließe sich demnach scheinbar nahtlos fortsetzen, was in Deutschland einst die Sozialgeschichte betrieben hat: die Analyse »des Verhältnisses von (Gesellschafts-)Struktur und symbolischem Handeln«. 11 Das Verständnis von ›Kultur‹ scheint unter dieser Prämisse in der kulturwissenschaftlichen Forschung entweder analog zur historischen Anthropologie und Kulturgeschichte oder aber nach systemtheoretischen Modellen formuliert werden zu können. Beide Kulturkonzepte lassen sich jedoch methodisch offenbar nicht miteinander vereinen: So befassen sich die

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• Kulturwissenschaften (Plural) ihrem Selbstverständnis nach »mit Kultur als dem Inbegriff aller menschlichen Arbeit und Lebensformen, einschließlich naturwissenschaftlicher Entwicklungen«, 12

[34] 

während die

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• Kulturwissenschaft (Singular) ›Kultur‹ als »Verfahren (zweiter Ordnung)« begreift, »durch das die kulturellen Praktiken erster Ordnung beobachtet [...] werden – und die Theoretiker sich selbst reflektieren«. 13

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Indem die Kulturwissenschaften ›Kultur‹ also als Gegenstandsbereich verstehen, der sich über menschliche Artefakte, Mentefakte und soziale Praktiken konstituiert, konzipieren sie sich weniger als Cultural Studies denn als »studies of culture«. Die so definierten Kulturwissenschaften werden damit zu einer Art Beobachter außerhalb der Kultur. Was dabei fehlt, ist eine zusätzliche Reflexion über die Bedingungen jenes Sprachspiels, das ›Kultur‹ zum wissenschaftlichen Objekt macht und damit jeweils bestimmte Erkenntnisinteressen, Methoden und Theoriemodelle stützt. Durch eine analytische Integration dieser Bedingungen ließen sich möglicherweise auch die Dynamiken nationaler Schwerpunktbildungen der Kulturforschung besser erkunden.

[37] 

Dagegen versteht der Singularbegriff der oben beschriebenen Kulturwissenschaft ›Kultur‹ als selbstreflexiven Beobachtungsmodus, dem auch das Fach unterworfen ist. ›Kultur‹ beschreibt in dieser Perspektive eine epistemologische Fundierung, das hermeneutische Verfahren und die methodische Perspektive der Kulturwissenschaft. Umgekehrt aber setzt die Kulturwissenschaft mit ihren theoretischen Vorannahmen erst jenen Objektbereich ›Kultur‹, den sie dann untersucht. Diese Form des selbstreflexiven Denkens entspricht durchaus dem der Cultural Studies, allerdings droht bei dem systemtheoretisch geprägten Sprachspiel die Gefahr, daß Verantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit des einzelnen allzu leicht hinter fortlaufenden Rekursionsschleifen zu verschwinden drohen.

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Um einem möglichen Objektivismus oder Determinismus vorzubeugen, haben die Cultural Studies die subjektive ›situated knowledge‹ als Bedingung jeglicher Beobachtung gesetzt. Im Gegensatz zur Auffassung von ›Kultur‹ als einem gigantischen gesellschaftlichen Steuerprogramm, 14 erkunden die Cultural Studies die unterschiedlichen Positionen des Einzelnen darin sowie die damit verbundenen Voraussetzungen für eine aktive Lektüre und Umschrift sozialer Symbolsysteme – sozusagen die hermeneutischen Zugangsoptionen zum ›Kulturtext‹. 15 Eine semiotische oder poetische Analyse der ›Kultur‹, wie sie meist die kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaften leisten, betreibt daher noch keine Cultural Studies. Vielmehr müßte an die cultural policy der sozialen Zirkulation von Zeichen 16 wohl die Frage nach den historischen Imaginationen, 17 dem (textuellen) Begehren, 18 den Machtverhältnissen und den cultural politics der Texte, aber auch ihrer jeweiligen Lektoren angeschlossen werden: Wer darf was wann wie warum lesen, deuten und festschreiben?

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Die kurze (und gewiß: grobe) Skizze mag bewußt gemacht haben, wie sich die diskursive Formation der Kulturforschung je nach Kulturkonzept und Wissenschaftstradition, nach disziplinärer Verortung und wissenschaftspolitischer Intention wandelt. Obwohl die Cultural Studies auch der derzeitigen kulturalistische Wende in Deutschland – insbesondere innerhalb der Literaturwissenschaften – wesentliche Impulse gegeben haben, kann deren produktive Adaption kaum in einem bloßen Theorie-Import liegen – auch weil dieser ohne epistemologische Rückbindung Gefahr läuft, weniger spezifischen kulturhermeneutischen Fragestellungen als einem wissenschaftsstrategischen Diskursdesign dienen zu müssen.

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Fazit

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Insofern ein Überblick über den Theorienpool der Cultural Studies zunächst einmal erarbeitet und vermittelt werden muß, bevor er – im Wortsinn – kritisiert und mit dem eigenen wissenschaftlichen Bedarf abgeglichen werden kann, legt Barkers ›teaching book‹ eine solide Basis. Zwar bietet die paradigmatische Ausrichtung des Bandes am ›linguistic turn‹ durchaus Anlaß zu Monita, doch liegt gerade darin für angehende (kulturwissenschaftliche) Literaturwissenschaftler(innen) auch die Orientierungsleistung dieses Einführungsbandes.

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Darüber hinaus aber könnte die konzeptionsleitende Idee des vorgestellten Bandes, Cultural Studies als Sprachspiel zu verstehen, durchaus als Anregung und Möglichkeit genutzt werden, weiterführende Reflexionen auf die diskursiven Bedingungen hiesiger kulturwissenschaftlicher Konzepte in Gang zu setzen.


Dr. Britta Herrmann
Universität Bayreuth
Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät (GW I)
Universitätsstr. 30
DE - 95440 Bayreuth

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Ins Netz gestellt am 01.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Manfred Engel. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Britta Herrmann: Handlicher Werkzeugkasten: Cultural Studies für Einsteiger. (Rezension über: Chris Barker: Cultural Studies. Theory and Practice. With a Foreword by Paul Willis. London / Thousand Oaks / New Dehli: Sage Publications Ltd. 2000.)
In: IASLonline [01.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=928>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Genannt seien hier nur Lawrence Großberg / Cary Nelson / Paula Treichler (Hg.): Cultural Studies. London, New York 1992; Jessica Munns / Gita Rajan (Hg.): A Cultural Studies Reader. History, Theory, Practice. London 1995; John Storey (Hg.): What is Cultural Studies? A Reader. London, New York 1996, sowie für den deutschsprachigen Bereich: Christina Lutter / Markus Reisenleitner: Cultural Studies. Eine Einführung. Wien 1998; Roger Bromley / Udo Göttlich / Carsten Winter (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999; Jan Engelmann (Hg): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader. Frankfurt / M., New York 1999; Udo Göttlich / Lothar Mikos / Rainer Winter (Hg.): Die Werkzeugkiste der Cultural Studies. Bielefeld 2001; Andreas Hepp / Carsten Winter (Hg): Die Cultural Studies Kontroverse. Lüneburg 2003. Vgl. die Sammelrezensionen von Petra Kuhnau: Der Kelch und die Schlage oder: Wie die Kulturwissenschaft ihr Gift hergibt http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/kuhnau.html und Eike Wenzel: Wohnzimmer-Kriege. Cultural-Studies, Anti-Methode, Mode und Kanon http://www.iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/wenzel.htm    zurück
Stuart Hall: Cultural Studies – Ein politisches Theorieprojekt. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Nora Räthzel. Hamburg 2000, S. 25–38, hier
S. 32.   zurück
Ien Ang / Jon Stratton: On the Impossibility of a Global Cultural Studies. ›British‹ Cultural Studies in an International Frame. In: Kuan-Hsing Chen / David Morley (Hg.): Stuart Hall. Critical Dialogues. London 1996, S. 361–391; Graeme Turner: It Works for Me. British Cultural Studies, Australian Cultural Studies, Australian Film. In: Großberg / Nelson / Treichler (Anm. 1), S. 640–650.   zurück
Jutta Greis: »Universitas semper reformanda – der Königsweg der Kulturwissenschaft«. In: Carsten Winter (Hg.): Studieren für morgen II: Kulturwissenschaft. Perspektiven, Erfahrungen, Beobachtungen. Bonn 1996,
S. 31–38, hier S. 33.   zurück
Jörg Schönert: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft – Medienkulturwissenschaft. Probleme der Wissenschaftsentwicklung. In: Renate Glaser / Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996, S. 192–208, hier S. 203; Werner Faulstich: Kulturwissenschaft als Metawissenschaft. Zur Pragmatik einer neuen Disziplin. In: Thomas Düllo u.a. (Hg.): Kursbuch Kulturwissenschaft. Münster 2000, S. 133–40, hier S. 133; Manfred Engel: Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 1 (2001),
S. 8–36.    zurück
Hermann Paul (Hg.): Grundriss der germanischen Philologie [1891]. Straßburg 2., verb. und vermehrte Aufl. 1901.   zurück
Hartmut Böhme: Kulturwissenschaft. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin, New York 2000, S. 356–359, hier S. 356.   zurück
St. Hall (Anm. 2), S. 26.   zurück
Stephen Greenblatt: Kultur. In: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt / M. 1995, S. 48–59, hier
S. 49.   zurück
10 
Anthony P. Cohen: Culture As Identity. An Anthropologist's View. In: New Literary History 24 (1993), S. 195–209, hier S. 196.   zurück
11 
Martin Huber / Gerhard Lauer: Neue Sozialgeschichte? Poetik, Kultur und Gesellschaft – zum Forschungsprogramm der Literaturwissenschaft. In: Dies. (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 1–11, hier S. 7.   zurück
12 
Wolfgang Frühwald u.a. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Frankfurt / M. 1991, S. 10.   zurück
13 
H. Böhme (Anm. 7): S. 356.    zurück
14 
Siegfried J. Schmidt: Kultur und die große Fiktionsmaschine Gesellschaft. In: Th. Düllo (Anm. 5), S. 101–110.    zurück
15 
Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt / M. 1996.    zurück
16 
Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Frankfurt / M. 1993.    zurück
17 
Hayden White: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Stuttgart 1986; Stephen Bann: Clio in Part. An Antiquarianism and the Historical Fragment. In: Ders. (Hg.): The Inventions of History. Essays on the Representation of the Past. Manchester 1990, S. 100–121.    zurück
18 
Vgl. hierzu auch Hans-Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie.
Frankfurt / M. 2003.   zurück