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Thomas Manns Goethe-Demontage im Lichtschein einer editorischen Meisterleistung

  • Werner Frizen (Hg.): Lotte in Weimar. Text und Kommentar in einer Kassette. (Große kommentierte Ausgabe der Werke Thomas Manns 9.1 u. 9.2) Frankfurt/M.: S. Fischer 2003. 1404 S. Leinen. EUR (D) 78,00.
    ISBN: 978-3-10-048336-2.
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Nach langer Druck(fehler)geschichte:
eine Neuausgabe nach der Handschrift

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Als lustspielhaftes Gegenstück zur Tragödie des Tod in Venedig, als »Goethe-Götterspiel« 1 und damit als Parodie der eigenen Goethe-Faszination ist Thomas Manns Roman Lotte in Weimar von ihm selbst gern charakterisiert und von der Forschung inzwischen vielfältig interpretiert worden.

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Umso schlimmer, dass bereits der aus Vorabdrucken (hauptsächlich in der von Thomas Mann herausgegebenen Exilzeitschrift Maß und Wert) und fehlerhaften Kopien des Typoskripts kompilierte Erstdruck mit all seinen Fehlern in die Stockholmer Ausgabe übernommen und damit zur Grundlage der Forschung wurde. Wenn an der Dringlichkeit der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe der Werke Thomas Manns (GKFA) noch irgend ein Zweifel bestünde, die Edition und Kommentierung dieses Romans als Bände 9.1 und 9.2 der neuen Edition könnte sie ausräumen. Die Darstellung der Druckgeschichte des zwischen die Joseph-Romane geschobenen und ursprünglich als Novelle geplanten Werkes ist freilich nicht das einzige Fundstück, auf das man in Werner Frizens akribisch-materialreichem Kommentar zur Neuausgabe stößt; er umfasst 948 Druckseiten gegenüber 450 Seiten des Textbandes, und auf keine einzige von ersteren möchte der Leser verzichten!

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Zur Druckgeschichte gehören ›Merkwürdigkeiten‹ aller Art, z.B. dass der Autor unter drohender Kriegsgefahr auf dem Wege zum Stockholmer PEN-Kongress Korrektur lesen musste; dass infolge des Kriegsausbruchs und der turbulenten Rückreise in die USA die letzten Kapitel des Manuskripts von Thomas Mann überhaupt nicht mehr gegengelesen, sondern der (offenbar mangelnden) Sorgfalt des Büros von Bermann-Fischer übergeben werden mussten. 2 Weltpolitik und ungebrochener Geschäftssinn des Verlags bestimmten so die Druck(fehler)geschichte. Zu Weihnachten 1939, nur einen Monat nachdem Thomas Mann das Manuskript abgeschlossen hatte, konnte der Roman erscheinen. Freilich in einer Form, die den Herausgeber zu Recht kommentieren lässt: »Die Korruptelen des Erstdrucks reichen manches Mal bis an die Grenzen der Unverständlichkeit und des blanken Unsinns.« 3

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Schon das erste Druckfehlerverzeichnis aus dem Jahre 1940 kann darüber belehren. Die von Textverstümmelung über Missverständnisse bis zum »baren Nonsens« 4 reichenden Fehler der Erstausgabe haben den Herausgeber daher zu der einzig richtigen, wenngleich editionsphilologisch aufwendigsten Entscheidung veranlasst: nämlich die Neuausgabe nach der Handschrift vorzunehmen. Das nun hat dazu geführt, dass mit dem Textband von Lotte in Weimar als Band 9.1 der GKFA nach über 60 Jahren der Roman in einer Form erscheint, »die nicht ihre historisch-faktische, durch ihre Wirkung beglaubigte ist«. 5 Dem Leser, dem die Fülle der Druckfehler aus der Stockholmer Ausgabe nicht vor Augen steht und der die ebenso spannende wie komplexe Entstehungs- und Druckgeschichte des Romans nicht kennt, wird dies nicht viel sagen. Ein Beispiel freilich für die nicht nur philologische Plausibilität der Entscheidung, nach der Handschrift zu drucken, verdient besonders hervorgehoben zu werden. Es betrifft eine Passage aus der berühmten monologischen Selbstreflexion, die Thomas Mann seinem Goethe im 7. Kapitel in den Mund legt und in der Goethe über sein Verhältnis zu den Deutschen räsoniert. Sätze über die Deutschen, die »sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben« 6 , sind – wie der Herausgeber materialreich belegt – wiewohl in entstellter Form prominent zitiert worden; u.a. vom britischen Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, der sie zudem für echte Goethe-Wort hielt. 7 Es kostete Thomas Mann einige Mühe, die »Lawine der Falschzitate und Berichtigungen« 8 zu bewältigen, die gerade dieser Abschnitt des 7. Kapitels ausgelöst hatte. Dabei ist gerade dieses Kapitel und sind die Passagen über Goethe, die Deutschen und den deutschen Nationalcharakter ein Musterbeispiel für »Thomas Manns Goethe-Mimikry, die demonstrativ die Fiktion durchbricht« 9 . Thomas Manns Sicht auf den deutschen Nationalcharakter, auf seine eigene Stellung zu den Deutschen und sein Verhältnis zur deutschen Kultur (»Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bin es« 10 ) wird mit der Autorität Goethes versehen, historisiert, aktualisiert und parodiert. Sowohl in den Interview-Äußerungen aus Anlass seiner vierten Amerika-Reise im Februar 1938 als auch in den Tagebuchblättern aus dem gleichen Jahr findet sich die gern missverstandene Formulierung »wo ich bin, ist Deutschland« 11 , die der Roman zum Goethe-Zitat stilisiert.

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Ähnliches nun geschieht mit der berühmten Formulierung aus Thomas Manns Brief an den Dekan der Bonner Philosophischen Fakultät aus Anlass der Aberkennung der Ehrendoktorwürde. Bekanntlich hat Thomas Mann im Briefwechsel mit Bonn betont, er fühle sich eher zum ›Repräsentanten‹ als zum ›Märtyrer‹ geboren. Aus Goethes Munde liest sich das in Lotte in Weimar so:

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Ich habe mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zu Grunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir. Gebärdet euch, wie ihr wollt, das Meine abzuwehren, – ich stehe doch für euch. Das aber ists, daß ich zum Repräsentanten geboren und garnicht zum Märtyrer; für die Versöhnung weit eher als für die Tragödie. 12
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Mit Recht nennt der Herausgeber diese Passage einen Höhepunkt der Thomas Mannschen Goethe-Imitation. Tatsächlich aber war dieses Selbstzitat aus dem Briefwechsel mit Bonn noch in keiner Ausgabe von Lotte in Weimar zu lesen. Ein Zeilensprung bei der ursprünglichen Übertragung der Handschrift mag die Ursache gewesen sein, der freilich erst bemerkt werden konnte, weil Werner Frizen die Handschrift zur Grundlage der Neuausgabe gemacht hat. Bescheiden enthüllt der Stellenkommentar, was keinem nicht fachwissenschaftlichen und nur wenigen professionellen Lesern des Thomas Mannschen Goethe-Romans bekannt gewesen sein dürfte.

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Dies ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Editionsphilologie und Deutungsgeschichte eng beieinander liegen und ihre sorgfältige Rekonstruktion ein ebenso großes Lesevergnügen zu vermitteln vermag wie die Lektüre des Romans selbst.

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Der Kommentar: eine Entdeckungsreise.
Der Text: eine Parodie auf den Goethe-Kult

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Dies belegt schon die dem umfangreichen Stellenkommentar 13 vorausgehende Darstellung der Entstehungsgeschichte, 14 der Text- und Quellenlage 15 sowie schließlich der Rezeptionsgeschichte des Romans zwischen 1939 und 1955. 16 Sorgfältig und umfassend dokumentiert der Herausgeber Materialien und Quellen: die von Thomas Mann teils kräftig ausgeschriebenen, teils kaum kaschiert in den Roman montierten Werke der Goethe-Philologie / Biographie werden anschaulich und systematisch referiert (darunter vor allem Aaron Theilhaber, Bielschowsky u.v.a). 17 Drei wahrlich kuriose Dokumente aus der Wirkungsgeschichte des Romans findet der Leser daran anschließend: Emil Ludwigs Pamphlet Tommy in Weimar (1939), die erwähnten angeblichen Goethe-Zitate, die vom britischen Chefankläger in Nürnberg verwendet wurden, 18 sowie den Versuch einer Dramatisierung des Romans durch Hans Feist unter dem Titel Lottens Wiederkehr. 19

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Mit all diesen Dokumenten, vor allem aber durch die souveräne Form ihrer die Thomas Mannsche Idiomatik z. T. gleichsam beiläufig imitierenden Präsentation wird der Kommentarband zu einer weit über das Philologisch-Instruktive hinausgehenden wissenschaftlichen Entdeckungsreise. Das Studium der 175-seitigen Einführung und die nach Neigung und Notwendigkeit gewiss je unterschiedlich intensive Nutzung des Stellenkommentars erspart die Lektüre der auch für Lotte in Weimar inzwischen umfangreichen und nicht durchweg inspirierenden Forschung.

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Die durch den Entstehungskontext, vor allem aber durch die erste Phase der Rezeptionsgeschichte bestimmte Deutungstradition sieht in Thomas Manns Goethe-Roman entweder einen Beweis für die »Tragödie des Meistertums« 20 oder ein singuläres Zeugnis literarischer Goethe-Verehrung und damit des Fortbestehens einer deutschen Kulturnation in finsteren Zeiten. Für erstere liefern die Selbstaussagen Thomas Manns seit der frühen Idee, ›Goethen‹ Fleisch werden zu lassen, 21 zahlreiche Belege, wobei die intendierte parodistische Doppelgesichtigkeit des Goethe-Bildes mit Beginn der eigentlichen Schreibarbeit, also seit November 1936, immer deutlicher wird. Für die zweite Deutungstradition, die mit den ersten Rezensionen und wissenschaftlichen Besprechungen einsetzt, firmiert Stefan Zweig als Stichwortgeber. Mit seinem enthusiastischen Lob, das Lotte in Weimar als Thomas Manns bestes und »deutscheste[s] Buch« 22 bezeichnet, eröffnete er eine Lesart, die blind blieb gegenüber dem, was Werner Frizen zu recht die »Aufsässigkeiten des Romans« 23 nennt: sein »Schmuggelgepäck«, in dem »Konterbande ganz anderer Art versteckt waren«. 24

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Die »Hochwertsemantik«, die mit dem Lob des Romans den »Mythos der deutschen Kulturtradition« bekräftigt sieht, 25 zeigt sich völlig immun gegenüber dem »Gattungszwitter«, dem »Bildungsroman im paradoxen Sinne« 26 , dem raffinierten Wechselspiel von Goethe-Kult und Goethe-Spott, das den Roman charakterisiert.

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Nicht zuletzt durch das schon mit dem bestimmten Artikel in der Überschrift als singulär markierte »Siebente Kapitel«, wie viel mehr erst noch durch seinen Inhalt, der das Mysterium Goethe in banale Körperlichkeit überführt, erscheint der Goethe des Romans als pathologische Kreatur. In einer der wichtigsten Quellen Thomas Manns, in Aaron Theilhabers 1929 erschienener Studie Goethe. Sexus und Eros, war der Olympier aus Weimar so gezeichnet worden. Der ›Götterliebling‹ Goethe, den Thomas Mann in seinen Essays, aber auch schon in der frühen Erzählung Schwere Stunde zum Antipoden Schillers gemacht hatte – im Roman wird er gründlich demontiert: in seinen eitlen Schwächen, selbstverliebten Sentenzen und weisheitssüchtigen Verlautbarungen erscheint er aber zugleich als Objekt einer kollektiven, nationalen Heroisierungs- und Bewunderungsbereitschaft.

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Im Zusammenspiel der sechs ersten Romankapitel, die aus divergenten Perspektiven (Riemer, Adele, August) den Auftritt des Helden immer erneut retardierend vorbereiten, und jenem monologischen »Gemurmel« 27 , durch das er sich dem Leser in seiner ans Lächerliche grenzenden Größe schließlich selbst präsentiert, demaskiert Thomas Mann eben nicht nur den Abgott des Weimarer Musenhofs, sondern die phantasmatische, zwischen Eifersucht und Unterwerfung, Liebe und Hass changierende Verehrungsbereitschaft in seinem Umfeld. Damit aber ist der Roman ebenso sehr Parodie auf den Goethe-Kult des 19. Jahrhunderts wie eine entschiedene literarische Widerrede gegen die »Gleichschaltung Goethes« 28 im Dritten Reich.

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Ein Roman des Exils:
die raffinierte Demontage deutscher Kulturtradition

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Man kann dem Herausgeber nur zustimmen, wenn er immer wieder in Einleitung und Stellenkommentar sichtbar macht, in welch hohem Maße Lotte in Weimar »ganz und gar ein Werk des Exils« 29 ist. Dies bezieht sich nicht nur auf die tatsächliche Entstehungszeit, das heißt auf den Umstand, dass die Arbeit am Joseph für diesen Roman volle drei Jahre unterbrochen werden musste; es bezieht sich auch nicht nur auf die Korrespondenzen und Spiegelungen, die zwischen dem Goethe-Roman und z.B. dem Essay Bruder Hitler (1938) bestehen, den der Herausgeber treffend den »satirischen Zwilling des Romans« 30 nennt. Tatsächlich sind der Goethe-Roman und der Essay über den ›Bruder‹ und ›Gegenkünstler‹ Hitler brisante Karikaturen auf das »deutsche Phantasma vom schöpferischen Individuum« 31 . Bezeichnend ist schließlich, dass die zur veritablen Schaffenskrise führende Ausarbeitung des siebten Kapitels und seine schließliche Fertigstellung in Amerika erfolgt; »die erste erzählerische Leistung Thomas Manns in der neuen Welt« 32 ist mithin eine raffinierte Demontage des Repräsentanten der deutschen Kulturtradition schlechthin. »Es fällt schwer, darin keine Symbolik zu sehen« 33 , konstatiert der Herausgeber überzeugend.

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Noch in den Details des Stellenkommentars, vor allem aber in den Einleitungen, die dem Stellenkommentar zu den einzelnen Kapiteln vorausgehen, zeigt sich diese Edition nicht lediglich auf der Höhe der Deutungsgeschichte, sie schreibt eine eigene, souverän argumentierende, die zugleich stets orientiert bleibt am zeit- und werkgeschichtlich Besonderen dieses Textes. Die notorische Goethe-Verehrung Thomas Manns, mit den immer wieder zitierten Selbstaussagen vom ›mythischen In-Spuren-Gehen‹ und der ›unio-mystica‹ seiner Goethe-Liebe in nicht wenigen Forschungsarbeiten apologetisch fortgeschrieben, wird durch diese Edition, vor allem durch seinen klugen Kommentar, als literarische Strategie und ästhetisches Artefakt dechiffriert. Denn tatsächlich ist der Goethe dieses Romans aus »Lesefrüchten collagiert und – so ›ungenial‹, wie nur irgend denkbar – aus Zitaten komponiert […]. Goethe tritt nicht als er selbst auf, sondern als ein Produkt seiner eigenen Wirkungsgeschichte«. 34

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Eben durch diese hochartifizielle Komposition entzieht Thomas Mann seinen Goethe der nationalsozialistischen Vereinahmung ebenso wie einer naiven, exiltypischen Verehrungsbereitschaft. Dass man Goethe nicht den »dumpfen Mythopoeten des Dritten Reiches« 35 überlassen dürfe, dass es um ein ausgefeiltes Spiel zwischen Mythologie und Psychologie gehen müsse, wenn man in der Moderne den »Mythos traktieren« 36 wolle, war für Thomas Mann eine ausgemachte Sache. Bis in welche kompositorischen Feinheiten und historisierenden Analogien hinein Thomas Mann freilich in seinem Goethe-Roman den »Zitatismus« 37 getrieben hat, das dokumentiert und dechiffriert diese editorische Meisterleistung auf faszinierende Weise.

 
 

Anmerkungen

Kommentarband, S. 20.   zurück
Ebd., S. 50.   zurück
Ebd., S. 51.   zurück
Ebd., S. 53.   zurück
Textband, S. 327, Z. 13.   zurück
Vgl. Kommentarband, S. 169–172.   zurück
Ebd., S. 611.   zurück
10 
Textband, S. 327, Z. 22 f.   zurück
11 
Kommentarband, S. 613.   zurück
12 
Textband, S. 327, Z. 20–28.   zurück
13 
Kommentarband, S. 176 ff.   zurück
14 
Ebd., S. 9 ff.   zurück
15 
Ebd., S. 48 ff. u. 69 ff.   zurück
16 
Ebd., S. 127 ff.   zurück
17 
Vgl. ebd., S. 6 ff.   zurück
18 
Vgl. ebd., S. 169 ff.   zurück
19 
Ebd., S. 172 ff.   zurück
20 
So schon Thomas Mann selbst in einem Brief aus dem Jahre 1915, zit. nach Kommentarband, S. 11, Anm. 5.   zurück
21 
Vgl. ebd., S. 11.   zurück
22 
Ebd., S. 129.   zurück
23 
Ebd., S. 137.   zurück
24 
Ebd., S. 136.   zurück
25 
Ebd., S. 137.   zurück
26 
Ebd., S. 128.   zurück
27 
Ebd., S. 484.   zurück
28 
Ebd., S. 23.   zurück
29 
Ebd., S. 20.   zurück
30 
Ebd., S. 36.   zurück
31 
32 
Ebd., S. 37.   zurück
33 
34 
Ebd., S. 693.   zurück
35 
Ebd., S. 697.   zurück
36 
37 
Ebd., S. 176.   zurück