Niels Werber

Endlich! Die Systemtheorie entdeckt
das Sexualitätssystem

Sven Lewandowskis Dissertation über Sexualität
in den Zeiten funktionaler Differenzierung




  • Sven Lewandowski: Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2004. 340 S. Kartoniert. EUR 26,80.
    ISBN: 3-89942-210-4.


[1] 

Die Sexualwissenschaften haben ungeheure Materialmengen angehäuft, müssen aber ohne eine Gesellschaftstheorie, die es soziologisch zum Sprechen bringen könnte, auskommen. Die Systemtheorie verfüge zwar über eine anspruchsvolle Theorie der Gesellschaft, habe sich aber für die Frage der Sexualität nicht interessiert. Sie markiere eine »Leerstelle« (S. 98). Die Arbeiten zum Medium der »romantischen Liebe« zeichneten sich geradezu durch eine »Ignoranz« der sexualwissenschaftlichen Forschung aus. Mit diesem Befund begründet Sven Lewandowski sein Vorhaben, das »Sexualitätssystem der modernen Gesellschaft« zu beschreiben und die klaffende Lücke zwischen Theorie und Empirie zu schließen (S. 7):

[2] 

Es sei hier gleich angemerkt, daß die Lücke vielleicht nicht ganz so groß ist, wie Lewandowski sie aussehen läßt, wenn man etwa an die anthropologisch informierte, evolutionstheoretisch angelegte Studie Geschlecht und Gesellschaft von Günter Dux denkt, 1 an die ausgesprochen »empirische« Untersuchung von Kontaktanbahnungsstrategien und anschließenden Sexpraktiken in der Epoche des safer sex von Jürgen Gerhards und Bernd Schmidt für das Bundesministerium für Gesundheit oder an den Vorschlag von Jens Loenhoff, die »Funktion des Körpers« in der Liebe stärker zu berücksichtigen und in seinen Einsatzmöglichkeiten eine »Deckungsgrundlage« für intime Kommunikation zu sehen. 2 Auch die Untersuchung vom Karl Lenz wird von Lewandowski nicht berücksichtigt, obschon er hier Bestätigung für seine Kritik an einer Soziologie finden könnte, die eine durch Liebe motivierte Ehe zum Telos einer Entwicklung intimer Beziehungen zu machen pflegt. 3

[3] 

Frauen und Männer in der Dusche.
Niklas Luhmann über
Geschlecht, Sex und Liebe

[4] 

Aber auch Luhmann, dessen Arbeit über Liebe als Passion völlig zu unrecht auf das Paradigma der »romantischen Liebe« verkürzt wird, hat ganz generell von einer »Ausdifferenzierung von sexuell basierten Intimbeziehungen unter dem Code der Liebe« gesprochen, zu dem ausdrücklich auch all jene »sprachlosen« Kommunikationen der Körper zählen, die sich »im Referenzraum der Sexualität bewegen (sic!)«. 4 Luhmann, behauptet jedoch Lewandowski, fixiere Sexualität auf »romantische Liebe«, so daß sich »zwar Liebe als Passion, Sexualität jedoch als Leerstelle« darstelle (S. 98). Diese Aussage offenbart zum einen, daß Lewandowski entweder zu wenig über Passion oder zu wenig über Romantik weiß, denn die Differenzen zwischen beiden Formen intimer Kommunikation sind epochal; 5 zum anderen steht die These einer »Fixierung« (S. 98) auf tönernen Füßen. Ich erinnere nur an Luhmanns Überlegungen zur Frage der Homosexualität amerikanischer Soldaten, die so konkret und körpernah formuliert sind, wie man es sich als Sexualwissenschaftler nur wünschen mag, der auf das »Besondere körperbasierter Kommunikationen« Wert legt (S. 163). Luhmann geht in seiner Dekonstruktion der Differenzen von Geschlecht und Neigung der Frage nach, welche Beobachter mit der »Unterscheidung Heterosexualität / Homosexualität« operieren 6 – Juristen, Politiker, Soldaten etc. –, um dann einen ungewöhnlichen Beobachter ins Spiel zu bringen, nämlich den Körper, der üblicherweise zur Umwelt sozialer Systeme gehört und von der Soziologie nicht berücksichtigt wird. 7 Er schreibt:

[5] 
Kann ein Soldat [...] wissen, wie sein Körper eine Situation beobachten würde, in der er Homosexuellen außerhalb der abgeschirmten Privatsphäre, etwa unter der Gemeinschaftsdusche, im Schlafsaal oder in zahlreichen ähnlichen Situationen, begegnet? Selbst wenn Gesellschaft und Militär Heterosexualität bevorzugen und selbst wenn ein Individuum diese Entscheidung für sich selber und seinen Körper akzeptiert: darf man sicher sein, daß der Körper immer mitspielt?
[6] 
Die Fernsehinterviews bezeugen, daß die Soldaten, diese starken und gesunden, wohlgenährten jungen Männer mit überdimensionierten Armen, Beinen und Körpern bekennen, daß sie Angst vor Homosexuellen in ihrer unmittelbaren Umgebung haben. 8
[7] 

Warum diese Angst? Luhmann behauptet, »daß die eigentliche Sorge der Soldaten die ist, daß ihr Körper als eigenständiger Beobachter reagiert und andere dies sehen könnten«. 9 In den Wellness-Bereichen der Fitneß-Studios und Hotels kann man beobachten, wie manche dem Anlaß dieser »Sorge« zu entgehen suchen, indem sie die Unterhosen selbst unter der Dusche noch anlassen. An der Ostküste der USA ist diese Bekleidung übrigens selbst in der Sauna selbstverständlich – ein Symptom der Angst vor der Homosexualität? Ein G.I. jedenfalls duscht nackt, weltweit. Was Luhmann meint, ist sehr handgreiflich und wird noch deutlicher, wenn er demgegenüber betont, daß »weibliche Soldaten sich viel weniger Sorgen über mögliche lesbische Kameradinnen machen, da ihre Körperreaktionen weniger spezifisch und leichter zu verbergen sind«. 10 Daß »Körperkommunikation wesentlich auf Sichtbarkeit angewiesen ist« und dies die »Bedingung der Anwesenheit in den Mittelpunkt rückt« (S. 159), weiß Luhmann also auch: Unter der »Gemeinschaftsdusche« der Männer kann es – bei Anwesenden – zu Beobachtungen der Körper (Genitivus subiectivus und obiectivus) kommen, deren Eindeutigkeit jede Semantik unterlaufen, weil sie nicht zu verbergen sind. Der männliche Körper, um mit Proust zu sprechen, »erweckt in uns die unmittelbare Antwort des Körpers« des anderen. 11 Frauen dagegen (können) simulieren und dissimulieren, so daß eine Intimsemantik nötig ist, die der Aufnahme sexueller Beziehungen voraus geht. 12

[8] 

Sexualität und
Gesellschaftstheorie

[9] 

Aber ignorieren wir, was Lewandowski ignoriert, um endlich dem nachzugehen, worum es ihm geht: »Ob und wie sich Sexualität im Rahmen der Neueren Systemtheorie als ein autonomes Subsystem der Gesellschaft beschreiben« lasse (S. 8), soll auf der Höhe soziologischer Abstraktion wie in der Tiefe sexologischen Wissens beantwortet werden.

[10] 

Dieser doppelte Anspruch macht die Arbeit interessant auch für jene, die an der Grundannahme, es gebe ein Sexsystem der Gesellschaft, zweifeln oder die die systemtheoretischen Prämissen der Arbeit nicht teilen wollen, denn so oder so erfährt man viel aus dem Objektfeld der Sexualwissenschaften von der Onanie und Homosexualität bis zur Pornographie und Prostitution. Vor allem in den Beobachtungen des »Körpers der Gesellschaft« (Kapitel 4) in Medizin und Mode, Sport und Pornographie gelingt es, durch gesellschaftstheoretische Fragestellungen das gute alte »empirische Material« auf interessante Art zum Sprechen zu bringen. Vor allem scheinen Körper in unterschiedlichen Kontexten die evidente (S. 176) Vorführung von Kausalität in einer Gesellschaft zu ermöglichen, die »einfache Ursache-Wirkungs-Verhältnisse« nicht mehr kennt (S. 188).

[11] 

Zunächst jedoch referiert Lewandowski elegant und pointiert die systemtheoretischen Prämissen seines Ansatzes und führt verständlich und umsichtig in das Grundvokabular der Systemsoziologie ein (S. 11–28). Dann stellt er kurrente Ansätze mit gesellschaftstheoretischen Ambitionen vor, die für die Frage der Sexualität relevant sind: von Anthony Giddens und Zygmunt Baumann bis zu Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt. Diese als »nicht-systemtheoretisch« apostrophierten Ansätze werden nach allen Regeln der Kunst vorgeführt; am Lustigsten ist hier die Kritik an Giddens, der sich »unter Sex nur harmonischen ›Blümchensex‹ vorstellen kann« (S. 40). In seinen Ausführungen zu Sigusch, der ja die Szene der Sexologen publizistisch lange Zeit beherrscht hat, zeigt Lewandowski, daß dieser Luhmanns Ansatz vollkommen mißverstanden hat (S. 72 f.) und daß sein altlinkes Primat der Ökonomie zu folgenschweren Fehleinschätzungen in der Erklärung des sexuellen Wandels führt (S. 73).

[12] 

Lewandowski diskutiert natürlich auch die mittlerweile zahlreichen systemtheoretischen Vorschläge zu Liebe und Intimität. Auch hier halte ich mit der Ausnahme des allzu knappen Luhmann-Kapitels das Referat für gelungen und die Kritik für überzeugend. Lewandowski kann insbesondere zeigen, daß Sexualität und exklusive Intimität völlig grundlos und ohne Bezug zur Empirie der Sexualwissenschaften auf die »Initiierung von Familiengründungen« (S. 104) oder auf eine im Medium der Liebe geformte exklusive Paarbeziehung festgelegt werden (S. 105). Daß Sexualität der »Reproduktion« diene, wie Gunter Runkel annimmt, hält Lewandowski mit Recht für absurd. Sexualität fange vielmehr gerade da an, »wo Reproduktion endet« (S. 119). Dies hat übrigens der leider nicht genau genug gelesene Luhmann auch so gesehen, wenn er etwa in Liebe als Passion auf die »kriterienlose Selbstreferenz« des »plaisir« verweist, auf eine Lust also, die empfunden wird und nicht mehr »aus der Welt zu schaffen« ist; 13 oder wenn Luhmann die Möglichkeit erwähnt, »Bedürfnisse« auch »asozial zu befriedigen«, also diesseits aller romantischen Liebe oder kleinfamilialer Reproduktion. 14 »Reproduktion« übrigens hält Luhmann bekanntlich explizit für eine epochenspezifische »Ideologie«. 15

[13] 

Es ist Peter Fuchs, der sich von Lewandowski daran erinnern lassen muß, daß es Sex auch außerhalb der Ehe und Intimsysteme auch jenseits heterosexueller Paarbeziehungen gibt (S. 105 f.). Rodrigo Jokisch baut das Sexualitätssystem auf der »Differenz Mann / Frau« auf. 16 Er wird zurecht darauf hingewiesen, daß er hier ganz offensichtlich einem »heterosexuellen Bias« aufsitzt und – übrigens ganz gegen die systemtheoretische Annahme einer Vollinklusionstendenz aller Funktionssysteme: »Plausibler wäre es aus Sicht des Sexualitätssystems allemal, keine Form sexueller Kommunikation zu unterbinden, sondern vielmehr alle Kommunikationsformen, die als sexuell identifiziert werden können, anzureizen« (S. 131) – Bisexualität, Homosexualität und Transsexualität ausschließt, obwohl doch jede Form sexuellen Verhaltens, selbst das sogenannte »abweichende«, ganz offensichtlich »zur Autopoiesis des Sexualitätssystem« beiträgt (S. 131).

[14] 

Daß Rodrigo Jokisch sich sexuelle Kommunikation nur als »gleichberechtigte« vorstellen kann (S. 128), mag zwar sympathisch sein, ist für Lewandowski jedoch das Ergebnis einer Verwechslung von Programm und Code (S. 129). Der Code »Lust / Unlust« ist nicht frei programmierbar, sondern wird von Jokisch normativ auf Gleichberechtigung festgelegt. Daß gerade die Unterwerfung alters egos Lust ausmachen kann, wird ausgeblendet. Nicht nur Giddens, auch manche Systemtheoretiker neigen wohl zum Blümchensex oder allenfalls zur Oswalt-Kolle-Ehe. Lewandowski dagegen macht wünschenswert deutlich, daß »Homosexualität, Heterosexualität und Bisexualität« allesamt Operationsmöglichkeiten sexueller Kommunikation darstellen, während die »Geschlechterdifferenz Mann / Frau« zur »Umwelt des Sexualitätssystems« gehört (S. 139). Das heißt:

[15] 
Weder sexuelle Orientierungen noch sexuelle Interaktion verändern das Geschlecht einer Person [...]. Mit aller Härte formuliert: Man wird nicht dadurch zum Mann, daß man sexuell mit Frauen verkehrt, und nicht dadurch zur Frau, daß man sexuell mit Männern verkehrt. Und umgekehrt verliert eine Frau nicht ihre Weiblichkeit, wenn sie sexuell mit Frauen verkehrt, ebenso wenig wie Männer ihre Männlichkeit verlieren, wenn sie sexuell mit Männern verkehren. (S. 134)
[16] 

Das ist deutlich genug und kommt ganz ohne Hinweis auf nekrophile oder zoophile Operationen aus, die ja die Akteure nicht in Tote oder Tiere verwandeln. Aufgrund der hier sehr trennscharfen Differenzierungen von Gender und Sexualität wäre sicherlich auch eine interessante kritische Perspektive auf die gender studies zu gewinnen, die ja in den performativen sexuellen Handlungen Konstruktionsweisen von Geschlecht zu sehen pflegen, also zwei »Realitätsebenen« vermischen, die Lewandowski strikt auseinanderhalten will (S. 134). Im Verlauf seiner kritischen Revue system- und nicht-systemtheoretischer Positionen bringt Lewandowski auch seinen eigenen Vorschlag in Stellung: Sexualität sei ein Funktionssystem der Gesellschaft, dessen Code die Unterscheidung von »Begehren und Befriedigung« ist (S. 141).

[17] 

Die Frage der Codierung

[18] 

Um die Bedeutung dieses Vorschlags einschätzen zu können, ist es zunächst notwendig, an die systemtheoretische Unterscheidung der Unterscheidungen von ›System / Umwelt‹ und der beiden Werte des binären Codes zu erinnern. Der Code wiederholt keineswegs die Differenz von System und Umwelt, wie oft fälschlich angenommen wird. Gelegentlich liest man, der Code der Kunst sei ›Kunst / Nicht-Kunst‹, der Code der Literatur sei ›literarisch / nicht-literarisch‹ oder der Code der Politik die Unterscheidung ›politisch / unpolitisch‹. Dies ist falsch. Nicht nur wäre der Begriff der Codierung dann ja völlig überflüssig, weil er die Differenz System / Umwelt schlicht wiederholt; vielmehr wäre ein System, das mit solch einem ›Code‹ operierte, gegen seine Umwelt vollkommen blind. Anders als bei einer fensterlosen Monade ermöglicht der Code dem System die Beobachtung beziehungsweise Konstruktion einer Umwelt, die informativ für das System werden kann. Die Politik findet daher in der Welt nicht immer nur Unpolitisches, sondern Freunde und Feinde. Die Literatur begnügt sich nicht damit, daß die Welt unliterarisch sei, sondern sucht in ihr Anlässe für interessante Werke und Formen. Die Wirtschaft stößt in ihren Beobachtungen der Realität in ihrer Umwelt nicht (nur) auf Nichtwirtschaftliches, sondern auf Haben und Nicht-Haben, auf Zahlungsfähigkeit und Nicht-Zahlungsfähigkeit, auf knappe und überzählige Güter. Und für das Sexsystem besteht die (Um-)Welt eben gerade nicht aus Nicht-Sex, sondern aus unendlichen Möglichkeiten, Begehren zu wecken und zu befriedigen.

[19] 

»Die Systemseite«, erläutert Lewandowski, »findet sich [...] nicht ausschließlich auf einer der beiden Seiten des Codes, sondern entsteht operativ immer dann, wenn auf die Differenz des Codes referiert wird« (Hervorhebung im Original, S. 202). Denn das System kann »seine eigene System / Umwelt-Differenz nur dann intern handhaben, wenn diese nicht auf seinen binären Code abbildbar, nicht mit ihm kongruent ist« (S. 203). Was weder schön noch häßlich ist, gehört zur Umwelt des Kunstsystems. Was weder Freund noch Feind ist, zur Umwelt des Politischen. Was weder wahr noch falsch ist, zur Umwelt der Wissenschaften. Umgekehrt gehört alles, was überhaupt codiert zu werden vermag, zur Kommunikation des jeweiligen Systems. Der Vorschlag, ›Sexualität / Nicht-Sexualität‹ als Code eines Sexsystems aufzufassen, wäre daher völlig sinnlos, denn er wiederholt nur die Unterscheidung von System und Umwelt (Sex und Nicht-Sex). Auch die Gender-Differenz taugt nicht als Code sexueller Kommunikation, weil diese Unterscheidung keine des Sexsystems selbst ist, sondern eine der Umwelt (S. 126), die zwar innerhalb des Sexsystems relevant werden kann, aber nicht muß – wie in anderen Systemen auch (Unterschiede in der Verrentung von Frauen und Männern, Unterschiede in der Frage des Wehrdienstes, der Einrichtung öffentlicher Toiletten, der Karrierechancen etc.).

[20] 

Die »Differenz sexuelles Begehren / Befriedigung erfüllt hingegen die [...] genannten Bedingungen« und erweist sich als informativ für die sexuelle Kommunikation (S. 204). Und genau wie Zahlungen bei alter zu erhöhter Zahlungsfähigkeit und bei ego zu verminderter Zahlungsfähigkeit führen oder im Bereich der Unterhaltung heute Interessantes morgen langweilig ist oder vice versa; wie es nur Regierungen geben kann, wenn es Opposition gibt, die aber regierungsfähig ist, zielt Begehren auf Befriedigung und führt Befriedigung zu erneutem Begehren. Umschlagpunkt dieses Codes ist unabhängig von seiner Programmierung der Orgasmus. »Wir verstehen den Orgasmus als das Differential der Unterscheidung von Begehren und Befriedigung« (S. 206). Dies scheint in der Tat in allen Formen der sexuellen Kommunikation der Fall zu sein, von der Onanie 17 bis zum Gruppensex, unabhängig davon, ob es sich bei den Akteuren um Homosexuelle, Heterosexuelle oder Bisexuelle oder Transsexuelle handelt. Seit Goethes Wahlverwandtschaften ist ohnehin bekannt, daß sich die Codewerte organisatorisch auseinanderziehen lassen: Der Befriedigung durch den einen kann das Begehren eines anderen vorausgehen.

[21] 

Ich halte die Differenz von Begehren und Befriedigung als Codierung also für einen gut durchdachten Vorschlag, möchte nun aber der grundsätzlichen Frage nachgehen, ob dies schon hinreichend ist, um von einem »Sexualitätssystem« als »Funktionssystem der modernen Gesellschaft« ausgehen zu können, was nachzuweisen Lewandowski für eine zentrale Forschungsleistung seiner Dissertation hält (S. 327).

[22] 

Inflation der Systeme,
Abwertung der Funktion

[23] 

In der Argumentation, Sexualität sei ein funktional ausdifferenziertes Sozialsystem der Moderne, 18 spielt sein Nachweis einer binären Codierung sexueller Kommunikation eine zentrale Rolle. Sie gilt als Indiz »für Funktionssystembildung« (S. 178). Mehr noch: »Binäre Codierung ermöglicht eine eindeutige Zuordnung von Kommunikationen zu einem und nur einem System« (S. 178). Um Zustimmung einzuwerben, verweist Lewandowski auf andere Systeme, wo ebenfalls der Code die These belegen muß, es handele sich um Funktionssysteme: Von einem Medizinsystem ist die Rede (S. 172 ff.) und vom System der »vestimentären Kommunikation« (S. 179 ff.), Sex und Familie (S. 105 f.) gelten genauso als funktional ausdifferenzierte Sozialsysteme wie das Sportsystem (S. 186 ff.) und das System intimer Kommunikation (S. 98 ff.). Ein Militärsystem ist in Planung. 19 Die binäre Schematisierung der Kommunikation rechtfertigt die Annahme eines Funktionssystems: Wenn Kommunikation im Hinblick auf Kleidung nach »tragbar / nicht-tragbar« selektiert oder im Hinblick auf sportliche Ereignisse nach »Sieg und Niederlage«, wenn »Begehren« von »Befriedigung« in Bezug auf sexuelle Lust oder »Wir zwei« vom »Rest der Welt« unterschieden werden (S. 180, 190, 204, 227), dann haben wir es laut Lewandowski mit Funktionssystemen zu tun.

[24] 

Erstaunlicherweise hält Lewandowski den »Bezug auf eine Funktion« bei der »Ausdifferenzierung von Funktionssystemen« für »sekundär«. Entscheidend sei die »binär codierte Operationsweise« (S. 237). Damit fällt das ausschlaggebende Kriterium Luhmanns weg (und Luhmanns zentrales Argument gegen den Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons), daß nämlich Funktionssysteme »Sonderprobleme« der Gesellschaft zugleich lösen und perpetuieren: von der Verteilung knapper Güter bis zum kollektiv bindenden Entscheiden. 20 Der Funktionsbegriff der Systemtheorie schließt nicht nur ein, daß ein Sozialsystem sich von anderen durch andere binäre Codes unterscheidet (und durch andere symbolisch generalisierte Medien wie Macht oder Geld, 21 von denen bei Lewandowski nicht die Rede ist), sondern geht zuallererst davon aus, daß die unterschiedlichen Funktionen an spezifischen Problemen der Gesellschaft kondensieren. Die »Problemorientierung« des Codes intimer Kommunikation ist ein wichtiger Aspekt in Liebe als Passion. 22 Der Problembezug von Systemen wie Recht, Politik oder Wissenschaft liegt auf der Hand, wer würde sonst gegen Mächtigere Recht bekommen, Entscheidungen anderer gegen die eigene Überzeugung akzeptieren oder kontraintuitive Sachverhalte für wahr nehmen? Funktionssysteme transformieren solche Unwahrscheinlichkeiten in Wahrscheinlichkeiten. Als »Test« dafür, ob man von einem Funktionssystem ausgehen könne oder nicht, hat Luhmann öfters vorgeschlagen zu imaginieren, was denn wohl geschähe, wenn ein Bezugsproblem nicht gelöst würde… Die moderne Gesellschaft wäre ohne Wirtschaft, Politik, Wissenschaft eine andere.

[25] 

Dies wäre aber beim »System« vestimentärer Kommunikation und selbst beim »Sportsystem« wohl nicht der Fall, es sei denn, man wollte das in die Einheitsuniform der Mao-Jacke gekleidete Rot-China aus der Weltgesellschaft ausschließen, weil dort tragbare nicht von untragbarer Kleidung unterschieden wird, oder das individuelle Training an Fitneßgeräten oder das Bergsteigen nicht zum Sport zählen, weil es dort nicht um Gewinnen oder Verlieren geht. Daß bei der Kleidung Geschmacksfragen virulent sind und beim Fußball oder im Krieg sicherlich viel von der Frage ›Sieg oder Niederlage‹ abhängt, stimmt gewiß, aber gerade weil der Code allein ganz ohne Wechselbezug von Funktion und Problem die operative Identität des Systems begründen soll, bleibt der Inklusionsbereich des Bekleidungs-, Sport- oder Militärsystems doch recht unbestimmt. Man könnte ja auch von einem Weinsystem sprechen, weil es eine gepflegte Semantik gibt, die an der Differenz von ›trinkbar / ungenießbar‹ orientiert ist. Und warum nicht ein System der Mobilität, das ›schnellere / langsamere‹ Verkehrsmittel unterscheidet? Ohne auf den Funktionsbezug zu bestehen, für den es ja auch starke evolutionstheoretische Gründe gibt, lassen sich nahezu beliebig Zwei-Seiten-Formen zu Sozialsystemen erklären.

[26] 

Eine Differenz macht
noch kein System

[27] 

Die Wichtigkeit der Unterscheidung von Begehren und Befriedigung scheint mir unumstritten, aber warum sollte daraus folgen, daß es ein Funktionssystem Sexualität gibt? 23 Auch die Differenz von gut und böse in moralischer Kommunikation ist wichtig in unzähligen Kontexten, und die Folgen (Achtungsentzug / Achtungsgewährung) können äußerst wirkungsmächtig ausfallen, ohne daß Luhmann von einem Moralsystem gesprochen hätte. Seit es Recht gibt, kann die Gesellschaft auf Moral verzichten. Daß die Semantik der Moral und ihre Programme (utilitaristisch, kommunitaristisch, altruistisch, Ehre, egoistisch…) auch in der Moderne ihren Platz haben, etwa in Organisationen, sagt noch nichts darüber, ob es sich um ein Funktionssystem handelt. Meine These ist, daß es sich bei all diesen sogenannten »Codes« um Formen themenorientierter Semantiken handelt, die in unterschiedlichen Funktionssystemen und auf unterschiedlichen Systemebenen (Interaktion, Organisation, Funktionssystem) eine Rolle spielen können. Genau wie man Lehrer, Politiker, Konkurrenten oder Schwiegermütter für böse oder Individuen halten kann, ohne daß es deshalb ein System der Moral oder der Individualität gibt, kann man Lehrer, Politiker, Konkurrenten oder Schwiegermütter sexuell begehren, ohne daß man deswegen ein Sexualitätssystem ausrufen müßte.

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Lewandowskis Studie zur Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Körpers und des Sexes unserer Gesellschaft. Seine aufschlußreichen Beobachtungen verlieren ihre Relevanz nicht, wenn man wie ich davon ausgehen möchte, daß es sich bei manchen Unterscheidungen um Zwei-Seiten-Formen einer gepflegten Semantik handelt und nicht um Codes von Funktionssystemen. Die Systemsoziologie müßte sich allerdings fragen lassen, ob es nötig ist, die moderne Gesellschaft mit immer neuen Sozialsystemen zu bereichern, deren Aufgabe es etwa sei, »Folgeprobleme durchgesetzter funktionaler Differenzierung« zu bearbeiten (S. 22, 144). Dies ist kompensatorisch gedacht und eigentlich ganz unsystemtheoretisch.


Prof. Dr. Niels Werber
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philologie. Germanistisches Institut GB4/152
Universitätsstraße 150
DE - 44780 Bochum

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Ins Netz gestellt am 10.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Niels Werber: Endlich! Die Systemtheorie entdeckt das Sexualitätssystem. Sven Lewandowskis Dissertation über Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. (Rezension über: Sven Lewandowski: Sexualität in den Zeiten funktionaler Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2004.)
In: IASLonline [10.12.2004]
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Anmerkungen

Günter Dux: Geschlecht und Gesellschaft: Warum wir lieben. Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1994.   zurück
Bernd Schmidt / Jürgen Gerhards: Intime Kommunikation. Eine empirische Studie über Wege der Annäherung und Hindernisse für »safer sex« (Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit 11) Baden-Baden: Nomos 1992; Jens Loenhoff: Kommunikation in Liebesbeziehungen – Probleme eines Forschungsgegenstandes. In: Günter Burkart / Kornelia Hahn (Hg.): Liebe am Ende des 20. Jahrhunderts (Studien zur Soziologie intimer Beziehungen 1) Opladen: Leske und Budrich 1998, S. 199–216.   zurück
Karl Lenz: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998.   zurück
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1988, S. 33.   zurück
Vgl. ebd., S. 163, und Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation. München: Fink 2003, S. 26–44.   zurück
Niklas Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung. In: Henk de Berg / Matthias Prangel (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen, Basel: Francke 1995, S. 9–35, hier S. 10.   zurück
Es sei denn, es wird über ihn (Artefakt der Kommunikation) oder mittels des Körpers kommuniziert, wie Lewandowski (S. 162, 146) zu Recht klarstellt. Lewandowski schlägt vor, den Körper als »polykontexturale Konstruktion« der Gesellschaft aufzufassen. Es »gibt« ihn also nicht einfach jenseits der Kommunikation, der Körper ist nichts Eigentliches, sondern wenn er in der Kommunikation eine Rolle spielt, dann als sinnförmiges soziales Konstrukt. Davon unterscheidet Lewandowski somatische Systeme (S. 145 ff.). Sex auf der Ebene somatischer Systeme würde wahrscheinlich über Pheromone etc. laufen und nicht über mitgeteilte Informationen.   zurück
Niklas Luhmann (Anm. 6), S. 11.   zurück
10 
ebd. S. 11 ff.   zurück
11 
Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Siebter Teil. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1984, S. 212.   zurück
12 
Niklas Luhmann: Symbiotische Mechanismen. In: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 3. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 228–244, hier S. 232, 238.   zurück
13 
Niklas Luhmann (Anm. 4), S. 110.   zurück
14 
Niklas Luhmann (Anm. 12), S. 231.   zurück
15 
Niklas Luhmann (Anm. 4), S. 183 ff.   zurück
16 
Rodrigo Jokisch: Wie ist Geschlecht möglich? Zur Beobachtung von ›Sexualität‹ und ›Geschlecht‹. 2001. URL: http://www.tu-berlin.de/~society/Jokisch_GB_Geschlecht.htm (25.11.2004).   zurück
17 
Lewandowski hält allerdings »sexuelle Selbstbefriedigung« nicht für Kommunikation. Ich halte dies für falsch. Ähnlich wie bei der Schrift, wo erst die einsame Lektüre Information und Mitteilung verstehend unterscheidet, eine Selektionsofferte abschließt und so »Kommunikation realisiert« (S. 212), schließt auch Masturbation Selektionsofferten – etwa pornographischer Art – sexueller Kommunikation ab und schaltet von Begehren auf Befriedigung und vice versa um.   zurück
18 
Was war Sexualität vorher? Die Differenz von Befriedigung und Begehren strukturiert die Liebessemantik lange vor dem 18. Jahrhundert schon bei Boccaccio, und an der Orgasmusorientierung dieser Unterscheidung haben bereits die »galanten Damen« des Seigneur de Brantôme sicherlich keinen Zweifel. Aber wenn es den Code gibt, muß es ja, nach der Logik Lewandowskis, auch ein Funktionssystem geben.   zurück
19 
Vgl. die intensive Diskussion der Luhmann-Mailingliste (LUHMANN@LISTSERV.GMD.DE) (Betreff: Militärsystem), die vor allem auch Fragen der Codierung betrifft, im Gespräch sind ›Sieg / Niederlage‹, ›Krieg / Frieden‹, ›Befehle geben / Befehle nehmen‹, ›Töten / Überleben‹. Bezeichnend ist, daß diese Fragen der Codierung in mehreren Beiträgen als Vorschläge zur »Funktionsbestimmung« verstanden werden. Daß das Militär, wie US-amerikanische Politologen und lange verstorbene deutsche Lehrer der Kriegskunst wissen, nichts anderes ist als ein Instrument zur Erzwingung einer Übernahme politischer Entscheidungen und damit Teil der Politik, wird womöglich deshalb nicht diskutiert, weil in der Existenz eines Codes bereits der Beleg für die Existenz eines Militärsystems gesehen wird. Gibt es dann auch ein Polizeisystem? Vielleicht eines der Geheimdienste? Sind dies nicht vielmehr alles Agenturen der Exekutive des politischen Systems der Weltgesellschaft?   zurück
20 
Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1987, S. 163 ff.   zurück
21 
Zum Beleg: Es sind laut Luhmann »zwei strukturelle Errungenschaften, die wie Autokatalysatoren wirken, nämlich in Kommunikationssystemen erzeugt werden und dann die Chancen kommunikativen Erfolges im Prozeß der Selbstselektion des Systems verstärken: das sind symbolische Generalisierung und binäre Schematisierung« (Niklas Luhmann: Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien. In: N. L.: Soziologische Aufklärung. Bd. 4. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 170–192, hier S. 177, Hervorhebung im Original). Zum wechselseitigen Bezug von Ausdifferenzierung, Funktion, Medien, Codierung, Problemen und Lösungen vgl. ebd. S. 180.   zurück
22 
Niklas Luhmann (Anm. 4), S. 212 f.   zurück
23 
Ich erinnere daran, daß Lewandowski die Reproduktion ausdrücklich und mehrfach aus der sexuellen Kommunikation ausgeschlossen hat. Dies ist auch völlig einleuchtend, weil ja gerade auch sexuelle Handlungen, die nicht zur Zeugung führen, zur Sexualität gehören.   zurück