Hiram Kümper

Vom Imaginierten zum Bild

Kunst- und Literaturwissenschaft im Dialog über Thomasins Welschen Gast




  • Horst Wenzel / Christina Lechtermann (Hg.): Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des 'Welschen Gastes' von Thomasin von Zerclaere. (Pictura et poesis 15) Köln [u.a.]: Böhlau 2002. VI, 297 S. 16 farb. u. 56 s/w Abb. Gebunden. EUR 59,90.
    ISBN: 3-412-09801-9.


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Die Einsicht selbst ist nicht neu: Von den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels beispielsweise wissen wir be­reits seit den frühesten Untersuchungen Grupens (1764) 1 , vor allem aber seit den neueren Studien, die in den letzten zwanzig Jahren nament­lich aus dem Umfeld von Ruth Schmidt-Wiegand hervor­gegan­gen sind 2 , dass Bildwerk weit über die reine Illustration hinausgehen, ja in höchstem Maße mit dem Text einer Schrift verbunden sein kann. In den 1990er Jahren ist das Interesse am Verhältnis von Text und Bild verschiedenster bebilderter Schrift­zeugnisse des Mittelalters sprunghaft angestiegen. Der vor­liegende Tagungsband widmet sich einem Werk, dem vor allem Mitherausgeber Horst Wenzel bereits seit längerem und durch eine Reihe von Publikationen verbunden ist: Dem Wel­schen Gast des Thomasin von Zerclaere. Dennoch wird mehr als bloß alter Wein in neuen Schläuchen geboten.

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Bilder im höfischen Leserkreis

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Der Beitrag von Kathryn Starkey (S.121–142) untersucht die Darstellung der Sünden ruom, lüge und spot in Text und Illustration. Die Autorin betreibt dabei Hypothesenbildung im besten Sinne, zeigt, was der vorliegende Band in Gänze wohl sein will und nur sein kann: Eine erste Arrondierung von Ideen und Impul­sen. Zentral ist dem Beitrag die These, der Welsche Gast markiere den Über­gang einer literarischen Tradition zu einem höfischen Leser­kreis, dessen Re­zep­tions­gewohnheit weit stärker am visuellen, aber auch am durch den Vortrag imaginierten Bild orientiert gewesen sei. Dies kann durch die stärker höfisch geprägten Illus­trationen der jüngeren Handschriften durchaus zu einem gewissen Grade plausibel gemacht werden. Ob damit auch eine Entwicklung von der bildlichen Einbindung in einen ethisch-didaktischen Sinnzusammenhang hin zu eher szenischen, stärker auf den Text bezogenen Darstellungsweisen einhergeht, gilt es zu prüfen. Deut­lich wird in Starkeys Dar­legung vor allem auch Thomasins Verwendung des Wortes »bilde«, das Text und Illustration integrativ miteinander verknüpft.

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Horst Wenzel (S. 82–103) geht der Illustration der Autoren- und Dedikationsbilder im Prolog des Welsches Gastes nach, die in lediglich sechs der erhaltenen Bilderhandschriften überliefert sind und auffällige Veränderungen unterein­ander aufweisen. Ebenfalls Studien zum Text-Bild-Verhältnis einzelner Passagen stellen die Bei­träge von Haiko Wandhoff (S. 104–120), Andreas Klare (S. 174–199) und Claudia Kühn (S. 200–215) dar. Letz­tere kann überzeugend den Beitrag der Fabelillustrationen zur mnemotechnischen Ord­nungsstruktur gerade der be­sonders fabelreichen Dresdner Hand­­schrift darlegen.

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Multifunktionale Schauräume

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In ihrer Untersuchung der Verständnisintensivierung durch das über den Text hin­aus­­ge­­­hende Bild weist Gertrud Blaschitz (S. 216–237) darauf hin, dass nicht nur die älteste Fassung, für die bereits seit langem dezidierte Anweisungen an den Illustrator, wahrscheinlich von Thomasin selbst, angenommen werden, sondern auch die späteren Handschriften eine genaue Kenntnis der illustrativen Symbol­sprache verraten lassen.

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An diesen Blick auf das Ganze der Illustration schließt auch Claudia Brinker-von der Heyde (S. 9–32) an, die Formen und Funktionen sprachlicher Bildlichkeit als eine Vor­stufe visueller Umsetzung behandelt. Dabei ist es der Autorin in besonderem Maße um »Schauräume« zu tun, die der jeweils zeitgenössische Le­ser auf der Basis seines eigenen Wissenshaushaltes zu füllen angeregt werde. Sie schlägt den vergleichenden Bogen zur Psychomachia und kann so verdeutlichen, wie im Welschen Gast die Abstraktheit der Didaxe durch die Verbildlichung menschlicher Psyche imaginier- und nachvollziehbar wird.

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Karin Lerchner weist in ihrem Beitrag (S. 65–81) auf die Spezifik der Bebilderung des Welschen Gastes im Vergleich mit anderen illustrierten Lehrdich­tungen des Mit­telalters, wie beispielsweise des Renners oder Vintlers Blumen der Tugend, hin. Wie auch in anderen Beiträgen des Bandes wird abermals der Eindruck verfestigt, Thoma­sin habe bewusst Illustrationen in der Hauptsache für jene Passagen vorgesehen, denen nicht bereits per se eine sprachliche Bild­haf­tigkeit eigen sei.

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Einen ebenfalls komparatistischen Ansatz innerhalb mittelalterlicher, illustrierter Lite­ratur wählt Norbert H. Ott (S. 33–64), der in gewohnt material- und kennt­nisreicher Weise ein Spektrum von Quellen und Beobachtungen vor dem Leser ausbreitet. Sicher nicht gänzlich ohne Widerspruch dürften die Beob­achtungen Otts zur Sach­­senspiegel-Glossierung und der Glossenfunktion der Illustration in den Co­dices picturati bleiben. 3 Jedoch berührt dies nicht seine Grundthese: Die Ähnlichkeit der mise-en-page bei Thomasin mit derjenigen der Sachsen­spiegelcodices wie auch der Münchner Willehalm-Bilderhandschrift des Wolfram von Eschenbach kann Ott überzeugend nachweisen. Einen nachden­kens­werten Impuls liefert der als Hypothese formulierte Ausblick auf die byzantinische Handschriftenillustra­tion – dies zumal für Thomasins Wirkstätte Aquileia Kon­takte zum byzantini­schen Raum, namentlich nach Grado, nicht unwahr­scheinlich sein dürften.

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In gleicher Weise kenntnisreich, dafür jedoch weitgehend außerhalb des Welschen Gastes und seines unmittelbaren literarischen Umfeldes, bewegt sich der ab­schließende Beitrag von Meinolf Schumacher (S. 238–255), der zwar mit einer detailreichen Fülle von Informationen und interessanten Querverweisen einen schick­lichen Beitrag zur literarischen Bildung, kaum aber zur Untersuchung von Thomasins Werk beitragen kann. Den im Untertitel versprochenen Horizont der europäischen Ge­fängnisliteratur spannt der Autor in der Tat beeindruckend von Boëthius bis zu Nabokov, allein, es tragen die teils abgelegensten Exkurse (S. 253, Fn. 67 als be­son­ders plasti­sches Beispiel) leider recht wenig zur Ausein­andersetzung mit Thoma­sin bei. Die Behandlung der Theodizee-Motive gerät darüber leider allzu sehr zur Marginalie.

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Fazit

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Insgesamt wirft der Band mehr Fragen auf als er beantworten kann. Dass dies für einen Tagungsband wie den vorliegenden nicht nur in der Sache begründet, sondern auch durchaus begrüßenswert ist, muss nicht eigens betont werden. Wenn als das »zentrale Ergebnis« formuliert wird, »daß die illustrierten Bilderhand­schriften weder den Texten […] noch den Bildern […] allein zuzuordnen sind, daß aber auch die bloße Addition von ›Text und Bild‹ nicht ausreicht« (S. 5), trügt hier in der Tat der erste Ein­druck, hier werde eben das gewonnen, was anfangs vorausgesetzt wurde. Der Vielzahl unterschiedlicher Ideen und neuer Arbeits­hypo­thesen, die sich hier aus dem Dialog von Kunst- und Literaturwis­sen­schaften ergeben haben, gilt es nun allerdings, einge­hendere Einzelstudien folgen zu las­sen. Als besonders dankenswert sei abschließend auch die Bildkonkordanz (S. 266–272) der über­lieferten Codices picturati hervorgehoben, wohin­gegen die Auswahlkriterien der beigefügten Bib­lio­graphie (S. 274–281) nicht immer transparent erscheinen.


Dr. Hiram Kümper
Universität Bielefeld
Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
S 4-211
Universitätsstraße 25
DE - 33615 Bielefeld

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Ins Netz gestellt am 14.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Hiram Kümper: Vom Imaginierten zum Bild. Kunst- und Literaturwissenschaft im Dialog über Thomasins Welschen Gast. (Rezension über: Horst Wenzel / Christina Lechtermann (Hg.): Beweglichkeit der Bilder. Text und Imagination in den illustrierten Handschriften des 'Welschen Gastes' von Thomasin von Zerclaere. Köln [u.a.]: Böhlau 2002.)
In: IASLonline [14.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=994>
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Anmerkungen

Christian Ulrich von Grupen: Teutsche Alterthümer / zur Erleuterung des Säch­sischen und Schwäbischen Land- und Lehn-Rechtes / wobey der Gebrauch des Dreßdenschen, Wolfen­büt­telschen / und Oldenburgschen / zum Druck kommenden Codicum Picturatorum durch einige Abbildungen / die das Sächsische Land- und Lehnrecht erleutern, unter Augen gestellet werden, Hannover, Lüneburg 1764.   zurück
Vor allem Ruth Schmidt-Wiegand (Hg.): Text – Bild – Interpretation. Untersuchungen zu den Bilder­handschriften des Sachsenspiegels, 2 Bde., München 1986, aber auch die Kommentarbände zu den von ihr edierten Wolfenbütteler und Oldenburger Bildercodices.   zurück
Einen guten Überblick zum Stand der Diskussion gibt Jürgen Goydke: Die Oldenburger Bilder­handschrift aus dem Kloster Rastede. In: Beiträge zur Oldenburger Bilderhandschrift des Sachsen­spiegels, hrsg. von der Oldenburgischen Landschaft, Oldenburg 1994, S. 9–52, hier S. 46 f.   zurück